Erwachsenwerden: Plötzlich erwachsen
- Jonathan Boese

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Bettwäsche kaufen, in ETFs investieren oder ein Baby bekommen: Sieben Geschichten vom Erwachsenwerden.

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Schwerpunkt der aktuellen Ausgabe: What is love in 2023?
Die Waschstraße
Sophia Krohn
23, fuhr, seit sie wieder in Deutschland ist, nicht ein einziges Mal durch eine Waschstraße.
"Nach dem Abi machte ich etwas, was quasi alle machen: ein Gap-Year. Allerdings sollte es bei mir nicht nach Australien, sondern nach Gladstone, Neuseeland, gehen. Auf einer Farm mit acht Hunden, 200 Rehen und 4.000 Schafen wollte ich als Au-pair arbeiten. Eigentlich alles toll, über eine Sache hatte ich mir vorher allerdings keine Gedanken gemacht: das Autofahren. Meinen Führerschein hatte ich gerade erst vier Wochen, und nun sollte ich das zweijährige Kind der Gasteltern durch die Gegend kutschieren.Aber wie heißt es so schön? Learning by Doing, sagte ich mir. Und so dauerte es nur ein paar Tage, bis ich selbstbewusst mit dem silbernen Kia über Berge und unbefestigte Straßen fuhr. Dem Allradantrieb sei Dank.
Doch dann kam die Sache mit der Waschstraße. Ich fragte mich: Wo muss ich hin? Wie fährt man da rein? Und wieso lernt man das nicht in der Fahrschule? Ich hatte keine Ahnung und half mir, wie sich jede:r gute Erwachsene hilft: Ich atmete tief durch. Der Kassierer gab mir dann einen Bon, den Code tippte ich in einen Automaten ein, und dann ging es schon los: Wasser prasselte, Schaum spritzte, und ein gigantischer Föhn pustete die letzten Tropfen von der Windschutzscheibe. Dazu hörte ich Never Go Back von Dennis Lloyd. Und seitdem weiß ich: Erwachsen sein bedeutet auch, Sachen zu meistern, die einen herausfordern."
Die Bettwäsche
Jonathan Boese
24, war wenige Tage nach dem Wäschekauf zum ersten Mal im Stadion. Bei 1860 München.
"Mein Bett war mir so egal wie der FC Bayern München. Deshalb schlief ich viele Jahre in der Bettwäsche des Vereins: grau kariert, rot-weiß-blaues Logo, 135 × 200 Zentimeter. Ein Geschenk meiner Eltern zum 13. Geburtstag, sie hatten mein Fußball-Desinteresse wohl kurz vergessen. Die Bettwäsche und ich erlebten zusammen den ersten Alkoholrausch, die Übernachtung der ersten Freundin, die erste Nacht im WG-Zimmer. Ich war immer gut zugedeckt vom deutschen Rekordmeister.
Dann wachte ich Mitte Februar 2022 auf, zwei Wochen vor meinem 24. Geburtstag. Ich schlug die Decke zurück und wusste: 'Ich muss den FC Bayern loswerden.' Ich begann eine Ausbildung an der Deutschen Journalistenschule und war nach München gezogen. Es fühlte sich absurd an, in der Bettwäsche zu schlafen, ohne den Namen des Trainers zu kennen.
Um die zeitgemäße Bettwäsche für mein neues Leben zu finden, fuhr ich ins Möbelhaus hinter der Stadtgrenze. Für die Entscheidung brauchte ich nur wenige Sekunden: weiß, Baumwolle, Ikea-Standard. Es war für mich wie ein Neuanfang. Mit der Bettwäsche und Kerzen unterm Arm fuhr ich in meine WG und fühlte mich irgendwie erwachsen. Ich bezog die Laken und Kissen, und plötzlich war da so viel Raum für Gedanken. Ich fragte mich: Wer werde ich wohl sein? Auf jeden Fall auch weiterhin kein Bayern-Fan."
Das Partytaxi
Gerrit Nickel
23, studiert Wirtschaftswissenschaften in Frankfurt am Main und feiert dort regelmäßig.
