Beziehung zu den Eltern: Für immer Kind?
- Christoph Farkas und Theresa Tröndle
Wie du es schaffst, dich von deinen Eltern zu lösen und ihnen trotzdem nah zu bleiben.
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Die Beziehung zu den Eltern ist die erste Beziehung unseres Lebens und oft die komplizierteste. Während wir als Kinder aufwachsen und selbstständiger werden, verwandeln sich die Eltern alle paar Jahre: von Beschützer:innen und Held:innen zu Langweiler:innen und irgendwann vielleicht zu Vertrauten. Damit wir nicht in der Rolle des Kindes stecken bleiben und es noch mit Mitte 20 bei manchen Besuchen scheppert, wenn man am Wochenende später vom Feiern heimkommt als angekündigt, müssen wir und unsere Eltern alte Rollen verabschieden. Wir müssen uns voneinander lösen, um dann anders wieder zueinander zu finden. Das war schon immer so, und doch scheint es heute schwerer denn je.
Denn das Verhältnis zwischen Kindern und Eltern ist fantastisch. Neun von zehn jungen Menschen sagen in der aktuellen "Shell Jugendstudie", dass sie sich gut mit ihren Eltern verstehen. Fast jede:r zweite zwischen 12 und 25 Jahren beschreibt das Verhältnis sogar als "bestens".
Während frühere Generationen bloß nicht werden wollten wie "die Alten" und ab Ende der Sechzigerjahre gegen alles auf die Straßen gingen, was spießig und einengend war, schreiben Popstars heute Eltern-Hymnen. "Meine Freiheit ist dein Lebenswerk, dir war’s nie der Rede wert", singt Alli Neumann für ihre Mutter. "Du hast dich für mich vergessen, aber ich dich nicht."
2020 wohnten mehr als ein Drittel der Söhne und ein Fünftel der Töchter mit 25 Jahren noch zu Hause. Vielleicht eine Folge der Pandemie und der irren Mieten in manchen Uni-Städten, vielleicht aber auch das Bedürfnis nach Nähe und Orientierung in einer chaotischen Zeit. Wenn vieles um uns herum auseinanderbricht, sind wenigstens Mama und Papa noch da.
Ob im alten Kinderzimmer, ein paar S-Bahn-Stationen oder Hunderte Kilometer entfernt: Viele arbeiten sich mit Anfang 20 oder auch mit Mitte 30 noch daran ab, das Verhältnis zu ihren Eltern neu zu definieren. So wie Gwendolin und Alexander, die davon auf den nächsten Seiten erzählen, zusammen mit ihren Müttern Klara und Natalia.
Wie schafft man es, mit den Eltern verbunden zu bleiben und sich trotzdem von ihnen zu lösen? Und warum ist das überhaupt so wichtig?
Der Abschied
Wie fühlt sich der Auszug von zu Hause an? Gwendolin, 22, und ihre Mutter Klara Kadlec, 44, erzählen.
Gwendolin: Wenn ich meine Mum in neue Freundeskreise mitbringe, werden wir oft für Freundinnen gehalten. Wir haben schon ein verrückt enges Verhältnis, den gleichen Humor, einen ähnlichen Sinn für Ästhetik. Der einzige Unterschied: Ich bin sehr ordentlich, sie ist ziemlich chaotisch.
Klara: Ich bin schon mit Anfang 20 Mutter geworden. Gwenis Vater und ich haben uns früh getrennt. Als sie in den Kindergarten kam, sind wir in unsere Wohnung im Hamburger Schanzenviertel gezogen: Altbau, 90 Quadratmeter, ein Traum. Hier habe ich sie groß werden sehen, vom kleinen Mädchen zur coolen, selbstbewussten Frau. Ich würde sie auch sehr mögen, wenn sie nicht mein Kind wäre.
