Gallup-Chef über Glück: "330 Millionen Menschen leben ohne soziale Interaktion"
- Winand von Petersdorff-Campen

master1305 – stock.adobe.com
Die Meinungsforscher von Gallup fragen Menschen weltweit nach ihrem Glück. Im Interview spricht Institutschef Jon Clifton darüber, wie sich Glück und Elend anfühlen – und über Geld und Vorgesetzte, die einen auf die Palme bringen.
e‑fellows.net präsentiert: Das Beste aus der F.A.Z.
Lies bei uns ausgewählte Artikel aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung und von FAZ.NET.
Herr Clifton, Gallup fragt seit einigen Jahren Menschen weltweit, wie glücklich sie sich fühlen. Wie glücklich fühlen sich die Menschen?
Nicht sehr glücklich. Wir sehen seit zehn Jahren einen beständigen Anstieg negativer Emotionen, also von Ärger, Stress, Traurigkeit, physischem Schmerz und Sorge.
Mit welchen Fragen haben Ihre Interviewer das ermittelt?
Wir fragen Leute, ob sie am Vortag die genannten Gefühle stark gespürt hätten. Sie antworten mit Ja oder Nein. In den vergangenen zehn Jahren hat die Anzahl der Leute, die eine Zunahme negativer Emotionen bejahen, zugenommen.
Wie finden Sie heraus, wie glücklich Menschen sich fühlen?
Glück, das oft für subjektives Wohlbefinden steht, bedeutet zwei Sachen: wie Leute ihr Leben sehen und wie Leute ihr Leben leben. Um Ersteres zu erfassen, lassen wir sie ihr Leben benoten von 0 bis 10. Da schneiden die Finnen am besten ab. Um herauszufinden, wie Leute ihr Leben leben, stellen wir 10 Fragen: 5 nach positiven Gefühlen, 5 nach negativen Gefühlen. Man muss beides in jedem Land messen. Wir haben festgestellt, dass negative Emotionen rapide zunehmen. Das ist wirklich besorgniserregend.
Die Gallup-Daten zeigen, dass die generelle Gefühlslage einige Jahre stabil war, bevor vor grob zehn Jahren die negativen Emotionen plötzlich begannen, stark zu zuzulegen. Was erklärt den plötzlichen Anstieg?
Die Hungerkrise ist real, lautet die erste.
Hunger? In Industrieländern?
Ja. Die Daten der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) zeigen, dass wir nach Jahrzehnten des Fortschritts im Kampf gegen Hunger seit ungefähr 10 Jahren den Krieg verlieren. Man braucht keine wissenschaftliche Untersuchung, um zu wissen: Zehrender Hunger verstärkt alle negativen Gefühle. Selbst wenn 60 Prozent der Menschen in Ländern leben, wo Fettleibigkeit ein großes Problem ist, bleibt dort Fehlernährung ebenfalls ein großes Problem.
Sie sprachen von mehreren Faktoren.
Einsamkeit ist die zweite Erklärung. Selbst vor der Pandemie gab es weltweit 330 Millionen Menschen, die mit keiner anderen Person interagiert haben in einer vorgegebenen Zeit. Es gibt die berühmte Geschichte einer Frau in Italien. Feuerwehrleute fanden sie in ihrem Wohnzimmer-Sessel. Sie war seit zwei Jahren tot. Niemand hatte sich nach ihr erkundigt. Die traurige Realität ist, dass 330 Millionen Menschen genau wie sie leben: ohne soziale Interaktion. Aber es ist nicht nur das: Rund 20 Prozent der Erwachsenen weltweit sagen, dass sie in der Stunde der Not niemanden haben, an den sie sich wenden können.
Aber was erklärt den Anstieg des Einsamkeitsgefühls? Vor etwa zehn Jahren erreichte Facebook eine Milliarde Nutzer und Instagram wurde groß. War es das?
