Hochbegabung: "Eine hohe Intelligenz ist nur ein Baustein von Hochbegabung"

Autor*innen
Rebekka Wiese
Eine Person hält einen kleinen Schraubenzieher und einen Notizblock in den Händen. Ihr Kopf wurde durch eine Glühbirne ersetzt.

Hochbegabung ist komplex und zeigt sich bei Erwachsenen anders als bei Kindern. Eine Forscherin und eine Coachin erklären, wie man besondere Talente erkennt und fördert.

Logo von ZEIT Online

e‑fellows.net präsentiert: Das Beste aus ZEIT Online

Lies bei uns ausgewählte Artikel von ZEIT Online, Deutschlands führendem Portal für anspruchsvollen Online-Journalismus.

Franzis Preckel forscht zu Hochbegabten an der Universität Trier. Gardy Hemmerde arbeitet als Coachin mit hochbegabten Kindern und Erwachsenen. Die beiden wissen, was diese Menschen ausmacht und warum nicht jedes hochbegabte Kind zu einem hochbegabten Erwachsenen wird.

Wenn man "IQ" und "Hochbegabung" googelt, liest man: Ab einem IQ von 130 Punkten sei man hochbegabt. Stimmt das?

Preckel: Das kommt darauf an, was man unter Hochbegabung versteht. Es gibt einige Definitionen, bei denen die Intelligenz tatsächlich das entscheidende Kriterium ist. Das ist aber inzwischen sehr umstritten, weil das ein ziemlich enges Verständnis von Hochbegabung zeigt. Man kann sicher sagen, dass man mit einem IQ von 130 Punkten hochintelligent ist – aber nicht unbedingt hochbegabt.

Und was unterscheidet eine Hochbegabung von Hochintelligenz?

Preckel: Neuere Definitionen von Hochbegabung gehen über die Intelligenz hinaus. Da kommen noch weitere Merkmale hinzu, zum Beispiel, dass man sehr motiviert oder lernfähig ist. Bei einer Hochbegabung geht es darum, dass jemand das Potenzial hat, sich überdurchschnittlich zu entwickeln, also in einem bestimmten Bereich sehr kompetent und leistungsstark zu werden. Dafür hilft es zwar, intelligent zu sein, aber das allein reicht nicht aus. Intelligenz muss genutzt, investiert und weiterentwickelt werden. Manche Hochbegabte sind bereit, sich voll auf einen Bereich einzulassen, Klavier spielen zum Beispiel, sie identifizieren sich für den Moment völlig mit dem, was sie tun.

Franzis Preckel

Franzis Preckel, 50, ist Psychologin und Professorin für Hochbegabtenforschung und -förderung an der Universität in Trier. Sie beschäftigt sich mit der Diagnostik von Hochbegabung und der Talententwicklung. Vorher leitete sie unter anderem eine begabungspsychologische Beratungsstelle in München.

Hemmerde: Für mich ist entscheidend, dass eine Person interessierter, intelligenter oder leistungsbereiter ist als andere Menschen in ihrem Alter. Ich habe mal beispielsweise einen jungen Mann gesehen, der für eine Fast-Food-Kette gearbeitet hat. An der Art, wie er die Burger belegte, fiel mir sofort auf, dass er das ganz anderes macht als seine Kollegen, nämlich so effizient wie nur möglich, ohne dabei Fehler zu machen. Ich habe ihn dann gefragt, ob er noch etwas anderes macht als diese Arbeit – und war ganz beruhigt, als er sagte: "Ich studiere Informatik."

Es gibt ja viele Menschen, die gern hochbegabt wären – oder Eltern, die glauben, ein hochbegabtes Kind zu haben. Wie stellt man eine Hochbegabung fest?

