Pro und Contra zum Duzen: "Wollen wir nicht gleich zum Du übergehen?"
- Katharina Heflik und Ursula Kals

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Die Arbeitswelt geht zum Du über. Früher waren es nur die Gewerkschaften, heute herrscht in ganzen Unternehmen eine Duz-Kultur. Gut so? Unsere Autorinnen sind sich uneinig.
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PRO
Der Personalverwalter tut es, die Filialleiterin tut es, der grüne Vizekanzler tut es: Sie duzen, sie haben sich einer Distanz gegenüber ihren Kolleginnen und Kollegen entledigt, von der sie ohnehin wissen, ihr nicht durch ein kleines Wort gerecht werden zu können. Das steife "Sie" hat ausgedient, und das ist zeitgemäß und ganz richtig so. Nichts könnte so unpassend für das Jahr 2022 sein wie die krampfhafte Aufrechterhaltung einer vermeintlich höflichen Distanz, die sich mit dem Entstehen von Facebook und später Instagram längst ins Metaversum verpixelt hat. "Guten Morgen"-Storys und "Mal etwas Persönliches"-Tweets haben dieses förmliche Abstandhalten zu einer Einstellung degradiert, für die sich allenfalls noch im Sinne größerer Hygiene argumentieren lässt.
Trotz zwei Jahren des sozialen Distanzierens waren wir uns nie so nah, wie wir es jetzt sind – und es wird noch enger werden. Die sozialen Netzwerke sind der öffentliche Raum, in dem wir uns bewegen, und hier wird gestritten, geschimpft, geteilt und Gemeinschaft gebildet. Revolutionen wurden über Organisation via Facebook getragen (Arabischer Frühling), Politik auf Twitter gemacht (Trump) und Wahlkämpfe auf Tiktok sabotiert (K-Pop-Fans). Mit unzähligen Zoom-Konferenzen aus dem Homeoffice, in denen Wand-Tattoos, schiefe Bücherregale und die restlichen unansehnlichen Wahrheiten des Privaten radikal im Arbeitskontext enttarnt wurden, hat sich die letzte Lücke zwischen Arbeit und Privat, zwischen Sie und Du geschlossen. Wie will man behaupten, noch irgendeine Distanz zum Gegenüber wahren zu können, wenn wir uns doch alle nach spätestens der ersten Begegnung – mitunter sogar noch während dieser Begegnung – gegenseitig googeln. Dagegen wird auch das kleine Wörtchen "Sie" nicht ankommen.
Dieses "Sie" wurde seit jeher damit aufgeladen, Werte zu repräsentieren. Diese Werte können allerdings auch ohne eine steife Anrede Bestand haben. Um die vermeintliche Bedeutung des "Sie" aufrechtzuerhalten, muss das arme "Du" als Antagonist herhalten. So gilt es zuweilen als ein auf Brüskierung ausgelegter Angriff, bestehend aus zwei Buchstaben. Ein Affront, eine Unverschämtheit am Konferenztisch, die ihresgleichen sucht. Was für ein Missverständnis! Es ist nämlich ganz anders.
Die wohl sympathischsten Worte
"Wir duzen uns hier alle" – das sind die wohl sympathischsten Worte, mit denen man an einem neuen Arbeitsplatz empfangen werden kann. Sie strahlen die Bereitschaft aus, Neuankömmlinge nicht als solche zu positionieren, sondern sie sofort ins Team einzubeziehen. Die Abwesenheit des "Sie" bedeutet dabei natürlich nicht die Aberkennung aller Hierarchien, wie dessen Verfechter zuweilen befürchten. Um die muss man sich keine Sorgen machen. Gegenseitiger Respekt ist nämlich nicht von einer einzigen Silbe abhängig. Und schon gar nicht kann diese die Hierarchien im Büro zu Fall bringen. Das wäre ein fragiles Konstrukt, ließe es sich durch so wenige Buchstaben erschüttern.