"Bei uns im Schwarzwald, wo ich aufgewachsen bin, ist es so: Wer feiern gehen und sich groß fühlen möchte, muss auf Dorfpartys tanzen. Als ich mit 16 Jahren das erste Mal auf so einer Party war, dachte ich: Jetzt bin ich erwachsen. Aber einige Stunden später war da die große Frage: Wie soll ich wieder nach Hause kommen? Es gab ja keinen öffentlichen Nahverkehr nach Mitternacht, und ein Taxi war unbezahlbar. Also musste ich meine Eltern fragen. Bei diesem Gedanken verlor ich das Gefühl des Erwachsenseins auch gleich wieder.
Jahre später, ich hatte gerade den Führerschein gemacht und lernte fürs Abi, fragte mich meine kleine Schwester, ob ich sie zu einer Party fahren könne. Obwohl auch viele aus meinem Jahrgang dort sein würden, hatte ich keine Lust auf Saufen in der Sporthalle. Ich wollte lieber Fußball schauen und auf dem Sofa abhängen. Und sagte ihr zu.
Auf dem Weg zur Party dröhnte Don’t Stop Me Now von Queen aus den Boxen, die Fenster des Audi A4 waren runtergekurbelt, und meine Schwester brüllte: '’Cause I’m having a good time!' Auf der Rückbank saßen ihre drei Freundinnen in ihren sorgfältig ausgewählten Partyoutfits und wippten im Takt mit. Ich fühlte mich nicht erwachsen, weil ich trinken und tanzen ging, sondern weil ich das nicht tat. Ich war nun ihr Fahrer."
Das Kind
Josy Pleissner
24, empfiehlt allen Müttern, auf das schönste Gefühl zu vertrauen: das Bauchgefühl.
"Ich dachte, ich habe viel Zeit, mich darauf vorzubereiten, Mutter zu werden: neun Monate. Ich ging zum Geburtsvorbereitungskurs, sprach mit der Hebamme, stellte Fragen, trotzdem blieb vieles unklar. Die ersten Wehen kamen zwei Wochen früher als errechnet, als mein Freund und ich noch dabei waren, im zukünftigen Kinderzimmer Sockelleisten zu kleben und Regale an die Wand zu schrauben.
Im Krankenhaus, nach der Geburt, hatte ich dann zum ersten Mal dieses Gefühl: Krass, da ist jetzt ein Kind, 48 Zentimeter groß und 2700 Gramm schwer, mein Sohn. Auf einmal musste ich so viele Entscheidungen treffen. Wie er heißen soll, war aber schon lange vor seiner Geburt klar. Ich habe ihn nach meinem verstorbenen Vater benannt: Thomas. Als wir nach drei Tagen das Krankenhaus verließen, wurde mir klar, es wird noch viele weitere Entscheidungen geben, die deutlich schwerer sein werden.
Das war eine große Verantwortung, aber auch ein wunderschönes Gefühl. Ich hatte viele Fragen: Wie funktioniert das mit dem Kindergeld? Was ziehe ich dem Baby an? Wann muss es zum Arzt? Ich bin Krankenschwester und sollte das wissen, aber trotzdem habe ich – und dazu rate ich niemandem – natürlich alles gegoogelt. Inzwischen ist mein Sohn Thomas noch kein halbes Jahr alt, aber er hat mich schon jetzt nicht nur erwachsener, sondern auch glücklicher gemacht."
Der Umzug
Kilian Hütt
27, würde bei seinem nächsten Umzug wieder Freund:innen um Hilfe bitten.
"Bisher verliefen meine Umzüge so: Ich rief ein paar Freund:innen an und bestach sie mit Familienpizza und Bier nach getaner Arbeit. Dann bot mir meine jetzige Chefin vor zwei Jahren meinen ersten Job als Tierarzt an. Sogar die Kosten für den Umzug von München nach Bergisch Gladbach wollte sie übernehmen. Ich dachte: Wow, so läuft das jetzt, und sagte sofort zu.
Das Umzugsunternehmen hätte sogar die Kisten gepackt, aber das wollten meine Freundin und ich selbst machen. Ich fand es zu intim, Fremde meine Aktenordner, Bücher oder Unterhosen einpacken zu lassen.
