Eltern Grenzen setzen: "Meine Mutter muss lernen, dass ich nicht ihre beste Freundin bin"

Autor*innen
Hannan El Mikdam-Lasslop
Man sieht einen Mann von hinten. Er hat die Arme auf die Hüften gestützt. Vor bzw. über ihm schwebt ein Mund, der ihn anzuschreien scheint.

Die eigenen Eltern mit ihren Fehlern zu konfrontieren, ist schwer. Drei junge Menschen erzählen, wie sie es geschafft haben, sich von der Familie abzugrenzen.

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Schwerpunkt der aktuellen Ausgabe: Wie du deinen Eltern nah bleibst – und trotzdem deinen eigenen Weg gehst.

Grenzen zu setzen kann schwierig sein. Vor allem wenn es die Eltern sind, die nicht wissen, wann Schluss ist. Wie kann es trotzdem klappen? Das haben wir unsere Leser:innen gefragt. Drei von ihnen erzählen.

Wenn meine Mutter anfängt zu weinen, weine ich oft mit.
Johanna*, 28

Wenn es meiner Mutter schlecht geht, bin ich die Erste, die sie anruft. Egal, ob sie sich mit meinem Vater gestritten hat, krank ist oder Probleme auf der Arbeit hat – alles landet bei mir. So ein Telefonat geht schnell mal drei Stunden und wird oft sehr emotional. Wenn meine Mutter dann anfängt zu weinen, weine ich oft mit. Früher habe ich mich in solchen Momenten machtlos gefühlt und versucht, die Probleme meiner Mutter für sie zu lösen. Als Zehnjährige, wenn meine Eltern sich wieder einmal gestritten hatten, habe ich mich zum Beispiel mit ihnen hingesetzt und versucht zu vermitteln. So etwas sollte man als Kind nicht machen müssen.

Wirklich unabhängig habe ich mich erst gefühlt, als ich nach meiner Ausbildung vor sechs Jahren auf Weltreise gegangen bin. Auch wenn ich oft mit meiner Mutter telefoniert habe, ich war so weit weg und konnte ihr nicht helfen. Das hat sich befreit angefühlt.

Ein halbes Jahr nach meiner Rückkehr nach Deutschland habe ich Panikattacken bekommen und daraufhin eine Psychotherapie angefangen. Meine Therapeutin hat mich darauf aufmerksam gemacht, dass die Beziehung, die ich und meine Mutter haben, keine normale Mutter-Kind-Bindung ist. Mir war das bis dahin gar nicht bewusst. Obwohl ich rückblickend immer sagen konnte, wann mir eine Situation mit meiner Mutter zu viel war, habe ich es nicht geschafft, das auch in dem Moment selbst zu merken. Also schon während dem Telefonat wahrzunehmen: Das tut mir gerade nicht gut.

Mit meiner Therapeutin habe ich dann typische Situationen mit meiner Mutter nachgespielt und gemeinsam überlegt, was ich anders machen kann. Um meine Grenzen schützen zu können, musste ich erst mal lernen, diese überhaupt zu erkennen. Dann habe ich mit meiner Therapeutin zusammen Strategien entwickelt, um Gespräche mit meiner Mutter zu beenden. Mittlerweile setze ich mir vor Telefonaten ein Zeitlimit oder hebe gar nicht erst ab, wenn ich merke, dass ich nicht in der Verfassung bin, mit ihr zu sprechen. 

Meiner Mutter zu erklären, dass wir anders miteinander kommunizieren müssen, war sehr schwer für mich. Sie muss lernen, dass ich nicht ihre beste Freundin bin – aber ich will sie nicht verletzen. Geschafft habe ich das deshalb oft nur in Extremsituationen. Einmal haben wir im Auto telefoniert und ich habe keinen Parkplatz gefunden. Ich war gestresst, meine Mutter auch. Wir haben angefangen zu streiten. Da bin ich explodiert und habe ihr gesagt, dass ich diese Telefonate mit ihr hasse und danach immer eine Stunde Therapie brauche. Das war kein besonders schöner Moment und meine Mutter hat das sehr verletzt. Trotzdem hat es dazu geführt, dass sie mittlerweile mehr Rücksicht nimmt und mich vorher fragt, ob ich mit ihr über ein bestimmtes Thema sprechen möchte oder nicht.

Wir reden vor allem über Belanglosigkeiten. 
Jonas*, 35

Ich bin in einem sehr konservativen Umfeld aufgewachsen. Für meine Eltern gibt es wenig Werte, die ihnen so wichtig sind, wie die heteronormative Kleinfamilie. Meine Oma wählt die CDU, um in den Himmel zu kommen.

Als Jugendlicher habe ich mich oft mit meinen Eltern gestritten. Wenn sie sich am Frühstückstisch wieder über "diese Ausländer" beschwert haben, habe ich dagegen gehalten. Es hat mich so wütend gemacht, dass meine Eltern rassistisch und antisemitisch sind. Manchmal haben wir uns auch angeschrien und ich bin vom Tisch aufgestanden. Es kam auch schon vor, dass ich für mehrere Tage bei Freund:innen geblieben bin, um meinen Eltern aus dem Weg zu gehen.