Das alles macht es am Anfang so kompliziert: Inzwischen gilt die Verlegenheit, die gegenseitige Ansprache zu klären, als eine der ersten Handlungen am neuen Arbeitsplatz. Dieser Moment, in dem die Frage des Duzens oder Siezens noch offen im Raum steht, ist einer der peinlichsten des Arbeitstages. Er wird eingeläutet mit der gegenseitigen Vorstellung und fortgesetzt von einem vorsichtigen: "Wir duzen uns hier eigentlich alle, ist das okay für" – Pause. Ja, für wen denn nun, "für dich" oder "für Sie"? Begleitet wird dieses Herantasten von nervösem Gestotter und erzwungenem Lachen. Das Höflichkeitstheater endet meist mit einer vehementen Aussprache des eigenen Vornamens und einem laschen Kopfnicken, um die Entscheidung zum Du zu bekräftigen. Ein peinlicher, uneleganter Moment, der allen Beteiligten erspart geblieben wäre, stünde nicht dieses anfängliche "Sie" im Weg. "Wollen wir nicht gleich zum Du übergehen?" ist eine häufig genutzte Floskel, in der gleich deutlich wird: Das "Sie" ist zwischen uns nur eine Übergangsform, die in kürzester Zeit abgeschafft wird – und zwar gemeinsam mit allen anderen Peinlichkeiten der ersten Wochen in einem neuen Beruf.
Wenn der Vorhang aus überflüssigem Anstand gefallen ist und das Siezen die Bühne endlich verlassen hat, wird Ehrlichkeit ihren Auftritt bekommen. Während ein "Da muss ich Ihnen widersprechen" nur ungern über die Lippen geht, hört sich ein klar gesetztes "Ich denke, da liegst du falsch" nach fairer und konstruktiver Kritik an. Wenn der Tanz um die vermeintlich korrekte Anrede wegfällt, ist mehr Platz für produktiven und ehrlichen Austausch. Das kleine Wörtchen "Du" schafft es besser als das steife "Sie", herauszukitzeln, was ansonsten womöglich unausgesprochen bliebe.
Alles in allem klingt das Siezen wie ein Relikt aus Zeiten, in denen die Rolle der Führungskraft oftmals mit der Erhebung über die zu führenden Personen gleichgesetzt wurde. Nachvollziehbar ist das Siezen heute allenfalls noch, wenn Kinder im Spiel sind. Jedenfalls dann, wenn diese in einem Alter sind, in dem Respekt und Höflichkeit plastisch vermittelt werden sollen. Mitarbeiter und Kollegen aber sind keine Kinder. Und respektvoll behandeln lassen sie sich problemlos per Du.
Katharina Heflik ist 24 Jahre alt und mit dem allgegenwärtigen "Du" aufgewachsen.
CONTRA
Gefühlt duzt sich mittlerweile die halbe Berufswelt, in Wirklichkeit sind es rund 24 Prozent. Die Boomer-Generation mit ihrer teils verklemmten beruflichen Sozialisation verabschiedet sich, Jüngere übernehmen, die schon in der Kita ihre Erzieher mit Vornamen angeredet haben. Mit altersgemischten Teams schmückt sich jeder imagegetriebene Arbeitgeber gern. Da trifft Alt und Mittelalt auf Jung und ganz Jung, die Siez- trifft – oder prallt – auf die Duz-Kultur.
Natürlich gibt es erlesene, konservative Milieus, da ist die Duzerei undenkbar, aber das ist ein Sonderfall. Immer häufiger dominiert das Du und damit eine grauenhafte Distanzlosigkeit. Formeller Abstand als Anstand, das funktioniert selbst durch Corona so mittelmäßig. Es ist keine raketenwissenschaftliche Erkenntnis, aber eben wahr: "Du Idiot!" kommt den meisten flotter über die Lippen als "Sie Idiot". Hemmschwellen fallen leichter. Steigt die Anspannung, und das tut sie in krisengebeutelten Zeiten oft, dann schlägt der Ton um. Ein leider klassischer Fall von alltäglichem Rassismus ist gelegentlich in der Bahn oder beim Bäcker zu erleben – wenn erwachsene Kunden mit anderer Hautfarbe frechweg geduzt werden. Zum Glück sind das Ausnahmefälle, und oft schaltet sich ein Kunde ein und verbittet sich diese postkoloniale Unverschämtheit. Es zeigt aber auch: Menschen von 16 Jahren an aufwärts zu siezen hat etwas mit gegenseitiger Achtung und Verständnis von Autoritäten zu tun.
