Stefan Kölsch über "Sunday Scaries": "Negative Gedanken vergiften einen Großteil der Lebenszeit"

Autor*innen
Cora Wucherer
Mann mit Kopf aus Wolken, die wie ein Heißluftballon mit Seilen an Bodenankern befestigt sind. Scheren sind kurz davor, die Seile durchzuschneiden.

Sonntagabend und die Laune ist dahin? Das ist Risikoaversion, sagt ein Hirnforscher. Er erklärt den Sonntagsblues und wie man ihn in drei Schritten überwindet.

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Dieses Gefühl, das einen am Sonntagnachmittag oder Abend befällt, das Unwohlsein, dass das Wochenende bald vorbei ist und der Montag mit seinen unliebsamen Aufgaben und Problemen schon wartet: Manche nennen es Sonntagsblues, andere "Sunday Scaries". Der Neurowissenschaftler Stefan Kölsch von der Universität Bergen in Norwegen erklärt, woher diese Emotionen kommen und was man gegen die Sonntagsängste tun kann.

ZEITmagazin Online: Letzten Sonntag bin ich gut gelaunt aufgestanden, war brunchen, dann spazieren, aber irgendwann gegen Nachmittag kippte meine Stimmung und am Abend war ich traurig und lustlos. Woher kommt das emotionale Tief am Sonntagabend?

Stefan Kölsch: Das Wochenende ist Entspannungszeit: Hier stehen viele kleine angenehme Tätigkeiten an, von denen wir mit Sicherheit wissen, dass wir sie bewältigen können und wie sie ausgehen – zum Beispiel auf dem Sofa liegen und fernsehen. Der Montag als Wochenbeginn dagegen bringt erst mal Unsicherheit mit sich – man muss neue Probleme lösen, sich als Student einer Prüfung stellen oder als Auszubildende eine neue Aufgabe im Betrieb lernen. Es ist aber unsicher, ob wir das perfekt hinbekommen werden, und unser Unterbewusstes erzeugt deshalb rasch Unlust oder gar Furcht.

ZEITmagazin: Was ist das Unterbewusste überhaupt?

Stefan Kölsch: Das Unterbewusste befindet sich im Orbitofrontalkortex, diese Region der Hirnrinde liegt direkt hinter der Stirn – es ist sozusagen das sprichwörtliche Brett vorm Kopf. Das Entscheidungssystem, das eine Abneigung gegenüber Unsicherheiten hat, ist Teil des Unterbewussten. Es versucht, unsere Entscheidungen und sogar unsere Emotionen zu beeinflussen. Dieses Areal wird aktiv, wenn solche Gefühle wie das von Ihnen beschriebene Sonntagabendtief auftreten.

ZEITmagazin: Woher kommt diese Unlust am Sonntagabend?

Stefan Kölsch: In der Evolution hat sich das Unterbewusste als System entwickelt, das eine Abneigung gegenüber Unsicherheit oder Risiko erzeugt, wenn man sichere Alternativen hat. Risikoaversion heißt dieses Phänomen in der Wissenschaft – wir verabscheuen unterbewusst das Risiko, dass wir etwas nicht hinbekommen. Deshalb fällt es uns schwer, vom sicheren Entspannungsmodus in den unsicheren Arbeitsmodus zu kommen. Das ist eine normale unterbewusste Reaktion auf diese Umstellung. Besonders schwierig ist es, wenn der Beruf nicht den eigenen Werten und Zielen entspricht und man sich daher nicht mit dem eigenen Beruf identifiziert.

ZEITmagazin: Eine kürzlich veröffentlichte Studie des Office for Health Improvement and Disparities in Großbritannien zeigt, dass 67 Prozent aller Briten oft sonntags Ängstlichkeit verspüren. Andere Studien fanden Hinweise darauf, dass viele Menschen von Sonntag auf Montag am schlechtesten schlafen. Wie sieht die Wissenschaft das Sonntagabendtief?

Stefan Kölsch: Die Forschung dazu ist noch nicht ausgereift, Fakt ist jedoch, dass erstaunlich viele Menschen sich ausgerechnet die Erholungszeit am Sonntag mit negativen Gedankenspiralen verderben. Es gibt aber wirkungsvolle Methoden, diese Gedankenspiralen und Gefühle zu kontrollieren.

ZEITmagazin: Wie beeinflusst das Sonntagabendtief unseren Körper?

Stefan Kölsch: Unser Unterbewusstes kann unseren Körper beeinflussen, es hat direkte Nervenverbindungen in die Hirnsysteme, welche Herzschlag, Atmung, Verdauung, Blutdruck und so weiter regulieren. Wenn das Unterbewusste Angst erzeugt, bekommt man feuchte Hände, die Atmung wird schneller, vielleicht bekommt man Bauchschmerzen. Wenn das Unterbewusste unseren Körper jedoch über einen längeren Zeitraum immer wieder in Alarmbereitschaft versetzt, ist das ungesund. Dies bringt dann auch das hormonelle System und sogar das Immunsystem durcheinander. Deswegen sind andauernde negative Stimmungen extrem ungesund.

