Freizeit: Nichts ist unmöglich

Autor*innen
Nina Pauer
Mehrere Beine sind auf der Coach und strecken sie nach oben

Alles, was wir tun, soll Sinn haben. Deshalb erfinden wir Namen dafür, von Selflove über Detox bis Schlafhygiene. Und verlernen dabei etwas Elementares: das Nichtstun. Ein Essay von Nina Pauer

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Dieser Artikel ist Teil von ZEIT am Wochenende, Ausgabe 24/2023.

Es gibt Vorhaben, die allein sprachlich schon verdächtig sind. "Einfach mal" in Kombination mit "nichts tun" ist so eines. "Wie schön wäre es, einfach mal nichts zu tun", seufzen wir, wenn die Woche bereits montags durchgetaktet ist, "einfach mal nichts tun", nehmen wir uns vor und erledigen doch alles, was liegen geblieben ist. Und, seltsam dringlich, fast ein wenig streng empfehlen wir anderen: "Vielleicht musst du auch einfach mal gar nichts machen!" Ganz so, als wäre das Nichtstun neuerdings etwas, wofür man Unterstützung bräuchte, als wäre es ganz und gar nicht einfach, sondern verdammt schwer.

Ist das so?

Auch wenn es klingt wie das Luxusproblem aller Luxusprobleme: Das völlige Lassen von allem, das Einfach-nur-da-Sein, müßig, faul, in den Moment hineinlebend, scheint jedenfalls kein Selbstgänger mehr zu sein. Kurz mag es aufblitzen, klassischerweise an Freitagabenden, wenn die Arbeit geschafft und das Kind endlich im Bett ist. Auch Samstage starten oft vielversprechend, mit Brötchen vom Bäcker statt Porridge in Schüsseln. Doch schon bald nach dem Frühstück, die Croissantkrümel liegen noch auf dem Küchentisch, passiert es, dass sich die Stimmen wieder eigentümlich verhärten, die Körperspannung ungut zunimmt, weil sich das sogenannte Feintuning all der tollen Zeit, die eben noch frei und strahlend da lag wie eine Wildblumenwiese im Sonnenschein, plötzlich in Anstrengung verwandelt.

In etwas, das es zu verwalten gilt, bei dem die Logistik unbedingt stimmen muss und die Slots besser perfekt aufeinander abgestimmt sein sollten, weil sich sonst die selbst gebaute Struktur schnell gegen einen wendet. Pläne, Menschen, Bedürfnisse – egal, wie schön, nett und berechtigt sie alle sein mögen, am Ende bilden sie eben doch immer einen Haufen Etwas und eben gerade nicht das Nichts, was man ja aber so dringend tun müsste, endlich und einfach mal.

Sind wir alle verrückt geworden?

Ja, vielleicht. Denn selbst wenn man es wirklich ernst meinte mit dem Nichtstun, eiskalt alle Dates cancelte, die Zeit komplett freischaufelte – es wäre immer noch kein Garant dafür, dass das süße Nichts einfach so beginnt. Vermutlich säße man da und wüsste auch nicht, wann und wie es sich nun einstellen soll, und würde am Ende doch nur wieder das Wetter checken und Sprachnachrichten versenden.

Vielleicht begann unser Verrücktwerden etwa zu der Zeit, als wir damit anfingen, durch unsere Köpfe zu wandern und allem, was wir vorhatten, eine Funktion zuzuordnen. Wie mit einer Art Etikettierpistole begannen wir (die Gesellschaft, der Zeitgeist, wir einzelne Personen), sämtliche unserer Pläne mit kleinen gedanklichen Klebern zu versehen. Wie Preisschildchen auf Produkte, bevor sie ins Supermarktregal eingeordnet werden, tackerten wir Werte auf alles, nicht Preise, sondern einen Zweck. "Um die 10.000 empfohlenen Schritte vollzukriegen" stand als imaginiertes Motto über jedem noch so stinknormalen Gang um den Block oder zum Altglascontainer.