Als ich ihnen mit 17 Jahren erzählt habe, dass ich schwul bin, wollten sie das nicht verstehen. Mir war schon vorher klar, dass sie es nicht gut aufnehmen würden. Zuerst war mir das egal, aber enttäuscht hat es mich trotzdem. Sie fragen mich zwar immer noch manchmal, ob ich bald eine Freundin mit nach Hause bringe, aber ansonsten wird das Thema weitgehend verdrängt. Als ich mit 18 in die Großstadt gezogen bin, habe ich zum ersten Mal Menschen getroffen, die mich so akzeptiert haben, wie ich bin. Das war richtig gut.

Ich kann mittlerweile akzeptieren, dass ich meine Eltern nicht ändern werde. 
Jonas

Mittlerweile sehen wir uns nur noch zwei- bis dreimal im Jahr. Wir haben abgemacht, über eine vermeintliche jüdische Weltverschwörung und ihr rassistisches Weltbild nicht mehr zu sprechen, um weniger zu streiten. Unser Verhältnis ist jetzt friedlicher, aber auch oberflächlich. Wir reden vor allem über Belanglosigkeiten wie das Wetter.

Wenn es bei Gesprächen doch mal politisch wird und meine Eltern nicht aufhören, rechten Quatsch zu reden, verlasse ich den Raum und komme manchmal erst eine Stunde später wieder. Vergangenes Jahr waren meine Eltern bei mir zu Besuch. Das Gespräch verlief erst harmlos, aber dann, nach dem vierten Bier, ging es wieder los mit ihren Theorien. Da habe ich gesagt, dass ich sie vor die Tür setze, wenn sie weiter solche Sachen sagen. Meine Eltern reagieren dann oft bockig, akzeptieren aber, dass diese Gespräche für mich eine Grenze überschreiten.

Natürlich wäre es schön, wenn meine Eltern akzeptieren würden, dass ich mit einem Mann zusammen bin. Wir könnten dann alle zusammen essen gehen wie andere Familien. Ich weiß aber, dass das nicht passieren wird. Für mich ist das okay. Ich kann mittlerweile akzeptieren, dass ich meine Eltern nicht ändern werde.

Meine Mutter hat eine Therapie begonnen. 
Nathalie*, 30

Wenn meine Mutter gestresst ist, reichen schon Kleinigkeiten, damit sie die Beherrschung verliert. Einmal habe ich ein benutztes Glas nicht abgewaschen. Sie ist ausgerastet und hat mir vorgeworfen, ich sei faul und würde nie aufräumen. Früher, als ich noch zu Hause gewohnt habe, gab es solche Vorfälle fast täglich. Ich hatte oft das Gefühl, nichts richtig machen zu können. Schon als Kind habe ich meiner Mutter fast nichts mehr über mich erzählt. Ich glaube, dass ich versucht habe, mich so von ihr abzugrenzen.

Der Bruch kam vor vier Jahren. Kurz nach der Geburt meines Kindes musste ich an der Galle operiert werden. Gleichzeitig musste ich noch meinen kleinen Sohn betreuen. Meine Mutter hat mich angerufen, um mich nach alten Arbeitsverträgen zu fragen, die sie für ihre Steuererklärung brauchte. Als ich ihr erklärt habe, dass ich die Arbeitsverträge nicht mehr habe, hat sie mir wieder Vorwürfe gemacht: Ich würde ihre Bedürfnisse nicht ernst nehmen und sei egoistisch. Daraufhin habe ich ihr gesagt, dass ich da jetzt wirklich keinen Kopf für habe und habe aufgelegt.

In einem langen Brief habe ich ihr erklärt, dass ich keine Lust mehr habe, ihre Emotionen aufzufangen und dass ich mir wünsche, zu kommunizieren, ohne dass sie mich herabsetzt. Den Brief habe ich geschrieben, weil mir schon klar war, dass wir über das Thema nicht normal miteinander sprechen können. Knapp ein Jahr lang hatten wir daraufhin keinen Kontakt.

Dann hat meine Mutter eine Therapie begonnen. Wir näherten uns wieder an. Bei unseren ersten Treffen war der Brief kein Thema. Wir haben einfach nur Zeit mit meinem Sohn verbracht. Dass wir über unseren Konflikt sprachen, ist oft so nebenbei passiert. Vor zwei Jahren war sie zum Beispiel bei mir zu Besuch und wir saßen draußen vor dem Haus. Mein Sohn hat sein kleines Fahrrad gewaschen und ich habe meiner Mutter ganz viel über Entwicklungspsychologie erzählt. Da hat sie mir erzählt, dass sie sich Vorwürfe macht, weil sie mich früher so schlecht behandelt hat. Dann hat sie sich entschuldigt. Ich habe sie in den Arm genommen und gesagt, dass ich ihr verzeihe. Wir haben beide geweint.

Trotz dieser Momente passiert es immer noch manchmal, dass sie unangemessen reagiert und in alte Muster zurückfällt. Heute sage ich ihr ganz direkt, dass mich das stört und entschuldige mich auch nicht mehr bei ihr.

*Die Protagonist:innen möchten anonym bleiben, um ihre Familien zu schützen. Der Redaktion sind die richtigen Namen bekannt.

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