Die Frage ist tatsächlich, welche Rolle soziale Medien dabei spielen. Eine Theorie besagt, wenn du mehr Zeit mit sozialen Medien verbringst, triffst du dich weniger mit Menschen. Du magst vielleicht nicht isoliert sein, doch du fühlst dich einsamer. Du fängst an, die Beziehungen, die Menschen haben, auszumalen und dir vorzustellen, dass sie besser sind, als sie tatsächlich sind. Wenn du dich dann mit Menschen triffst, werden deine Erwartungen regelmäßig enttäuscht, weshalb du weniger Zeit mit Menschen verbringst und vereinsamst. Wie auch immer: Ein Drittel der Menschheit ist immer noch nicht mit sozialen Medien verbunden, auch bei ihnen sind die negativen Gefühle stark gestiegen.
Welche Rolle spielt das Einkommen fürs Wohlbefinden?
Das bekannte Easterlin-Paradox besagt, dass mehr Reichtum nicht zu mehr Glück führt, wenn grundlegende Bedürfnisse gestillt sind. Unsere Umfragen widerlegen das. Wir haben gesehen, dass die Menschen in den meisten reichen Ländern ihr Leben als deutlich besser einstufen als Leute in armen Ländern. Die Frage ist, ob wir dank der Massenmedien – einschließlich der sozialen Plattformen – ein schärferes Bewusstsein dafür haben, was es heißt, ein Leben in Armut zu verbringen. Arme können das Haus eines Multimillionärs virtuell betreten, und Reiche können in die Hütten der Armen gucken. Das dürfte zumindest ein Faktor sein, der wachsende Ungleichheit im Glücklichsein erklärt.
Ist das Wohlbefinden mit Wirtschaftswachstum verbunden?
Grundsätzlich ist es sehr schwer, ohne Geld glücklich zu werden. Wachstum bedeutet aber nicht notwendigerweise, dass die ganze Bevölkerung davon profitiert. Ich halte es für essenziell, dass Politiker verstehen, wie sich die Bürger fühlen, und dass sie nicht Wirtschaftsindikatoren als ausreichende Indikatoren für Wohlbefinden missverstehen. Das Bruttosozialprodukt zeigt nicht die ganze Wahrheit.
Wo fielen Wohlbefinden und gute Wirtschaftsindikatoren in der Vergangenheit eklatant auseinander?
Den Arabischen Frühling mit Unruhen in Tunesien, Ägypten und Bahrain konnte niemand vorhersagen, der nur auf Entwicklungs- oder Wirtschaftskennziffern schaut. Das Gleiche gilt für Großbritannien vor dem Brexit oder Amerika in Teilen des Landes vor der Präsidentschaftswahl 2016. Selbst der Human Development Index der Vereinten Nationen, der auch Bildung und Lebenserwartung berücksichtigt, konnte nicht spiegeln, was in den Ländern vor sich ging. Gallup versucht, die schwarzen Flecken auszuleuchten.
Wollen Sie damit sagen, dass Sie mit ihren Umfragen Unruhen oder ungewöhnliche Abstimmungsergebnisse vorhersagen können?
Der MIT-Ökonom George Ward glaubt, dass er populistische Aufwallungen und Stimmergebnisse ziemlich gut prognostizieren kann aufgrund von Glück-Umfragedaten. Ich weiß nicht, ob ich so weit gehen würde. Aber unsere Handlungen und Entscheidungen sind besser erklärt durch Emotionen als durch rationale Gedanken. Gallup geht davon aus, dass menschliche Entscheidungen zu 70 Prozent auf Emotionen basieren.
In welchem Land sollte die politische Führung aktuell sorgsam betrachten, wie die Gefühlslage der Bevölkerung ist?
Die politischen Umbrüche in Peru, Brasilien oder Mexiko waren vorgezeichnet in unseren Umfragen. Wenn Sie mich spezifisch nach einzelnen Ländern fragen, dann muss ich sagen, dass ich die Entwicklung in Indien besorgniserregend finde.
Was sagen Ihre Umfragen darüber, wie wichtig Arbeit fürs Wohlbefinden ist?
Arbeit ist der wichtigste Faktor, einfach, weil wir so viel Zeit damit verbringen zu arbeiten. Wenn es dir dreckig auf der Arbeit geht, ruiniert das dein Leben. Die Leute tragen in 60 Prozent aller Fälle ihre schlechte Laune nach Hause und zu ihren Freunden, zeigt ausgerechnet eine Umfrage aus Deutschland.
Wie geht es den Arbeitnehmern?