Preckel: Dafür muss man sich verschiedene Informationen anschauen, die für eine Hochbegabung wichtig sind – in welchem Umfeld ein Kind lebt, wie es sich bisher entwickelt hat, welche Fähigkeiten und Interessen es hat. Dazu werden verschiedene Werkzeuge kombiniert, Interviews, Fragebögen oder Tests zum Beispiel. In den Gesprächen geht es beispielsweise darum, wie ein Kind sich zu Hause oder in der Schule verhält. Mit Fragebögen versucht man herauszufinden, wie gern es sich kognitiv anstrengt, ob es Freude am Denken hat oder wie es die eigenen Fähigkeiten einschätzt. Und man setzt auch Intelligenztests ein, um objektiv beurteilen zu können, wie denkfähig ein Kind ist. Wenn ein Schüler oder eine Schülerin zur Diagnostik kommt, geht es oft um konkrete Fragen: Kann er oder sie vorzeitig eingeschult werden? Sollte dieser Jugendliche eine Klasse überspringen? Um das herauszufinden, braucht man oft mehrere Termine.

Hemmerde: Als Coachin kann ich selbst keine offizielle Diagnose stellen. Bei mir läuft es eher so, dass Eltern zu mir kommen, wenn ihr Kind Probleme hat. Ich arbeite ja nicht nur mit Hochbegabten, sondern generell mit Kindern und Jugendlichen, die Schwierigkeiten in der Schule haben – weil sie beispielsweise gemobbt werden oder sich langweilen. Bei diesen Kindern fällt mir auf, wenn sie besonders klug oder interessiert sind. Ich arbeite inzwischen so lange in der Praxis, dass ich Hochbegabte oft schnell erkenne.

Gardy Hemmerde

Gardy Hemmerde, 59, arbeitet seit fast 20 Jahren in Hamburg als Coachin für Hochbegabte. Sie hat sowohl mit Kindern und Jugendlichen als auch mit Erwachsenen zu tun und berät sie beispielsweise bei der Berufswahl oder wenn sie Schwierigkeiten im Job haben.

Woran machen Sie das fest?

Hemmerde: An der Art, wie sie Fragen stellen und sich ausdrücken. Wenn Eltern zum Beispiel erzählen, dass ihr Siebenjähriger fragt, was denn die koptischen Christen zu Weihnachten machen, ist das ein starkes Indiz für eine mögliche Hochbegabung. Letztens stand ich zum Beispiel am Flughafen in einer Schlange, hinter mir war ein Kind mit seiner Mutter, die beiden unterhielten sich. Da konnte ich sofort hören, dass das ein sehr schlauer Junge war – er fragte seine Mutter nach tagespolitischen Ereignissen. Er hatte eine eigene Meinung, die er gut verteidigen konnte. Die Art und Weise seiner Argumentation war komplexer, als es für Kinder in dem Alter üblich ist. Ich weiß aber, dass es vielen Eltern hilft, eine offizielle Diagnose für die Hochbegabung ihres Kindes zu haben. Dann schicke ich sie zu einem Psychologen oder in eine kinderpsychiatrische Praxis, wo sie die dann auch bekommen.

Vielen Eltern hilft es, eine offizielle Diagnose für die Hochbegabung ihres Kindes zu haben.
Gardy Hemmerde, Coachin

Preckel: Um ehrlich zu sein, glaube ich nicht, dass man mit einem Blick erkennen kann, ob jemand hochbegabt ist. Es kann hilfreich sein, viel Erfahrung mit Hochbegabten zu haben, aber man kann trotzdem auch mal falschliegen. Ob sich eine hohe Begabung in besonderen Fähigkeiten oder Leistungen zeigt, kommt immer auch auf das Umfeld an, in dem jemand aufwächst. Wenn ein Kind viel unterstützt und angeregt wird, kann es vielleicht hohe Leistungen erbringen, obwohl es durchschnittlich begabt ist. Umgekehrt heißt das aber auch, dass sich manche Potenziale nicht zeigen, wenn die Anregung fehlt. Begabungen verändern sich auch über die Zeit. Man sollte daher wirklich sehr vorsichtig mit Hochbegabungsdiagnosen sein und sie immer für die jeweilige Person in ihrer jeweiligen Situation übersetzen: Was heißt es zum Beispiel für eine Drittklässlerin, dass sie als hochbegabt gilt? Wo genau liegen ihre Stärken? Was macht ihr Freude?

Nur zwei Prozent aller Menschen seien hochbegabt, steht auf vielen Webseiten über Hochbegabung. Das ist nur ein kleiner Teil der Menschen. Wie reagieren die Familien, die vor Ihnen sitzen, darauf, wenn in den Tests doch nur eine Normalbegabung herauskommt?

Preckel: Von so einer Setzung wie den obersten zwei Prozent halte ich wenig. Das klingt, als gäbe es einen Punkt, ab dem jemand plötzlich hochbegabt ist. Aber letztlich ist das willkürlich, man könnte die Grenze auch bei fünf oder zehn Prozent setzen. Hochbegabte sind eben begabter als die allermeisten Menschen, das ist alles, worauf ich mich diesbezüglich festlegen würde. Diese Prozentangaben gehen häufig auf Definitionen wie die vom IQ von 130 zurück, ab dem jemand dann hochbegabt sein soll – aber wie bereits gesagt ist eine hohe Intelligenz nur ein Baustein der Hochbegabung. Es stimmt aber wohl, dass vielen Eltern solche Testergebnisse wichtig sind und dass bei vielen vor allem die Zahl zum IQ hängen bleibt, da sie sehr konkret wirkt. Aber: Man kann Intelligenz nicht wie ein Regalbrett vermessen, so exakt sind diese Tests nicht. Mit einem IQ von 128 Punkten ist man vermutlich genauso intelligent wie mit 132 Punkten. Deshalb ist es inzwischen auch üblich, keine Einzelwerte mehr zu nennen, sondern zum Beispiel zu sagen: "Das Ergebnis liegt im Bereich zwischen 125 und 135." Viele Eltern nehmen die Testergebnisse gut auf. Es kommt nur selten vor, dass sie etwas enttäuscht sind und vielleicht etwas länger brauchen, um sie zu akzeptieren. Aber letztendlich geht es ja um das Kind, da ist es wichtig, durch die Tests zu einer objektiven Einschätzung zu kommen.

Inwiefern haben es Menschen mit einer Hochbegabung schwerer als andere?

Preckel: Sie haben es nicht schwerer als andere, zumindest gibt es keine Befunde, die das für alle Hochbegabten belegen können. In den vergangenen Jahren gab es wirklich viel Forschung zu hochbegabten Kindern und Jugendlichen und man konnte nachweisen, dass vieles falsch ist, was wir über sie glauben – dass sie krankhaft perfektionistisch seien zum Beispiel. Ein Problem ist, dass es viele Mythen über Hochbegabte gibt, dass sie soziale oder emotionale Defizite hätten und Ähnliches. Das stimmt aber nicht. Ein Großteil meiner Arbeit ist es, zu normalisieren und zu erklären, dass Hochbegabte zwar leistungsbereiter und oft auch leistungsstärker als durchschnittlich Begabte sind, aber sonst meistens vollkommen unauffällig. Es stimmt zum Beispiel nicht, dass sie keine Freunde hätten oder im Beruf permanent unterfordert seien.

Hochbegabte Schülerinnen, die sich im Unterricht nicht konzentrieren können, weil sie sich langweilen, sind ein Mythos?

Preckel: Das nicht. Aber Langeweile ist nichts Besonderes. Wir haben Untersuchungen in Schulen gemacht und dabei gesehen: Alle Schülerinnen und Schüler langweilen sich – und das relativ häufig. Hochbegabte langweilen sich allerdings aus anderen Gründen als viele Kinder: nämlich aus Unterforderung, bei anderen ist es hingegen die Überforderung. Viele Hochbegabte zeichnen sich eben dadurch aus, dass sie eigentlich total motiviert sind, dass sie Freude daran haben, etwas zu leisten – und wenn ihnen das in der Schule nicht möglich ist, sind sie frustriert. Aber dass Hochbegabte sich mehr langweilen als andere Kinder, kann man so nicht sagen. Nur liegt es bei anderen zum Beispiel eher daran, dass sie sich nicht für einen bestimmten Schulstoff interessieren.