Gwendolin: Trotzdem war für mich immer klar, dass ich nach dem Abi ausziehen werde. Ich hatte einfach dieses Gefühl, das tun zu müssen. Viele meiner Freund:innen waren fassungslos: "Warum ziehst du bei deiner entspannten Mutter aus, weg aus dieser tollen Wohnung?" Aber ich wollte meinen Alltag selbst hinbekommen. Eigentlich bin ich zweimal ausgezogen: das erste Mal nach dem Abi auf ein altes Segelboot, das ich mir mit Freund:innen gekauft hatte. Damit sind wir von Hamburg bis La Spezia in Italien gefahren. Danach war ich ein paar Monate zu Hause, im Herbst bin ich dann so richtig ausgezogen, für mein Studium, Sonderpädagogik an der Uni Hamburg.
Klara: Ich dachte immer, Gwenis Auszug würde mir leichtfallen. Dann fühlte ich mich überrumpelt, obwohl ja völlig klar war, was passieren würde. Als der Umzug geschafft war, saß ich heartbroken im leeren Auto. Ich wusste: Okay, du fährst jetzt allein nach Hause, und das bleibt auch erst mal so.
Gwendolin: Für mich war der erste Abschied der schwerere. Es lief ab wie im Film. Wir haben uns an der Tür lange umarmt und geweint. Auf dem Weg zur S-Bahn hab ich gemerkt, dass ich eine Ikea-Tasche bei ihr vergessen hatte. Als ich wieder in der Tür stand, haben wir gelacht. In dem Moment wurde mir klar: Okay, wir werden uns eh immer wieder sehen, wir bleiben wir. Wir werden uns weiter lieben und blöde Hundevideos schicken, auch wenn wir nicht mehr zusammenleben.
Klara: Wir schreiben uns fast jeden Tag. Trotzdem vermisse ich unseren Alltag. Frühstück am Sonntag, eine Cola ans Bett bekommen, wenn ich mal verkatert bin, zusammen in Jogginghosen mit Teddi um den Block spazieren. Teddi ist ein kleiner Mischlingshund. Gweni hat ihn mir geschenkt, damit ich jemanden zum Kümmern habe. Ich muss mich erst dran gewöhnen, nur noch für mich einzukaufen. Oft kaufe ich viel zu viel Essen. Das muss ich dann mit ins Büro nehmen und an Kolleg:innen verteilen, damit es alle wird.
Gwendolin: Meine neue WG liegt in Hamburg-Dulsberg, einem etwas abgelegenen Stadtteil mit vielen Plattenbauten. Das Beste ist der Rewe um die Ecke, der hat bis 23 Uhr auf. Die Miete ist günstig, und vielleicht wird der Sommer ja ganz schön. Wenn ich morgens um acht in der Uni sein muss, denke ich manchmal: Wäre ich bei Mama geblieben, hätte ich zu Fuß zur Uni laufen können. Jetzt brauche ich 35 Minuten mit der S-Bahn. Ich vermisse die Abende auf dem Sofa, wo wir uns oft mit einem Weißwein vom Tag erzählt haben. Vielleicht ist es aber auch gut, wenn wir nicht mehr ungefiltert über alles reden. Ich mag es, nicht mehr jede Kleinigkeit absprechen zu müssen, den Einkauf oder wann ich nach Hause komme. Wir treffen uns jetzt ein-, zweimal die Woche, und es kommt mir vor, als wäre unsere Beziehung noch besser geworden. Wir verbringen die Zeit bewusster, kochen Reis mit Pilz-Sahne-Soße, backen Kekse. Mit dem Begriff Loslösung kann ich deshalb nicht viel anfangen. Wozu soll ich mich lösen, wenn wir uns doch mögen?