Eine gewaltige Verwertungslogik hängt über unserem Tun

Laufschuhe zieht man seither nicht mehr an, um einfach loszurennen, diese Tätigkeitseinheit läuft vielmehr unter "Work-out", Unterkategorie "Cardio" und, wenn man beim Joggen auf Bäume guckt, auch unter "Waldbaden" (was wiederum die zusätzlichen Profile "Mindfulness" und "mentale Gesundheit" auf den Plan ruft). Gesundes Essen wird entweder traditionell für Insta abfotografiert oder als Teil des Intervallfastenprogramms verbucht, weniger ausgewogene Mahlzeiten gehören zum Konzept "intuitives Essen" oder gelten, wenn es allzu weißzuckrig und weißmehlig wird, als "Cheat Meal". Liegt das Handy ausgeschaltet herum bedeutet es, dass hier gerade ein bewusster Detox-Prozess am Laufen ist, vielleicht eine "Abendroutine", womöglich der erste Teil einer "Schlafhygiene". Und selbst wenn der Blick in den Spiegel nur flüchtig sein mag – ein bisschen Selflove, Body-Positivity oder zumindest Body-Acceptance sollte schon dabei sein.

Eine gewaltige Verwertungslogik hängt über unserem Tun, ein riesiges "Um zu", das wir einfach nicht mehr verscheucht bekommen.

Man kann dafür natürlich direkt dem Kapitalismus die Schuld geben, der sich im Sinne des Wachstums bekanntlich alles einverleibt und optimieren will. Umgekehrt könnte man auch die positiven Seiten der großen Benennungsoffensive sehen. Denn natürlich ist sie im größeren, politischen Kontext ein absoluter Fortschritt. Erst, wenn Dinge nicht nur passieren, sondern auch benannt werden und es genaue Labels gibt, können sie gesellschaftlich und institutionell angegangen werden. Probleme ohne Namen lassen sich schlecht beseitigen, toxische Männlichkeit, Rassismus, strukturelle Ungerechtigkeit: benannt, damit überhaupt erst zutage tritt, was allzu lange, allzu schnell in den Bereich des Privaten, Individuellen und damit von Natur aus Verschwommenen oder Unsichtbaren wegtrivialisiert wurde.

Doch es ist ein schmaler Grat.

Obsessiv wirkt es, Biografien und Tagesabläufe bis ins Kleinste so zu framen, dass sie gesellschaftspolitisch einen Sinn ergeben müssen. So gut und richtig es ist, traditionelle Denkmuster und Konzepte wie Mutterschaft zu dekonstruieren und es nicht als natürliche Bestimmung anzusehen, dass Frauen an Spielplatzrändern herumsitzen, umso kirrer kann es jene Frauen, die dort sitzen, selbst machen, wenn die Kategorien in der Praxis und vor allem im Gefühl verwirrend durcheinanderklötern, statt fein säuberlich trennbar zu sein, wie alle es so gern hätten.

Ist es nun knallhart unbezahlte Care-Arbeit, auch noch beim zehnten Sandförmchenkuchen so zu tun, als habe man nie etwas Leckereres gegessen? Aber was, wenn sich das eigentlich eher nach gelungener quality time anfühlt, also wie die perfekte Work-Life-Balance? Und dann aber im nächsten Augenblick eben doch wieder wie ein Job, schließlich spielen hier ja nicht einfach nur irgendwelche Kinder zusammen, sondern vielmehr von ihren Müttern genau zu diesem Zwecke miteinander verabredete Kinder. Auch für sie gibt es schon lange einen Begriff, er heißt "Playdate" und ist eben alles andere als ein Zufall, sondern das Produkt von erfolgreichem Mental-Load-Management der Eltern.

Spielen dürfen und das einfach nur so – vielleicht ist es diese Sehnsucht, die sich hinter der viel beschworenen Formel des Nichtstuns verbirgt. Ein Zustand des Flows, in dem man für einige Zeit selbstvergessen sein darf und die Welt um sich herum nicht mehr wahrnimmt. "Das Nützlichsein überleben", so nennt die amerikanische Autorin Jenny Odell die Einleitung zu ihrem Buch, das sie dem Nichtstun gewidmet hat. Die ewige Rationalisierung und sinnhafte Vernetzung unserer gesamten gelebten Erfahrung möge einigen vielleicht "so etwas wie die Befriedigung eines Ingenieurs verschaffen". Am Ende bleibe jedoch immer "eine Art nervöses Gefühl der Überreizung und der Unfähigkeit, einen Gedankengang zu Ende zu führen".

Und nun?