ZEITmagazin: Aber wir können ja nicht komplett beeinflussen, wie wir uns fühlen.

Stefan Kölsch: Doch! In unserer Kultur denken wir oft, dass wir unseren Gefühlen machtlos ausgeliefert sind und wir sie bewusst nicht beeinflussen können. Aber das ist ein Irrtum. Die Ursache eines Gefühls liegt nie einfach in einem Ereignis oder einem Objekt, sondern in unserem Gehirn. Der Beweis dafür ist, dass das gleiche Ereignis in unterschiedlichen Situationen zu unterschiedlichen Empfindungen führt – bei einem Geigenkonzert in der Philharmonie bin ich glücklich und entzückt über die Musik. Wenn mein Nachbar nachts dasselbe Stück laut hört, werde ich leicht wütend und genervt, weil ich nicht schlafen kann. Wir selbst sind an der Entstehung unserer Emotionen und Stimmungen beteiligt und deshalb können wir sie auch beeinflussen – zum Beispiel schnell erkennen, wenn unser Unterbewusstes eine negative Stimmung erzeugt und diese kontrollieren, bevor sie uns kontrolliert.

ZEITmagazin: Die Erwartungsangst kommt sonntags, aber vielen fällt es schon schwer, am Freitag nach der Arbeit überhaupt in den Entspannungsmodus zu starten. Wieso ist der Weg vom einen zum anderen so mühsam?

Stefan Kölsch: Weil unser Unterbewusstsein oft noch negativen Dingen der Vergangenheit nachhängt, wie etwas Ungerechtem, das in der vergangenen Arbeitswoche passiert ist, oder etwas, das uns noch belastet oder was uns Sorgen über die Zukunft bereitet. Das Unterbewusste erzeugt dann Gedankenschleifen, die immer wieder um dieses Negative kreisen. Dadurch sind wir gestresst und schaffen es nicht, uns zu entspannen. Deswegen ist es wichtig, dass man nach der Arbeit am Freitag keine Zeit mit negativen Gedankenschleifen verschwendet, sondern beginnt, sich bewusst zu entspannen. Dazu zählt auch, dass man am Wochenende keine Arbeits-E-Mails beantwortet und das berufliche Handy weglegt. Und natürlich, dass man die negativen Gedankenschleifen ausschaltet.

ZEITmagazin: Klingt einfach, aber wie schafft man das?

Stefan Kölsch: Mit drei Schritten: Erkennen, Entscheiden, Konzentrieren. Zuerst muss man die negativen Gedanken überhaupt erkennen. Sobald einem dies gelungen ist, kann man sich dazu entscheiden, sich nicht mit ihnen zu beschäftigen, sondern seine Gedanken auf etwas zu lenken, was einem nützt, oder auf das, womit man gerade beschäftigt ist. Man kann seinen negativen Gedanken sagen: "Ich habe leider gerade keine Zeit für euch, denn ich will jetzt für eine Prüfung lernen." Dann muss man darauf achten, das Gedankensteuer bewusst in der Hand zu behalten, beispielsweise dadurch, dass man sich auf seine momentane Tätigkeit konzentriert, auch wenn diese unangenehm zu erledigen ist, wie etwa die Steuererklärung. Wenn wir uns beim Anfertigen der Steuererklärung nur auf die Tätigkeit an sich konzentrieren, Schritt für Schritt, und die negativen Gedanken und Gefühle dabei außen vor lassen, ohne Stress und ohne Ärgern, dann kann selbst das Anfertigen einer Steuererklärung zur Meditation werden. Ich nenne diese Methode "Medi-Working".

ZEITmagazin: Und was genau ist das?

Stefan Kölsch: Man nimmt sich eine bestimmte Zeitspanne für eine Aufgabe vor, zum Beispiel eine Stunde. Davor bereitet man sich darauf vor, nimmt seinen Körper und seine Befindlichkeiten wahr. Hat man beispielsweise Verspannungen im Nacken? Die löst man zuerst und geht dann zum Tagesgeschäft über. Das beginnt mit einem ersten Schritt, wie etwa das Aufklappen des Laptops. Bei starker Unlust hilft es, sich bildhaft das Ziel vorzustellen, das man mit der Tätigkeit erreichen will. Dann konzentriert man sich ganz auf seine Tätigkeit, mit Ruhe und Gemütlichkeit. Bei vielen Menschen schalten die Gedanken andauernd auf negative Dinge und vergiften damit einen Großteil der Lebenszeit. Es ist wichtig, das zu erkennen und zu trainieren, damit man konstruktiv und optimistisch bei seiner Tätigkeit bleibt.

In unserer Gesellschaft gibt es leider etliche Berufe und Menschen, die unter Verhältnissen arbeiten müssen, die kein großer Ansporn dafür sind, sich am Sonntag schon auf die Arbeit zu freuen.
Stefan Kölsch, Hirnforscher

ZEITmagazin: Ist die Leistungsgesellschaft schuld daran, dass wir keine Lust auf unsere Arbeit haben?