Am Umzugstag, einem Tag im März 2020, als in Bayern der Lockdown ausgerufen wurde, standen dann zwei kräftige Männer um die vierzig vor unserer Wohnung. Ihnen sagte ich, welche Kisten wir sofort bräuchten (Küche) und welche erst später (Bücher). Mehr musste ich nicht tun. Den Rest übernahmen die Möbelpacker, die alles in vier Stunden herunterschleppten. Und danach die knapp 600 Kilometer in den Nordwesten fuhren.
Einen Tag später schrieb ich meine letzte Online-Klausur. Das fühlte sich, anders als sonst, irgendwie leicht an. Der baldige Abschluss, der erste richtige Job, das neue Leben und vor allem ein Umzug, ohne Freund:innen fragen zu müssen. Ich dachte: So fühlt sich Selbstständigkeit an."
Die Altersvorsorge
Moritz*
24, investiert jetzt in ETFs. Sein Sparkonto hat er trotzdem nicht gekündigt.
"Vielleicht war es die Langeweile, vielleicht auch die Ruhe, die dazu führte, sich endlich mit dem Grundsätzlichen auseinanderzusetzen: Im zweiten Corona-Lockdown begann ich das erste Mal so richtig darüber nachzudenken, ob mein Geld im Alter reichen würde.
Ich komme aus einer mittelständischen Familie. Meine Großeltern arbeiteten ihr Leben lang. Und trotzdem reichen ihre Renten gerade so. Ich wusste: Irgendwann muss ich anfangen, fürs Alter vorzusorgen. Bislang bedeutete das, dass ein paar Tausend Euro auf einem Konto rumlagen, das mir keine Zinsen brachte. Um daran etwas zu ändern, ließ ich mir vom YouTuber 'Finanzfluss' erklären, wie man ein breit gestreutes ETF-Portfolio aufbauen könnte.
Ich überlegte eine Woche, dann entschied ich mich für den Online-Broker Trade Republic. Die Warnungen der App, dass das Handeln an der Börse mit großen Risiken verbunden sei, ignorierte ich. Anfangs ging es ja nur um einige Hundert Euro. Mittlerweile ist das anders, ich kenne die Risiken und investiere möglichst sicher, unter anderem in den MSCI World, einen breit gestreuten ETF. So wie es mir auch der YouTuber empfohlen hatte. Für mein Alter fühle ich mich mit meinen 15.000 Euro zwar immer noch nicht abgesichert, erwachsener geworden bin ich dafür schon. Denn: Ich habe endlich angefangen, mich zu kümmern."
* Möchte seinen Nachnamen für sich behalten, er ist der Redaktion bekannt.
Die Steuererklärung
Sarah Dietz
28, lebt in Regensburg und war nie wieder bei einer Finanzberatung.
"Die Steuererklärung machen, das war für mich immer so eine Papa-Sache. Und das, obwohl ich schon im Studium wusste, dass ich damit Geld sparen könnte.
Einmal, mit Anfang zwanzig, ging ich sogar zu einem kostenlosen Steuerseminar. In einem grauen Konferenzraum erklärte mir und etwa 15 anderen Studierenden ein Finanzberater im Anzug zwischen Keksen und Werbekugelschreibern den sogenannten Verlustvortrag. Also wie man Kosten, die etwa im Masterstudium entstehen, von der später mal zu zahlenden Steuer absetzen könne. Für alles Weitere sollte man ein Gespräch vereinbaren – und zahlen.
Also versuchte ich es lieber allein. Mein Vater hatte eine Steuersoftware und sagte: 'Gib einfach deine Daten ein.' Damit hatte er zwar recht, aber ich war überfordert und schob die Steuererklärung erst mal beiseite.
Und dann, mit 24 Jahren, kam im November 2019 meine erste Gehaltsabrechnung: Am Ende des folgenden Jahres tippte ich alle Daten von meiner Lohnsteuerbescheinigung in die WISO-Steuersoftware. Das Programm setzte automatisch Pauschalen fürs Pendeln und für Fachliteratur an. Alles dauerte nur ein paar Minuten. Wenig später kam ein Brief per Post, der Absender war das Finanzamt. Ich bekam mehr als 1.000 Euro erstattet. Das Anmeldezertifikat für die Steuersoftware liegt noch auf meinem Desktop: Es war meine Eintrittskarte zum Erwachsenwerden."
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