Rund 20 Prozent blühen auf. Das heißt, 80 Prozent geht es nicht gut. 19 Prozent der weltweit befragten Arbeitnehmer geht es wirklich schlecht. Das sind die, die auf Tiktok andere zur inneren Kündigung ermuntern. Rund 60 Prozent haben innerlich gekündigt.
So viel?
Ja. Und besonders schlimm ist es in Europa. Wir reden bei Gallup mit unseren Kollegen in Europa über den Spruch, dass die Amerikaner leben, um zu arbeiten, während die Europäer arbeiten, um zu leben. Generell bewerten Leute in vielen europäischen Ländern ihre Leben hoch, doch zugleich weist der Kontinent den höchsten Prozentsatz an Leuten auf, die sich von ihrer Arbeit innerlich abgewendet haben. Das müsste nicht so sein. Denn viele europäische Unternehmen und Organisationen, mit denen wir zusammenarbeiten, haben Belegschaften mit höchsten Zufriedenheitswerten. Differenzen zwischen Amerika und Europa werden gerne mit Kultur begründet. Ich glaube, es ist eine Frage von gutem oder schlechtem Management.
Ich habe als Junge Schweineställe ausgemistet. Ich will damit sagen: Manche Jobs sind einfach Mist.
Gewiss gibt es einige Jobs, die niemand machen will. Zugleich kommt eine solche Aussage etwas elitär rüber. Kennen Sie die Geschichte vom Hausmeister der NASA, der bei einem Besuch vom amerikanischen Präsidenten gefragte wurde, was er mache? Seine Antwort: Er helfe, eine Rakete zum Mond zu bringen. Große Anführer schaffen es, dass sich die Leute als Teil einer Mission sehen. Es gibt aber noch einen weiteren stark unterschätzten Aspekt. Millionen Menschen gehen jeden Tag gerne zur Arbeit, weil sie dort ihre besten Freunde treffen. Das kann sogar wichtiger sein als Geld. Leute, die Freunde in der Firma finden, verlassen das Unternehmen selten.
So betrachtet ist der Trend, zu Hause zu arbeiten, schädlich?
Schädlich ist ein großes Wort. Aber Zoom und Teams sind besser geeignet, Beziehungen aufrecht zu halten, als sie zu beginnen. Zu einem guten Arbeitsplatz gehört, dass Leute sich persönlich treffen.
Droht, dass Leute, die zu Hause arbeiten, sich von der Arbeit distanzieren?
Unsere jüngsten Umfragen in Amerika zeigen, dass sich sowohl Telearbeiter als auch solche mit hybriden Arbeitsverhältnissen und Arbeitnehmer, die regelmäßig zur Arbeit gehen, zunehmend von ihrer Arbeit emotional entkoppeln. Die Gründe dürften unterschiedlich sein.
Wie wichtig ist das Gehalt für die Zufriedenheit?
Geld ist wichtig. Leute können einen hoch bezahlten Job haben und sich trotzdem elend fühlen. Das ist der Grund, warum sie kündigen und schlechter bezahlte Arbeit annehmen.
Welche Faktoren belasten die Arbeitszufriedenheit besonders?
Der größte Faktor ist der Vorgesetzte. Er kann die Arbeitnehmer auf die Palme bringen. Es geht um Manager, die keine klaren Erwartungen formulieren, keine ermunternden Beurteilungen abgeben und einem nie das Gefühl geben, Teil einer wichtigen Sache zu sein.
Manche Unternehmen stellen Fußballkicker ins Büro oder bieten Yogakurse an. Sinnvoll?
Wenn der Arbeitgeber die Grundbedürfnisse nicht stillt, leistet das eher keinen positiven Beitrag. Das Wichtigste überhaupt: Zuerst müssen die Leute wissen, was von ihnen erwartet wird. Weltweit wissen das gerade die Hälfte. Fast ebenso wichtig: Haben die Leute die Materialien und Ressourcen, um ihre Arbeit effektiv erledigen zu können? Oder können sie so arbeiten, dass ihre Stärken am besten zur Geltung kommt? Weniger als ein Drittel stimmen dem in vollem Umfang zu. Bei Gallup scherzen wir oft, dass wir eher den Mars kolonisieren als die zerbrochene Arbeitswelt zu reparieren.
Alle Rechte vorbehalten. Copyright Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv.