Bildungsunterschiede: Von fleißigen Mädchen und faulen Jungen

Autor*innen
Lisa Becker und Dana Hajek
Ein Mädchen klettert einen Stapel Bücher hoch, auf dem oben ein Laptop thront [© Lustre – stock.adobe.com]

Mädchen lassen die Buben in der Schule weit hinter sich, Frauen können im Berufsleben mit den Männern mithalten: Das wird oft behauptet, stimmt so aber überhaupt nicht.

e‑fellows.net präsentiert: Das Beste aus der F.A.Z.

Lies bei uns ausgewählte Artikel aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung und von FAZ.NET.

Die Mädchen hängen die Jungen in der Schule ab. Sie sind überproportional am Gymnasium vertreten, machen öfter Abitur. An den Hochschulen sind mehr weibliche als männliche Studierende eingeschrieben. "Den Vorsprung haben sich die Mädchen schon in den neunziger Jahren erarbeitet, die Schere wird aber seit zwanzig Jahren nicht größer", erklärt der Erziehungswissenschaftler Jürgen Budde von der Universität Flensburg. Die Überlegenheit der Mädchen währt also schon lange. Deshalb könnte man meinen, die Förderung von Mädchen in der Bildung habe sich erledigt und es seien die Jungen, um die man sich nun kümmern sollte. Doch das wäre zu einfach gedacht.

"Jungen allgemein als Bildungsverlierer zu bezeichnen ist zu pauschal", sagt Margrit Stamm, emeritierte Schweizer Professorin für Erziehungswissenschaften. "Sie sind nicht per se Verlierer im Bildungssystem, genauso wenig wie Mädchen einfach auf der Überholspur sind. Es gibt zwischen den Geschlechtern kleinere Unterschiede als innerhalb eines Geschlechts," erklärt Stamm, die zu Geschlechterunterschieden in der Bildung, auch mit Blick aus Deutschland, geforscht hat. "Jungen aus bildungsbeflissenen Akademikerfamilien sind oft gute Schüler", sagt sie. Es komme sehr auf die Zusammensetzung der Klasse an: ob mehr leistungsorientierte Jungen vorhanden seien oder mehr "lads", die sich über Körper und Muskeln definierten.

Um die Jungen aus dem bildungsbürgerlichen Milieu macht sich Bildungsforscher Budde mit Blick auf berufliche Ab- und Anschlüsse wenig Sorgen. "Für diese Gruppe muss man kein extra Förderprogramm auflegen." Im Durchschnitt hätten sie zwar schlechtere Noten als die Mädchen, in der Gruppe der leistungsstärksten Schüler seien sie aber überproportional vertreten. "Es gibt andere Gruppen im Bildungssystem, die viel mehr Aufmerksamkeit brauchen: geflüchtete und arme Kinder zum Beispiel. Der Abbau sozialer Ungleichheit ist eine viel größere Baustelle als der von Geschlechterdisparitäten."

Der Forscher kann auch nicht erkennen, dass die Institution Schule systematisch darauf ausgerichtet wäre, Jungen zu diskriminieren. Dass der Bildungserfolg von Jungen darunter leidet, dass sie in der Kita und der Grundschule vor allem auf Erzieherinnen und Lehrerinnen treffen, wird zwar oft behauptet, ist aber wissenschaftlich nicht nachgewiesen.

Gewisse Verzerrungen zu Lasten der Jungen sieht Budde aber schon. "Klassisches weibliches Verhalten wird in der Schule positiver prämiert als klassisches männliches Verhalten." Jungen würden nämlich auch wegen ihres Verhaltens schlechter bewertet. "Gerechtfertigt ist das, wenn sie weniger mitarbeiten und weniger Hausaufgaben machen. Andere Verhaltensweisen wie ungünstiges soziales Verhalten und Stören des Unterrichts sind streng genommen aber kein Gegenstand von Leistungsbewertungen."

Schule müsse jedoch in gewissem Maße soziales Verhalten fördern, damit sie als Massenveranstaltung mit rund dreißig Kindern in einer Klasse überhaupt funktioniere. Zugleich steige aber der Anteil der Jungen, die kein klassisch männliches Verhalten zeigten, es kritisierten und sich für Gleichberechtigung einsetzten. "Indianer kennen keinen Schmerz, das eignet nicht mehr als allgemeingültige Sozialisationsorientierung."

Nach Buddes Ansicht sollten Lehrkräfte Jungen nicht anders unterrichten als Mädchen, sie sollten aber etwas über ihre Sozialisationsbedingungen wissen. "Was bedeutet es, in einer pluralisierten Welt aufzuwachsen und gleichzeitig mit Männlichkeitsanforderungen konfrontiert zu sein." Lehrkräfte sollten das Verhalten von Jungen verstehen und reflektieren. "Dann können sie Jungen in ihrem Sozialisationsprozess begleiten."

Um eine Gruppe von Jungen muss man sich jedoch große Sorgen machen: um diejenigen am unteren Ende der Bildungsskala, die nicht oder kaum einen Schul- oder Berufsabschluss schaffen. So sind unter den Schulabbrechern 60 Prozent männlich. "Oft ist das allerdings nicht nur eine Frage von Männlichkeit, da kommt mehr hinzu, zum Beispiel Ressourcenarmut im Elternhaus oder Sprachschwierigkeiten", erklärt Budde.

"Nicht nur in Bezug auf Schule, Fleiß und Seriosität haben die Mädchen die Nase vorn, sondern auch in Bezug auf ihre Anpassungsfähigkeit", sagt Margrit Stamm. Das könne man durchaus auch problematisieren. "Als gutes Mädchen gilt im Elternhaus wie in der Schule, wer angepasst, sozial integer und vermittelnd ist, und nicht, wer durchsetzungsfähig, risikobereit und schlagfertig ist." Viele Mädchen seien überangepasst. Sie seien stolz, wenn Eltern und Lehrer zufrieden seien. "Doch im Beruf ändern sich die Spielregeln. Dann zählen Seriosität und Perfektion nicht mehr so stark. Es zählen Selbstvertrauen und wenig Selbstzweifel zu haben."

Junge Frauen kämpften, wie viele Studien zeigten, auch heute noch überdurchschnittlich oft mit wenig Selbstvertrauen im Beruf. "Erst wenn sie 150 Prozent sicher sind, dass sie gut sind, bezeichnen sie sich auch als gut", sagt Stamm. Viele trauten sich nicht, an die Front zu gehen. "Auf herausfordernde Stelleninserate bewerben sich auch mit durchschnittlichen Leistungen viel eher junge Männer."

Die Bildungsunterschiede von Jungen und Mädchen haben viel mit Geschlechterstereotypen zu tun; in ihrer Intelligenz unterschieden sie sich nicht. Stereotype schreiben fest, welche Eigenschaften, Rollen und Verhaltensweisen männliche und weibliche Personen aufweisen sollten, erklärt Ursula Kessels, Professorin für Bildungsforschung an der Freien Universität Berlin, im Online-Magazin des Campus Schulmanagement. Stereotype enthielten zudem normative Verhaltenserwartungen.

Auch Kessels sieht große Schattenseiten im Stereotyp des fleißigen Mädchens. "Die guten Noten der Schülerinnen werden vor allem als Ergebnis großer Anstrengung und harter Arbeit angesehen und weniger als Resultat hoher Fähigkeiten." Jungen hingegen profitierten vom Stereotyp des faulen Jungen. "Erhalten sie schlechte Noten, so liegt es gemäß Stereotyp nicht an ihren fehlenden Fähigkeiten, sondern an der fehlenden Anstrengung." Interviewstudien zeigten, dass dieser Mythos vor allem von Jungen verbreitet werde. Das diene ihrem Selbstwert – und dem Bild der männlichen intellektuellen Überlegenheit.

Die Stereotype erschwerten zudem den Zugang der Frauen zu den zukunftsträchtigen Mint-Fächern. "Verschiedene Studien zeigen, dass sich in Bezug auf mathematiklastige Mint-Fächer das Vorurteil hält, dass hier vor allem außergewöhnliches Talent zum Erfolg führt, wohingegen Anstrengung vergleichsweise wenig nütze." Und so sei der Frauenanteil umso geringer, je eher für ein Fach angeblich Brillanz notwendig sei. In experimentellen Studien hätten sich weibliche Studierende eher Fächer zugetraut, die so beschrieben worden seien, dass sie hohes Engagement erforderten, als solche, die eine hohe Begabung voraussetzten.

"Wenn Mädchen und Jungen in der Schule die gleichen Leistungen in Mathematik zeigen, schätzen sich die Jungen sehr viel schneller als gut ein als die Mädchen", berichtet Stamm aus Untersuchungen. "Mädchen schätzen sich erst dann sehr gut in Mathe ein, wenn sie wirklich top sind."

Das Selbstvertrauen beeinflusst die Leistungen – seit Jahren sind die Jungen im Durchschnitt besser in Mathematik. Im jüngsten Mint-Nachwuchsbarometer beträgt der Rückstand der Mädchen am Ende der vierten Klasse 15 Lernwochen; und er hat sich vergrößert. "Trotz des inzwischen vorhandenen Problembewusstseins gelingt es nicht, die Benachteiligung der Mädchen im Fach Mathematik zu überwinden", schreiben die Herausgeber der Studie, Acatech und die Joachim Herz Stiftung.

Auf der anderen Seite haben die Mädchen einen Vorsprung in der Sprachkompetenz. Sie sind im Durchschnitt auch besser in Biologie, Jungen in Physik und Chemie. "An biologischen Unterschieden kann es nicht liegen, weil wir viele Länder auf der Welt haben, wo es anders ist, wo Jungen besser in Sprache sind oder Mädchen besser in Mathe, zum Beispiel in Island. Es sind die Geschlechterzuschreibungen", erklärt Budde.

Viel Geld werde in die Mint-Förderung der Mädchen gesteckt, mit bescheidenem Erfolg, sagt Stamm. Die gelinge sogar in einem Land wie Marokko wesentlich besser, wo man schon im frühen Alter mit Programmen beginne und der Anteil der Frauen in den Mint-Fächern 45 Prozent betrage. "In armen Ländern versprechen sich die Frauen von Mint-Berufen ein gutes Einkommen, Unabhängigkeit und Aufstieg", sagt Stamm. "Weil wir reich sind, studieren viele Frauen sogenannte Luxusfächer – sie glauben, sie brauchen nicht so viel zu verdienen, denn der Partner wird ja gut verdienen." Das könne sich später jedoch rächen, wenn eine Beziehung auseinandergehe und die Frau ökonomisch schlecht abgesichert sei.

Schon in den Kitas seien starke Stereotype zu beobachten, sagt Stamm. "Die Mädchen sitzen in der Puppen- und Leseecke, Jungen in der Legoecke." Um etwas zu ändern, müsse man früh beginnen. "Mit Programmen im Teenageralter kann man die Stereotype nur noch schwer durchbrechen." Nach Stamms Beobachtungen haben die Geschlechterzuschreibungen sogar zugenommen. Viele Influencerinnen und Influencer seien dafür Paradebeispiele. "Und im Krankenhaus liegen Jungen nach der Geburt in Hellblau, die Mädchen in Rosa. Eltern staffieren Mädchen als Prinzessinnen aus und Jungen als richtige Kerle."

Schulleitungen, Lehrkräfte und Eltern müssen sich über die Stereotype bewusst sein, sagt Kessels. "Sie sollten sie reflektieren können und sie nicht aktiv selbst im Schulalltag perpetuieren, indem sie beispielsweise Mädchen in erster Linie für ihr braves Verhalten loben." Der Kategorie Geschlecht sollte keine übermäßige Bedeutung zugewiesen werden.

Politisch habe sich viel verändert, sagt Stamm. "Heute kann jeder und jede alles erreichen. Aber Männer haben beruflich immer noch die Nase vorn. Sie werden schon früh von den Eltern unterstützt, durchsetzungsfähig zu sein." Vor allem, wenn Kinder kämen, setze eine starke Retraditionalisierung ein.

Viele Paare entschieden, dass der Mann der Haupternährer sei und die Frau Teilzeit arbeite, um genug Zeit mit den Kindern zu verbringen. Das habe ökonomische Gründe. "Männer verdienen mehr." Außerdem halte sich hartnäckig die Annahme, Mütter seien die fürsorglicheren Personen, sie könnten Kinder besser betreuen. Stamm sieht darin eine Überhöhung der Mütter. "Das ist ein Rückschritt. Denn aus der Forschung wissen wir zur Genüge, dass Väter genauso feinfühlig und fürsorglich sein können."

Alle Rechte vorbehalten. Copyright Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv.

Bewertung: 5/5 (15 Stimmen)

Weitere Artikel zum Thema Leben