Klara: Ich glaube, alle Eltern engen ihre Kinder ein, ob mit Liebe oder Erwartungen. Ich versuche, Gweni ein bisschen in Ruhe zu lassen. Sie hat sich angewöhnt, immer zu klingeln, statt einfach den Schlüssel zu benutzen. Ich schau mal, ob mir die Wohnung vielleicht irgendwann zu groß wird. Dann könnte sie hier eine WG aufmachen. Es fühlt sich für mich gerade noch nicht so an, aber ich sage mir: Das ist kein Ende, sondern der Anfang von etwas Neuem.
Die Krise
Wie verändert ein Krieg eine Beziehung? Alexander, 23, engagierte sich. Seine Mutter Natalia Blümel, 54, machte sich Sorgen.
Alexander: Als Russland im Februar 2022 die Ukraine angegriffen hat, hat sich mein Leben komplett verändert und dadurch auch die Beziehung zu meinen Eltern. Meine Mutter ist in Iwano-Frankiwsk aufgewachsen, einer Region im Südwesten der Ukraine. Die Hälfte meiner Familie lebt noch dort. Ich wollte deshalb sofort helfen, veranstaltete in Hamburg mit Kommiliton:innen die erste Demo gegen die russische Invasion und gründete eine Hilfsorganisation. Mein Jura-Studium an der Bucerius Law School in Hamburg habe ich dafür erst mal liegen lassen. Normalerweise telefoniere ich alle zwei Tage mit meinen Eltern. In dieser Zeit haben sie mich fast öfter im Fernsehen oder Radio sprechen hören als am Telefon.
Natalia: Ich kam 1994 nach Deutschland, sechs Jahre später wurde Alexander geboren. Nach dem Überfall Russlands war ich ein paar Tage lang wie gelähmt. Alexander hat so schnell reagiert. Ich war stolz, aber habe mir auch Sorgen gemacht. Manchmal klang er so matt, erzählte, dass er den ganzen Tag nichts gegessen hatte. Von meinen Bedenken habe ich ihm erst mal nichts erzählt, ich wollte ihn nicht zusätzlich belasten.
Alexander: Irgendwann habe ich gemerkt, dass der Krieg nicht so schnell vorbei sein wird, und bin wieder in die Vorlesungen gegangen. In der Zwischenzeit hatte ich noch eine Stelle angenommen, beim ukrainischen Generalkonsulat in Hamburg, der diplomatischen Vertretung in Norddeutschland. Morgens bin ich zum Konsulat gefahren, mittags an die Uni, dann wieder zum Konsulat. Ich habe oft bis ein Uhr nachts gearbeitet und wochenlang nur vier, fünf Stunden geschlafen. Aber ich wusste: Meine Familie in der Ukraine hat Angst um ihr Leben.
Natalia: Einmal hat er von einer Demo aus angerufen und gesagt, dass er angegriffen wurde. Da hatte ich richtig Angst, auch weil ich wusste, dass er alles immer ein bisschen harmloser erzählt, um mich nicht zu beunruhigen. Ich wollte am liebsten sofort die knapp 500 Kilometer von Pößneck in Thüringen, wo wir wohnen, zu ihm nach Hamburg fahren. Aber er hat klar gesagt, dass er das nicht wolle.
Alexander: Ich habe gespürt, dass meine Mutter sich Sorgen macht, und manchmal sicher zu Recht. Aber ich hatte keine Zeit dafür. Ende März 2022 habe ich dann mit der Bachelorarbeit angefangen. Wenn ich ehrlich bin, habe ich gemerkt, dass ich das alles nicht gleichzeitig schaffen kann. In der zweiten Woche bin ich zusammengebrochen: Es war Abend, ich wollte eigentlich noch ein paar Stunden in der Bib arbeiten, bekam aber alle paar Minuten Anrufe von Spender:innen. Auf einmal wurde mir so schlecht, dass ich eine Stunde lang im Innenhof einfach auf dem Boden saß. Ich war so leer. Da habe ich begriffen, dass ich etwas ändern muss. Kurz darauf habe ich meine Eltern angerufen. Ich wusste, niemand versteht mich so gut wie sie.
