Berufseinstieg junger Leute: 125 Bewerbungen — keine Zusage
- Anne Kokenbrink

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Ob Ingenieur oder Informatiker: Der Berufseinstieg ist für viele Uni-Absolventen gerade schwierig, selbst mit guten Noten und Praxiserfahrung. Wie Bewerber ihre Chancen verbessern können und was Hoffnung macht.
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Tarek hat seit Anfang des Jahres 125 Bewerbungen verschickt. „Es kamen drei Einladungen zum Vorstellungsgespräch, aber die waren leider erfolglos“, sagt er. Tarek, der seinen Nachnamen nicht in der Zeitung lesen möchte, ist 31 Jahre alt und hat seit Januar sein Diplom als Ingenieur in Mechatronik in der Tasche. „Manchmal werde ich depressiv, wenn tagelang nur Absagen reinkommen. Ich frage mich dann schon: Was mache ich falsch?“ Er hat keine „Copy-and-Paste“-Anschreiben verschickt, sondern sich immer Mühe gegeben. Auch sein Lebenslauf kann sich sehen lassen: Studium an einer renommierten Technischen Universität, solide Noten, mehrere Jahre als Werkstudent in der Entwicklungsabteilung eines Industrieunternehmens, dazu Praktika. Und doch zieht sich die Bewerbungsphase hin. Den meisten seiner Kommilitonen gehe es ähnlich, sagt er.
Tareks Erfahrung ist längst kein Einzelfall mehr. Für viele junge Akademiker gestaltet sich der Berufseinstieg derzeit schwierig. Die Bundesagentur für Arbeit bestätigt das mit Zahlen: Im vergangenen Jahr waren knapp 39.000 Akademiker unter 30 Jahren arbeitslos, 25 Prozent mehr als im Vorjahr. Damit ist die Arbeitslosigkeit in dieser Gruppe fast dreimal so stark gestiegen wie die Quote insgesamt. Zwar liegt die Arbeitslosenquote derzeit noch niedrig, doch die Zahl der Suchenden wächst, und die Suche dauert länger. Parallel dazu sank das Stellenangebot für „hochkomplexe Tätigkeiten“, für die ein Studium erforderlich ist, 2024 um zwölf Prozent und damit stärker als das allgemeine Angebot. Menschen mit Berufsausbildung hatten zuletzt bessere Chancen als solche mit abgeschlossenen Studium.
Diese Entwicklung steht im Widerspruch zum Bild des „Arbeitnehmermarktes“ sowie dem viel diskutierten Fachkräftemangel. Doch mit der konjunkturellen Schwäche hat sich die Lage eingetrübt. „Konjunkturbedingt gibt es einen deutlichen Rückgang der Stellenausschreibungen für den Berufseinstieg von Hochschulabsolventen“, sagt Axel Plünnecke vom Institut der deutschen Wirtschaft Köln (IW). Besonders betroffen seien Berufe aus den Bereichen Mathematik, Ingenieurwesen, Naturwissenschaften und Technik. Die sehr guten Einstiegsaussichten von 2022 in den Ingenieur- und Informatikberufen haben sich inzwischen deutlich verschlechtert.
Unternehmen besetzen Stellen nicht immer nach
Das hat auch Jannik Lassen erlebt. Der Sechsundzwanzigjährige hat vor wenigen Monaten seinen Master in Informatik an der TU München abgeschlossen. „Ich dachte immer, der Fachkräftemangel würde uns die Jobs nur so zuspülen“, sagt er. Trotz sehr guter Noten erhielt er auf seine rund 25 Bewerbungen oft nur standardisierte Absagen oder gar keine Rückmeldung. Nach einigen erfolglosen Vorstellungsgesprächen fand er schließlich auf Empfehlung eines Freundes eine Stelle. Sonst wäre er „wahrscheinlich immer noch auf der Suche“, sagt er. Gerade in technischen Berufen berichten viele Absolventen von diesen Problemen.
Unternehmen reagieren auf die veränderte Lage, indem sie viele Stellen nicht mehr nachbesetzen. Das berichtet Anna Lüttgen, Bereichsleitung Recruitment bei der Personalberatung Hays. Die Firmen versuchen, mit dem vorhandenen Personal auszukommen, und stellen meist nur noch ein, wenn es um Spezialwissen geht, das intern fehlt. Dieses Wissen bringen jedoch eher erfahrene Bewerber mit, nicht die Uni-Absolventen. Werkstudentenjobs oder Praktika gelten kaum als „echte Berufserfahrung“. „Viele Unternehmen suchen Leute mit mindestens drei Jahren Berufserfahrung, selbst für Junior-Positionen“, bestätigt auch Tarek.
Eine weitere naheliegende Vermutung: Einsteigertätigkeiten werden zunehmend von Künstlicher Intelligenz (KI) übernommen, daher braucht es weniger Berufseinsteiger. Laut dem Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) gibt es dafür bislang keine statistische Evidenz, auch wenn KI schon heute manche Aufgaben problemlos erledigen kann. Tendenzen zeigen sich dennoch: Laut einer aktuellen Ifo-Umfrage erwarten rund 27 Prozent der Unternehmen, dass KI in den nächsten fünf Jahren Stellen abbauen wird, in der Industrie sogar knapp 38 Prozent.
„Momentan loten die Unternehmen aus, in welchen Feldern KI Produktivitätsgewinne bringt“, sagt Ifo-Präsident Clemens Fuest. Bis sich das in messbare Effekte auf dem Arbeitsmarkt übersetzt, werde es aber noch ein paar Jahre dauern.
Hier Tipps zur Bewerbung
Konkurrenz um offene Stellen ist groß
Die Konkurrenz um die gesunkene Zahl an offenen Stellen ist indes schon heute groß. „Im Vergleich zu früher bekommen wir heute das Vier- bis Fünffache an Bewerbungen“, sagt Anna Lüttgen von Hays. Besonders betroffen sind Branchen wie die Automobilindustrie, Medien, PR, Teile des Marketings und die Geisteswissenschaften, wie der Bundesverband der Personalmanager berichtet. Zahlen des IAB zeigen, dass der Rückgang offener Stellen im Baugewerbe sowie bei Finanz- und Versicherungsdienstleistungen im ersten Quartal 2025 am größten war. In diesen Branchen hat sich das Stellenangebot im Vergleich zu 2022 etwa halbiert.
Aus einer Erhebung der Personalmarktforschung Index Research geht hervor, dass es für Berufseinsteiger besonders im Vertrieb und Verkauf, aber etwa auch in Organisation und Projektmanagement weniger offene Stellen gab. In den meisten technischen Berufen und unternehmerischen Dienstleistungen bleibe die Nachfrage zwar bestehen, doch auch hier sei oft Berufserfahrung gefragt. Selbst BWL-Absolventen, die auf einen Einstieg bei einer der großen Beratungsgesellschaften hoffen, haben es aktuell schwer. „Wir besetzen etwa 50 bis 70 Stellen im Jahr, bekommen aber s000 bis 10.000 Bewerbungen“, sagt Anja Michael, Personalchefin beim Recruiting-Dienstleister Zvoove. Im Schnitt bewerben sich 100 Kandidaten auf eine Stelle, manchmal bis zu 300.
Verschärft wird die Konkurrenz durch internationale Bewerber. Gerade in der Softwareentwicklung und im Ingenieurwesen ist ihr Anteil gestiegen, berichtet Marcus Rieker vom Bundesverband der Personalmanager. Viele bringen sehr gute Qualifikationen und Erfahrung mit. Für deutsche Absolventen wird es dann schwierig, wenn sie wenig Zusatzkompetenzen vorweisen können.