Hemmerde: Dem würde ich nicht widersprechen. Die hochbegabten Menschen, die dann bei mir in der Beratung landen, Kinder und Erwachsene, haben allerdings Probleme und erhoffen sich von mir Hilfe. Und da erkenne ich schon Besonderheiten im Vergleich zu Menschen ohne Hochbegabung. Beispielsweise kommen oft hochbegabte Jugendliche am Ende ihrer Schulkarriere zu mir, die sehr darunter leiden, dass sie sich nun für ein Studienfach entscheiden müssen. Ich habe manchmal junge Menschen vor mir sitzen, die planen an einem Tag ihre Aufnahme am Musikkonservatorium, am nächsten denken sie an BWL, weil sie ja Geld verdienen wollen, und einen Tag später fällt ihnen ein, dass ihr Lehrer ihnen doch ein Jurastudium empfohlen hat. Sie sind so gut in jedem Fach, dass sie alles machen könnten und alles würde sie auch interessieren, zumindest für eine kurze Zeit. Aber das sind dann Menschen, die sich auf nichts festlegen können – und dadurch manchmal völlig blockieren und nie etwas abschließen.

Zum Profil vieler Hochbegabten gehört, dass sie fleißig sind.
Franzis Preckel, Professorin für Hochbegabtenforschung

Was raten Sie diesen Jugendlichen?

Hemmerde: Wenn sie sich nicht entscheiden können, bitte ich sie, alle ihre Stärken auf Zettel zu schreiben. Wir sprechen dann darüber, was sie gut können und was sie gern machen, denn das sind ja oft verschiedene Dinge. Ich bitte die Jugendlichen dann, die Fähigkeiten auszusortieren, die ihnen weniger wichtig sind, so lange bis nur noch wenige Zettel liegen bleiben. Oft hilft ihnen das, im Kopf klarer zu werden. Andere hingegen überschätzen sich. Ich hatte mal einen jungen Mann mit einer diagnostizierten Hochbegabung, der Chemie studierte. In der Schule hatte er das Fach früh abgewählt, weil er das Gefühl hatte, im Unterricht nichts mehr lernen zu können. Er hatte also im Vergleich zu Kommilitonen, die das Fach noch im Abitur hatten, wenig Vorkenntnisse, dachte aber, dass er das ausgleichen könne, weil er ja in der Schule immer besser gewesen sei als die anderen. Prompt fiel er durch seine erste Klausur. Damit hatte er nicht gerechnet. Ich habe ihn dann erst mal zwei Stunden in meiner Küche mit seinen Chemiebüchern allein vor sich hinarbeiten lassen. Beim zweiten Versuch hat er die Klausur dann bestanden.

Preckel: Das ist interessant. Es passt zu dem Bild, was viele Menschen von einer Hochbegabung haben: dass man nicht mehr lernen muss, weil man ja schon schlau ist. Aber es ist genau umgekehrt – weil man schlau ist, kann man besonders gut lernen. Studien zeigen, dass Hochbegabte mehr Zeit mit ihren Hausarbeiten verbringen als andere Kinder, sie lernen mehr, aber vor allem auf einem anderen Niveau. Zum Profil vieler Hochbegabten gehört, dass sie fleißig sind und ziemlich gewissenhaft arbeiten.

Also gibt es keine faulen Hochbegabten?

Preckel: Ich hoffe doch, dass es welche gibt! Begabung ist ein Potenzial und es ist – neben allen Einflüssen durch die Umwelt – immer auch eine persönliche Entscheidung, was man daraus machen möchte. Wenn ich aber etwas leisten möchte, und viele Hochbegabte sind eben sehr motiviert dazu, geht das, wenn ich etwas investiere, wenn ich übe, wenn ich fleißig bin. Mache ich nichts aus meinen Möglichkeiten, können diese auch verloren gehen. Aber auch Hochbegabte haben Zeiten, in denen sie nichts tun, sich erholen oder Ideen reifen lassen.

Hemmerde: Faulheit ist ein sehr negativ besetzter Begriff. Ich würde lieber von Bequemlichkeit sprechen. Es gibt eine Gruppe unter den hochbegabten Kindern und Jugendlichen, die ich underachiever nenne: Das sind Schülerinnen und Schüler, die trotz hoher Intelligenz mittelmäßige bis schlechte Leistungen erbringen. Die agieren häufig lange nach dem Minimaxprinzip, nach dem Motto: "Ich springe nur so hoch, wie ich muss." Wenn die dann aber im Erwachsenenalter die richtige Domäne für sich entdecken, ihre Leidenschaft, dann ist ihre Leistungsbereitschaft plötzlich weit überdurchschnittlich.

Viele Menschen kommen nicht so weit, wie sie es könnten.
Gardy Hemmerde, Coachin

Wenn Hochbegabte fleißig sind und viel lernen, klingt das, als sei eine Hochbegabung eher antrainiert als angeboren. Ist das so?

Preckel: Das ist kein Entweder-oder, sondern beides trifft zu. Die angeborenen Merkmale sind wichtig, aber das Erlernte eben auch. Und beides ist auch nicht unabhängig voneinander, sondern hängt zusammen. Manche angeborenen Merkmale begünstigen, dass man bestimmte Erfahrungen überhaupt erst macht. Hochbegabten fällt beispielsweise das Lernen leichter, das liegt bestimmt ein Stück weit in den Genen. Aber bei allen Menschen ist es so, dass sie intelligenter werden, wenn sie sich bilden. Es kommt da auch auf den Zeitpunkt an, also in welchem Alter man beginnt, bestimmte Fähigkeiten zu lernen. In der Musik zeigen sich Begabungen zum Beispiel oft schon recht früh. Manche Kinder lernen ihr erstes Instrument in der Schule, andere haben schon ein musikalisches Elternhaus. Die erlangen viel früher erste Kompetenzen und trainieren sie – das müssen Altersgenossen erst aufholen. Deshalb hilft es der Entwicklung, wenn eine solche Begabung früh entdeckt und unterstützt wird. Das ist ein Vorteil, den Kinder aus bildungsnahen Akademikerhaushalten häufig gegenüber Hochbegabten aus einem anderen Umfeld haben, wo die Ressourcen oder Vorbilder fehlen.

Hemmerde: Ich habe auch mit einer Hochbegabten zusammengearbeitet, die als Erste in ihrer Familie studiert hat. Diese Frau kam im Studium gut zurecht, hatte hervorragende Noten, aber ich musste mit ihr zum Beispiel über die Frage sprechen, weshalb sie sich trotzdem so fühlt, als sei sie nicht so klug wie die anderen im Hörsaal. Viele Menschen kommen nicht so weit, wie sie es könnten.

Verlieren diese Menschen dann die Hochbegabung wieder?

Preckel: Eine Hochbegabung ist auf jeden Fall nicht wie ein Körperteil, das automatisch mitwächst. Wie leistungsfähig jemand ist, hängt von vielen Faktoren ab, von den Fähigkeiten, guter Förderung, von den Lebensumständen, von Gelegenheiten und Zufällen. Wenn der Weg nicht gut verläuft, können Begabungen verloren gehen. Wenn ein Kind zum Beispiel eine besondere sprachliche Begabung hat, aber nicht durch Gespräche oder Literatur gefördert wird, dann wird es sich hier kaum weiter bemühen. Damit ist die Entwicklung der Begabung dann erst einmal blockiert. Und das kann dann auch dazu führen, dass die sprachliche Begabung sinkt.

Es ist also wichtig, Begabung möglichst früh zu fördern. Ist es irgendwann zu spät?

Hemmerde: Wenn Jugendliche in die Pubertät kommen, wird es auf jeden Fall schwieriger. Ich erlebe oft, dass sie plötzlich ganz andere Interessen haben, sobald sie auf der Oberschule sind. Sie geben beispielsweise plötzlich ihren Geigenunterricht auf, weil sie lieber Zeit mit Freunden verbringen. Und ohne Übung verlernen auch Menschen, die musikalisch hochbegabt sind, ihre Fähigkeiten.

Preckel: Und es kommt auch darauf an, in welchem Bereich die Kinder begabt sind. Mathematische oder musikalische Begabungen kann man schon im Vorschulalter sehen, aber ob jemand politisches Talent oder die sozialen Fähigkeiten hat, die eine erfolgreiche Führungskraft braucht, erkennt man erst, wenn Kinder älter werden. Man kann also nicht grundsätzlich sagen, dass zum Beispiel mit zwölf Jahren Schluss sei, Begabungen zu fördern. Aber die meisten Leute, die etwas besonders gut können, haben da viele Jahre reingesteckt. Da hilft es, früh anzufangen.

Ich hatte mal eine Klientin, die mit Mitte 30 ihren ersten Intelligenztest gemacht hat. Sie hat erst dann verstanden, wie schlau sie war.
Gardy Hemmerde, Coachin

Frau Hemmerde, Sie beraten als Coachin auch hochbegabte Erwachsene beruflich. Welche besonderen Bedürfnisse haben die?

Hemmerde: Wenn hochbegabte Erwachsene zu mir kommen, hadern sie oft mit etwas, sie langweilen sich zum Beispiel im Beruf. Ich hatte mal einen Mann vor mir sitzen, der während seiner Arbeitszeit jeden Tag sechs Stunden YouTube-Videos guckte – ohne dass es jemandem auffiel, weil er die Aufgaben für einen gesamten Tag in nur zwei Stunden erledigen konnte. Oft hilft es diesen Menschen, den Arbeitsplatz zu wechseln. Manche machen sich selbstständig. Dabei hilft, dass erwachsene Hochbegabte oft sehr risikofreudig sind. Andere beginnen, neben ihrem Job noch zu studieren. Bei manchen Menschen zeigt sich eine Hochbegabung erst später im Leben. Ich habe schon Kinder gesehen, die galten unbeschulbar und sind dann als Erwachsene wieder an die Schule gegangen, haben Mathe studiert und promoviert.

Wie kam es zu dem Wandel?

Hemmerde: Da hat sich irgendwann die Leistungsbereitschaft verändert. Das heißt, diese Menschen waren schon immer klug, aber sie haben es nicht geschafft, an einer Sache dranzubleiben, vielleicht hatten sie Probleme in ihrem privaten Umfeld, in der Familie zum Beispiel. Erst als Erwachsene gelang es ihnen, auch mal etwas durchzuhalten – und dann zeigt sich, wie viel eigentlich schon immer in ihnen steckte. Ich hatte mal eine Klientin, die mit Mitte 30 ihren ersten Intelligenztest gemacht hat. Sie hat erst dann verstanden hat, wie schlau sie war. Die wollte immer Psychologie studieren, aber hat sich das nie zugetraut, weil ihre Eltern ihr eingeredet hatten, das Fach sei zu schwer für sie. Deshalb hat sie sich für einen Weg entschieden, bei dem sie sicher sein konnte, mal einen guten Beruf zu haben, nämlich Jura. Sie ist dann auch Anwältin geworden. Aber diese Frau hängt bis heute an der Idee: Hätte ich gewusst, dass ich so klug bin, dann hätte ich mir mein Traumstudium zugetraut.