Natalia: Als er am Telefon sagte, er breche sein Studium ab, war ich erleichtert. Ich habe ja gesehen, gesundheitlich geht das so nicht weiter. Gleichzeitig hatte ich Angst um seine Zukunft. Es klingt konservativ, aber vom Abbrechen halte ich nicht viel. Das habe ich ihm auch beizubringen versucht: Man zieht durch, was man anfängt.
Alexander: Ich konnte verstehen, dass meine Eltern nicht begeistert waren. Sie haben viel Geld in meine Ausbildung gesteckt, erst haben sie ein Internat für Sprachen gezahlt, dann das Studium an einer privaten Hochschule. Ich wollte nicht, dass das umsonst war.
Natalia: Es wäre mir schwergefallen, wenn er wirklich abgebrochen hätte, aber ich hätte das irgendwie akzeptiert. Ich war ja dankbar, dass er mich überhaupt in diese wichtige Entscheidung miteinbezogen hat. Wir haben viele Abende diskutiert, hatten uns manchmal schon entschieden. Bis sich am nächsten Tag wieder Zweifel eingeschlichen haben. Was mir aufgefallen ist: Alexanders Argumente waren auf einmal so stark und erwachsen. Er hat ganz anders gedacht. Vielleicht war das der Moment, in dem ich aufgehört habe, in ihm nur das Kind zu sehen.
Alexander: Die Lösung kam irgendwann von der Uni, sie hat mir angeboten, erst mal zu pausieren. Mein Staatsexamen werde ich auf jeden Fall noch schreiben. Durch den Angriffskrieg habe ich meine Mutter noch mal anders kennengelernt. Sie hat in der Ukraine als Juristin so viel erreicht und musste in Deutschland von vorne anfangen. Aber sie hat sich nie unterkriegen lassen. Sie ist ein Vorbild für mich geworden.
Die Ablösung
Egal, ob man wie Gwendolin nur an den Stadtrand gezogen ist, ob man wie Alexander 500 Kilometer von den Eltern entfernt lebt oder wie Alli wieder zu Hause eingezogen ist, einen entspannten Umgang mit den Eltern zu finden, braucht Zeit.
Die Psychologin Sandra Konrad hat im vergangenen Jahr das Buch Nicht ohne meine Eltern geschrieben. "Mit dem Titel wollte ich klarmachen, dass ablösen nicht heißt, sich von den Eltern zu trennen oder sie weniger zu lieben", sagt sie. "Sondern eine Beziehung auf Augenhöhe zu führen."
Sich von den Eltern zu lösen, gehöre zu einer der schwierigsten Aufgaben unseres Lebens, sagt Konrad. Und eigentlich sei es ein lebenslanger Prozess. Er beginnt kurz nach der Geburt, wenn unsere Nabelschnur durchtrennt wird. Von da an werden wir mit jedem Jahr selbstständiger: Wir lernen zu laufen, übernachten das erste Mal bei einem Freund, fahren mit der Klasse ins Schullandheim. Die erste Liebe, der erste Kuss, der erste Rausch. Der Abstand zu den Eltern wird immer größer. Bis man irgendwann zu den Meilensteinen der Ablösung kommt. Für Sandra Konrad sind das: der Auszug, die finanzielle Unabhängigkeit, die Wahl der Partner:innen und die Entscheidung, ob man eine eigene Familie möchte oder nicht. Einen dieser Meilensteine zu erreichen, bedeutet aber nicht, dass man automatisch abgelöst ist. Wer zum Studium ausgezogen sei, den ersten Job habe oder seine Miete endlich allein zahlen könne, glaube oft, die Eltern hätten wenig mit dem neuen Leben zu tun, sagt Konrad. "Dabei leiden viele auch dann noch unter einer mangelnden Ablösung." Eine Entwicklungspsychologin von der Uni Paderborn hat in Forschungsprojekten herausgefunden, dass sich Kinder heute oft erst mit 45 Jahren auf Augenhöhe mit den Eltern fühlen.