Stefan Kölsch: In unserer Gesellschaft gibt es leider etliche Berufe und Menschen, die unter Verhältnissen arbeiten müssen, die kein großer Ansporn dafür sind, sich am Sonntag schon auf die Arbeit zu freuen. Dazu kommt die Unsicherheit, seinen Job zu verlieren, wenn man nicht ausreichend performt. Eine angemessene Entlohnung – wie ein deutlich höherer Mindestlohn – könnte dazu beitragen, diesen Druck zu nehmen. Man kann aber auch selbst versuchen, Auswege zu finden, sich fortzubilden und weiterzuentwickeln. Ich weiß, dass ich aus einer privilegierten Position spreche, aber auch ich hatte früher Zukunftsängste und Sorgen – vor allem in der Zeit, als ich noch keine unbefristete Anstellung hatte und über Jahre hinweg eine Bewerbung nach der anderen verschickte. Unser Unterbewusstes macht solche Probleme jedoch immer auch größer, katastrophaler und beängstigender, als sie tatsächlich sind. Diese Erkenntnis kann uns bei unseren unterbewussten Zukunftssorgen helfen, die Welt wieder realistischer zu sehen.

ZEITmagazin: Was aber ist, wenn der Job wirklich unangenehm oder nervig ist und die Sorge um die Arbeit angebracht ist?

Stefan Kölsch: In einer solchen Situation ist es wichtig, zu überlegen, welche Auswege es geben kann. Manchmal ist der Weg aus einem unerwünschten Job schwer, aber eine realistische Perspektive kann es leichter machen. Ich halte es jedoch auch für sehr wichtig, dass durch politische Entscheidungen soziale Ungleichheit reduziert wird. Wenn wir ein Grundrecht darauf hätten, in unserer Gesellschaft gebraucht zu werden, und außerdem gerechter besteuert und umverteilt würde, bräuchte in Deutschland niemand mehr Angst um seine finanzielle Zukunft zu haben.

ZEITmagazin: Sind solche negativen Gefühle wie die Sunday Scaries auch für etwas gut?

Stefan Kölsch: Andauernde oder immer wiederkehrende negative Gefühle schaden der Gesundheit. Zum Beispiel fördern Ärger, Feindseligkeit oder Depression die Entstehung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen, und können sogar das Wachstum von Krebstumoren begünstigen. Allerdings kann der Sonntagsblues auch ein Signal sein: Wenn Sie schon am Sonntagmittag so gar keine Lust haben, am Montag zur Arbeit zu gehen, liegt es vielleicht auch daran, dass Sie eigentlich unzufrieden mit Ihrem Job sind. Vielleicht können Sie stattdessen eine Tätigkeit finden, die mit Ihren Werten und Zielen besser übereinstimmt und Sie daher mehr erfüllt. Oder in Ihrem Job mehr Zeit denjenigen Dingen widmen, die mit Ihren Werten und Zielen übereinstimmen. Oft lassen wir uns zum Beispiel zu etlichen Aufgaben überreden, die uns eigentlich gar nicht wichtig sind, und dann kommen wir kaum noch zu den Tätigkeiten, die uns Freude machen.

Unser Unterbewusstes macht solche Probleme jedoch immer auch größer, katastrophaler und beängstigender, als sie tatsächlich sind.
Stefan Kölsch, Hirnforscher

ZEITmagazin: Wie kann ich herausfinden, was die eigentliche Ursache für den Sonntagsblues ist?

Stefan Kölsch: Der einfachste Trick ist, sich bewusst zu machen, was man eigentlich will und was einem wichtig ist. Sie können auch eine Liste machen – sozusagen Ihre persönliche Erklärung mit denjenigen Dingen, die Ihnen wichtig im Leben sind, und mit Ihren Zielen. Dies können langfristige Ziele sein, die über Jahre erreicht werden, mittelfristige Ziele, die über Monate erreicht werden, und kurzfristige Ziele, die man in den nächsten Tagen schafft. Die Ziele sollten mit Ihren Werten im Einklang stehen. Dann haben Sie eine bewusste Motivation, die Herausforderungen der nächsten Woche anzunehmen, statt sie zu vermeiden. Das müssen nicht nur berufliche Ziele sein, es könnte auch sein, mehr Zeit mit Familie oder Freunden zu verbringen. Haben Sie Ihre persönliche Erklärung als Zettel im Portemonnaie oder als Memo auf dem Handy stets griffbereit. Wenn man dann mal ein Tief hat, etwa am Sonntagabend, kann man seine Erklärung durchlesen. Dann fällt es einem erheblich leichter zu beurteilen, ob die Tätigkeiten, die jetzt anstehen, mit den eigenen Werten und Zielen übereinstimmen. Ist das der Fall, ist man motiviert und kann es gar nicht erwarten, am Montag mit der Arbeit loszulegen.

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