Bewerber verzichten zum Teil auf Maximalforderungen
Angesichts der Bewerbungsflut setzen viele Unternehmen auf automatisierte Auswahlverfahren. Bei großen Unternehmen laufen viele Bewerbungen erst durch einen Algorithmus, bevor sie einen Menschen erreichen. Das sei zwar effizient, für Bewerber aber oft frustrierend, sagt Anna Lüttgen. Auch Tarek und Jannik Lassen erleben die automatisierten Antworten als unbefriedigend. „Oft kommt zwei Tage nach der Bewerbung eine Standard-Mail. Ich weiß dann nicht mal, ob sie überhaupt gelesen wurde“, sagt Tarek. Seine Bewerbungsunterlagen habe er mehrfach von anderen Leuten lesen lassen, um sie zu verbessern. Geholfen habe das wenig. In einem Fall erfuhr er, dass seine Unterlagen gar nicht erst in der Fachabteilung ankamen, sondern gleich von der KI aussortiert wurden. Jannik Lassen lässt den Feinschliff seiner Bewerbungen von der KI erledigen, empfiehlt aber, nicht alles von der Maschine schreiben zu lassen. „Was zählt, sind bestimmte Schlagwörter im Anschreiben. Wenn die nicht drinstehen, kann es sein, dass man gleich rausgefiltert wird.“
Eine Absage ist aber immer noch besser als gar keine Antwort. Auch das ist Alltag: Tarek erhielt in etwa 35 Fällen gar keine Rückmeldung, bei Jannik waren es rund zehn. Laut dem Bundesverband der Personalmanager ist das „leider immer noch verbreitet“. Einer aktuellen Umfrage der Plattform Stepstone zufolge berichten 64 Prozent der Jobsuchenden, schon einmal von Unternehmen „geghostet“ worden zu sein, also nach der Bewerbung nichts mehr gehört zu haben. Umgekehrt kommt es aber auch vor, dass Bewerber sich im Auswahlverfahren nicht mehr zurückmelden.
Viele Bewerber senken infolge der negativen Erfahrungen ihre Ansprüche, sagt Anna Lüttgen von Hays. Die junge Generation habe lange erlebt, dass Arbeitgeber auf fast alle Forderungen zur Work-Life-Balance eingehen. Heute zähle für sie vor allem Sicherheit. Auch Tarek hat seine Strategie geändert: „Ich bewerbe mich mittlerweile bundesweit, nicht mehr nur in meiner Region“, sagt er. Anfangs habe er nur auf Stellen reagiert, die ihm wirklich Spaß machen würden. Inzwischen wäre er froh, überhaupt etwas zu finden. Beim Gehalt verzichtet er auf Maximalforderungen.
Tipps für den Bewerbungsprozess
Was können Bewerber tun, um ihre Chancen zu verbessern? Personalexperten raten zu einem aussagekräftigen Linkedin-Profil, gezieltem Netzwerken und individuellen Anschreiben statt Massenbewerbungen. „Recruiter auf Linkedin direkt anzuschreiben kann helfen, aber bitte nicht mit einer Massennachricht“, sagt Anja Michael. Zudem lohne es sich, nach Praktika oder Werkstudententätigkeiten zu schauen. Denn auch wenn sie oft nicht als Berufserfahrung gelten – die Übernahmechancen seien nicht schlecht. Eva-Maria Sieland rät, auch bei kleinen und mittelständischen Unternehmen, also auch abseits der großen Konzerne zu suchen. Nicht zuletzt seien Soft Skills wie Selbständigkeit, Problemlösefähigkeit und proaktives Handeln wichtig, sagt Axel Plünnecke. Auch Auslandsaufenthalte, Sprachkenntnisse und digitale Kompetenzen könnten den Ausschlag geben.
Trotz aller Schwierigkeiten gibt es aber auch Hoffnung. „Die aktuelle Schwächephase am Arbeitsmarkt wird nicht ewig andauern“, sagt Plünnecke. Mit den Investitionsprogrammen des Bundes, dem demographischen Wandel und einer sich erholenden Konjunktur würden die Chancen für Berufseinsteiger wieder steigen, erwartet er. Hinzu kommt, dass die Zahl der Studienanfänger seit 2016 stark gesunken ist. Künftig würden also weniger Absolventen auf den Arbeitsmarkt drängen.
Zum Gesamtbild gehört auch, dass nicht alle Bewerber Negativerfahrungen machen. Vieles hängt von der Branche ab. In manchen Sektoren, etwa dem Rechts- und Steuerwesen, Gesundheit, Medizin und Sozialem sowie Wissenschaft und Bildung wuchsen die offenen Stellen zuletzt, wie die Index-Auswertung zeigt. In der öffentlichen Verwaltung gibt es sogar 28 Prozent mehr offene Stellen als vor drei Jahren. Unternehmen mit offenen Stellen waren zuletzt am ehesten größere Betriebe mit mindestens 500 Mitarbeitern.
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