Auch Sandra Konrad sagt: Das Alter habe wenig mit dem Grad der Ablösung zu tun. Noch nicht richtig frei zu sein, zeige sich zum Beispiel daran, wenn man das Gefühl habe, die Träume der Eltern erfüllen zu müssen, und spüre, eigentlich an seinem Leben vorbeizuleben. Wenn man also merke, dass man nur Medizin studiere, weil die Mutter wolle, dass man ihre Praxis übernehme. Oder wenn man sich für BWL entschieden hat, statt die Schreinerausbildung anzufangen, weil die Eltern fürchten, dass man es ohne akademischen Abschluss nicht besser haben würde als sie.
Die Psychologin Sandra Konrad hat 31 Sätze formuliert, mit denen sich testen lässt, ob man noch mit seinen Eltern verstrickt ist. Darunter sind zum Beispiel:
1. In Gegenwart meiner Eltern fühle ich mich oft wie ein kleines Kind.
2. Ich kann meinen Eltern keine Grenzen setzen.
3. Ich habe das Gefühl, mich ständig vor meinen Eltern verteidigen zu müssen.
4. Die Gefühle und Bedürfnisse meiner Eltern sind wichtiger als meine eigenen.
5. Ich treffe keine Entscheidungen, von denen ich weiß, dass sie meinen Eltern missfallen würden.
Wer nur einer Aussage zustimme, könnte noch nicht abgelöst sein, schreibt sie. Und das ist ein Problem. "Wer nicht abgelöst ist, reinszeniert die alten Dramen mit den Eltern in anderen Beziehungen: mit Kolleg:innen, Partner:innen, Freund:innen", sagt Konrad. Wir verschöben die Konflikte unbewusst in andere Beziehungen. Wer als Kind immer direkt nach Schulschluss nach Hause musste, statt sich mit Freund:innen treffen zu dürfen, könne als Erwachsene:r überreagieren, wenn er von der Partnerin gefragt wird: "Wann kommst du nach Hause?"
Sandra Konrad sagt: "Wer nicht abgelöst ist, kann kein selbstbestimmtes Leben führen." Das gelinge erst, wenn man Grenzen ziehe. Wenn man sich so weit befreit habe, dass man seine Bedürfnisse kenne und wisse: Was lehne ich ab? Was verzeihe ich? Was lasse ich los? Und wer bin ich ohne die Erwartungen meiner Eltern?
Der Philosoph Michael Bordt hat viel mit Menschen zu tun, die die Erwartungen der Eltern besonders stark spüren. Am Münchner Institut für Philosophie und Leadership begleitet er unter anderem Familienunternehmen beim Generationswechsel. Er sagt: "Die Kinder versuchen oft, den vermeintlichen Erwartungen der Eltern zu entsprechen, weil sie sich Aufmerksamkeit und Anerkennung versprechen, die sie in der Kindheit vermisst haben." Gleichzeitig hätten sie eine übertriebene Angst davor, ihre Eltern zu enttäuschen. Dabei könne die Enttäuschung eine produktive Kraft sein. Für Kinder in Familienunternehmen, die ihren Weg in der Firma entwickeln wollen. Und für alle anderen, die sich endlich von den Erwartungen der Eltern lösen möchten.
In seinem Buch "Die Kunst, die Eltern zu enttäuschen" erklärt Bordt, wie er das meint. "Der elterliche Blick auf unser Leben ist stark durch Erlebnisse und Erfahrungen geprägt, die sie mit uns hatten, als wir noch Kinder waren." Dabei entwickle sich unsere Persönlichkeit stetig weiter, gerade im Studium, wenn die Eltern viel weniger vom Alltag mitbekommen. Je weiter sich Elternbild und Selbstbild voneinander entfernen, desto wahrscheinlicher seien Konflikte. "Die Eltern zu enttäuschen, heißt, ihnen zu zeigen: Ich bin anders, als ihr denkt", sagt Bordt.