Preckel: Für viele Menschen ist so ein Testergebnis ein großer Einschnitt. Ich glaube, man muss da sehr vorsichtig sein, weil einige dann glauben, sie hätten mehr aus ihrem Leben machen können. Dabei stimmt das nicht unbedingt. Ein hoher IQ bedeutet nicht, dass jemand unbedingt erfolgreicher im Leben ist – und sagt eben auch nicht, ob jemand hochbegabt ist. Gerade im Erwachsenenalter ist Intelligenz nicht der alleinige und vielleicht auch nicht der wichtigste Faktor. Man muss sich beispielsweise auch selbst etwas zutrauen und risikobereit sein. Das sieht man auch an diesem Beispiel mit der Juristin.

Um zu erkennen, dass Schülerinnen hochbegabt sind, braucht es Lehrer, die wissen, was das ist.
Franzis Preckel, Professorin für Hochbegabtenforschung

Was weiß man aus der Forschung über hochbegabte Erwachsene?

Preckel: Hochbegabung bei Erwachsenen ist noch schlecht erforscht. Es gibt zwar einige Arbeiten, die untersuchen, was hochbegabte Kinder als Erwachsene tun. Und viele dieser Studien gehen offenbar davon aus, dass die Hochbegabung nach wie vor vorhanden sei. Aber ich hadere etwas mit dem Begriff "hochbegabte Erwachsene". Auch das klingt so, als ob man einmal die Hochbegabung erworben hat und sie dann bleibt. Dabei geht es vielmehr darum, ob man die eigene Talententwicklung gefördert hat – und das kann man lebenslang. Bei Kindern schaut man sich an, in was sie begabt sind. Bei Erwachsenen geht es dagegen eher darum, welche Kompetenzen sie bisher erworben haben, was für eine Identität sie haben, welche Werte und Ziele. Das zeigt, wie komplex die Diskussionen um Hochbegabung sind.

Worauf sollten Lehrerinnen, Lehrer und Eltern achten, um Hochbegabungen besser zu erkennen und zu fördern?

Preckel: Um zu erkennen, dass Schülerinnen hochbegabt sind, braucht es Lehrer, die wissen, was das ist. Und Schulen, die willens und fähig sind, solche Kinder zu fördern. Es hilft nicht, vorschnell über Kinder zu urteilen. Lehrpersonen richten ihren Blick leider häufiger auf die Defizite als auf die Möglichkeiten der Kinder. Klüger wäre es, den Kindern erst Entwicklung zu ermöglichen – um dann zu überlegen, welche Form der Begabung vorliegt.

Hemmerde: Das Bewusstsein für besondere oder hochbegabte Schülerinnen und Schüler hat sich in den vergangenen 20 Jahren stark verändert. Viele Schulen haben Lehrerinnen und Lehrer weitergebildet und nehmen die Begabtenförderung sehr ernst. Es gibt auch immer mehr Jugendliche, die ein Junior- oder Frühstudium besuchen. Das ist ein gutes Zeichen, denn für viele Hochbegabte ist das eine tolle Möglichkeit, ihrer Begeisterung nachzugehen. Wenn die Begabung aber durch etwas anderes überdeckt wird, zum Beispiel durch extreme Schüchternheit, durch eine Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung oder eine Lese-Rechtschreib-Schwäche, ist es noch immer schwierig, diese Kinder zu entdecken und ihnen angemessene Förderung anzubieten.

Und was können Erwachsene tun, um mit ihrer Begabung gut umzugehen?

Hemmerde: Das ist eine sehr komplexe Frage, denn die Antwort fällt für jeden hochbegabten Menschen anders aus. Für den einen ist es wichtig, möglichst frei und selbstständig zu arbeiten, der andere fühlt sich wohler in klaren Strukturen, wieder ein anderer lebt seine Begabungen nur in der Freizeit in einem Orchester aus. Was auf jeden Fall alle hochbegabten Erwachsenen eint, ist ein Bewusstsein für die eigenen Kompetenzen und Stärken – und dem nachzugehen, ist ganz wichtig.

Bewertung: 4,5/5 (7 Stimmen)

Weitere Artikel zum Thema Leben