Vielleicht könnte so langsam einmal der Zeitpunkt gekommen sein, an dem wir uns einen Fehler eingestehen. Vielleicht haben wir es bloß übersehen oder sogar bewusst zugelassen: dass der ganze fiese Stress der Arbeitswelt, den wir dort erfolgreich vertreiben, wie ein Parasit einfach nur weitergezogen ist. Er hat sich einen neuen Wirt gesucht: unsere freie Zeit.

Entfalten an der Front überbordender Erwerbsarbeit nun mittlerweile Sabbaticals, geregelte Arbeitszeiten, ausgeschaltete Mailprogramme und Debatten um die Viertagewoche eine immer spürbarere Wirkung, so prompt und giftig poppt die Wachstumslogik an anderer Stelle gleich wieder auf. "Personal growth" heißt es nicht umsonst in softem, aber nicht minder ökonomischem Sound. Und es ist auch kein Zufall, dass man im Sinne von Achtsamkeit und Selfcare am laufenden Band "Workbooks" ausfüllen soll, die man wie früher die gute alte To-do-Liste nun statt mit Arbeitsaufgaben mit Dingen füllt, die am Tag schön waren oder am nächsten Morgen möglicherweise der Selbstfürsorge dienen könnten. Nichts gegen Dankbarkeitstagebücher – etwas unglücklich ist es aber schon, dass ausgerechnet sie kein Wochenende kennen und auch im Urlaub gnadenlos auf Futter warten.

Müssen wir, um endlich das beruhigende Nichts zu finden, unsere eigenen über die Jahre verfeinerten Techniken guter Lebensführung allesamt über Bord werfen?

Kann sein, dass es manchen wirklich helfen würde, abends rein gar nichts mehr zu notieren, und sei es gedanklich. Sich auszuloggen und stattdessen vor die Glotze zu knallen. Bloß ist "Serie gucken" ja leider auch längst als Selfcare-Routine gelabelt und somit sinnverpestet (Es gibt auch Yogavideos, die man, während Netflix läuft, noch auf dem Sofa absolvieren soll, für alle, die die Zweckhaftigkeit des Gammelns zusätzlich verschärfen wollen). Eine Anleitung fürs Nichtstun kann es natürlich auch allein deshalb nicht geben, weil sie bloß ein weiteres Programm auf unserer mentalen Festplatte wäre, die ja gerade wegen der vielen Programme ein komplettes Runterfahren nicht mehr zulässt.

Wer sich aber ernsthaft darum sorgt, ob es überhaupt noch und je wieder so etwas geben kann wie eine pure Absichtslosigkeit eigenen Handelns, dem sei der tibetische Meditationsmeister Yongey Mingyur Rinpoche empfohlen. Wie weit auch immer man sich in seinem eigenen Geist verlaufen habe, wie stark auch immer der Strom der eigenen Gedanken sein möge, wie irre die mind loops, in denen unser Gehirn sich verdreht habe – es gebe sie immer, die gedankenfreien Zonen, und zwar für alle Zeit und für alle Menschen. Man müsse nur wieder daran erinnert werden, was aber glücklicherweise von selbst passiert, wenn man nur genau hinschaue.

"Bless you!", so sagt man in vielen Gesellschaften, wenn jemand niest. Das beruhe, so schreibt Yongey Mingyur Rinpoche in seinem Buch Auf dem Weg, auf dem Glauben, dass beim Niesen im Geist etwas durcheinandergerate, was sich danach wieder gut zusammensetzen möge. Den wirklichen Segen aber sieht er in etwas ganz anderem. Nämlich in der Pause, die das Niesen uns schenkt. "Haaa-tschi!" – in diesem einen kurzen, heftigen Moment sei das Gehirn gezwungen, sein eigenes Dauerquasseln, die ganzen Gedanken, Pläne und Konzepte für den Bruchteil einer Sekunde zu unterbrechen. Das reine Dasein, der "nackte Geist", zeige sich in der Lücke, wie eine kurze Erinnerung, dass es sich noch lohnt, weiter nach ihm zu suchen. Ein Mini-Nichts, ausgerechnet im Niesen? Zumindest dürfte das Wort Hatschi wohl noch in keinem einzigen Dankbarkeitstagebuch der Welt notiert worden sein. Wenn das so bleibt, sind wir auf einem guten Weg.

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