Wer seine Eltern damit konfrontieren möchte, sollte sich auf das Gespräch vorbereiten und sich fragen: Was will ich ihnen sagen? Wie wird es sich für sie anfühlen? Wann sind sie offen dafür? "Im besten Fall können Enttäuschungen zu einer neuen, tieferen Beziehung führen, weil man sich nicht mehr verstellen muss."
Und wer mit den Eltern gut auskomme, sei in den meisten Fällen auch anderen gegenüber ein offenerer, angenehmerer Mensch, sagt der Philosoph. Beziehungsarbeit mit den Eltern ist also auch ein gutes Training für alle anderen Beziehungen: Denn viel schwieriger und nerviger als mit ihnen kann es kaum werden.
Auch für die Psychologin Sandra Konrad ist das ein entscheidender Schritt. "Wirklich erwachsen sind wir erst, wenn wir uns von den Erwartungen befreit haben", sagt sie. Auf dem Weg dorthin kann eine Idee aus der Psychotherapie helfen: Ein Erwachsener kann sich auch nachträglich das geben, was ihm als Kind gefehlt hat. Sandra Konrad nennt das "Nachbeelterung", eine Art Zeitreise, auf der man sich um sein Vergangenheits-Ich kümmert. "Wir gehen dabei in Kontakt mit unseren kindlichen Anteilen und trösten diese so lange, bis sie sich beruhigt haben", sagt sie. Dieser Prozess finde in der Regel in einer Psychotherapie statt. Man begegnet sich dabei selbst und baut eine liebevolle Beziehung zu sich auf. Der Begriff "inneres Kind" mag vielen erst mal fremd erscheinen, sagt Konrad, aber jede:r habe kindliche Anteile in sich. Diese anzunehmen, sei heilsam. Wer sich mit Mitte 20 noch permanent von den Eltern kritisiert fühle, könne seinem inneren Kind beibringen: Du bist okay, so wie du bist. "Im Grunde müssen wir lernen, uns selbst der gute Vater oder die gute Mutter zu sein, die wir damals gebraucht hätten", sagt Konrad. Die Verletzungen, die mit oder durch Eltern entstanden sein können und einen bis heute verfolgen, lassen sich auch dann heilen, wenn die Eltern nicht mehr leben oder wir keinen Kontakt mehr zu ihnen haben. Denn für die "Nachbeelterung" braucht man nur einen Menschen: sich selbst.
Wer sich damit auseinandersetzt, warum manche Dinge in der Kindheit schmerzhaft waren, kann lernen, mit sich nicht mehr so streng zu sein. Und wenn wir liebevoller zu uns sind, können wir liebevoller zu anderen sein – auch zu denen, deren Verhalten uns sonst explodieren lässt.
Wer weiß, dass sich der eigene Vater ein Leben lang vergeblich nach liebenden, anerkennenden Worten seiner Eltern gesehnt hat, der kann besser nachvollziehen, warum sich der Vater heute mit dem Lob schwertut, das man gern von ihm hören würde.
"Wenn es uns gelingt, die Eltern durch eine erwachsenere Brille zu betrachten, nehmen wir mehr Facetten von ihnen wahr und werden ihnen gegenüber oft milder", sagt Psychologin Sandra Konrad.
Dann sind die Eltern zum ersten Mal nicht mehr nur Mutter oder Vater, Beschützerin, Langweiler oder Ratgeberin. Sondern Menschen, die auch mal Kinder waren, die Träume hatten, von ihren Eltern genervt waren und ihren Weg genauso gesucht haben wie wir.
Transparenzhinweis: In einer frühern Version war das Interview mit Alli Neumann eingebettet und es gab einen Verweis darauf.
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