Schrecklich, wenn im Handel oder in manchen Arztpraxen Azubis vor Kunden oder Patienten geduzt und quasi doppelt gedemütigt werden, sobald ein Anfängerfehler unterläuft. Siezen hält auf Abstand, schützt vor zu viel Nähe, die durch das Du künstlich hergestellt wird, obgleich sie nicht existiert, und symbolisiert: Wir arbeiten hier zusammen, wir sind keine Freundesclique, auch wenn wir uns gut verstehen. Wie wohltuend ist es, zwischen privater und beruflicher Welt pendeln zu können und im Kunden keinen Kumpel zu sehen. Warum wertvolles Kulturgut verramschen?
Nicht gut beraten sind gerade junge Frauen, die sich durchsetzen wollen. Glauben Sie denn im Ernst, es würde leichter, sich in Old- oder Young-Boys-Klubs Respekt zu verschaffen, wenn Sie sich von allen vom ersten Tag an Leonie oder Ayla nennen lassen? Ein Karriereturbo ist das nicht. Das Duzen täuscht oft eine Pseudolockerheit vor. Auch in einer Generation, die gerne betont, ein freundschaftliches Verhältnis zu den Eltern zu pflegen, gefällt es noch lange nicht jedem, Kollegen zu duzen, die so alt sind wie die eigene Mutter oder der eigene Vater. Erkennbar ist das an verschwurbelten Wendungen, um bloß nicht die Abteilungsleiterin mit Monika anreden zu müssen. Extrovertierte Menschen mögen damit keinerlei Problem haben. Aber muss ein eher introvertierter oder schüchterner Mensch sich diesem Gruppenzwang beugen? Und wenn er es nicht tut und als Einziger im Team auf dem Sie beharrt, in die Außenseiterschublade geraten? Das ist eine Form der Diskriminierung.
Schrecklich, diese oberflächlichen Trophäensammler
Natürlich gibt es Ausnahmen. Stichwort Start-up. Ein ausschließlich junges Team, das sich sozusagen organisch weiterentwickelt, warum sollen sie sich siezen? Wäre auch künstlich. Aber meist sind das nur kurze Episoden in einem langen Berufsleben. Boomer wissen das, Berufseinsteiger noch nicht. Schwierig wird das, wenn Neue dazustoßen, wo die Chemie so überhaupt nicht passt, oder – auch eine hübsche Variante – eine oder einer zum Chef aufsteigt. Der Krampf ist programmiert: Stolz, plötzlich so nah an der Macht zu sein, trompetet der Teamkumpel in offizieller Runde: "Lukas, was ich dir noch sagen wollte ..." Aber Lukas ist das nicht recht, weil er zu sehr damit beschäftigt ist, sich in seine neue Führungsrolle einzufinden. Soll er sich in seiner ersten Amtshandlung zum Gespött machen und den anderen das Du entziehen? Sag Du von jetzt an Sie zu mir!
Schrecklich sind auch all die oberflächlichen Trophäensammler, die sich brüsten, möglichst viele Menschen zu duzen. Die könnten mal kurz innehalten und diejenigen beobachten, die die Karriereleiter so richtig erklimmen – das sind nämlich selten Duzfreunde, sondern Menschen, die ihren Freundeskreis aus Schul- oder Studienjahren pflegen und sich mit anderen lieber siezen. Vertrauen und Sympathie müssen wachsen und lassen sich nicht auf Knopfdruck herstellen.
Die Duzer haben prominente Vorbilder: Im schwedischen Möbelhaus muss geduzt werden, und im Club-Urlaub sind mit dem Überstreifen des Bändchens sowieso alle eins – vom 14-jährigen Surfer bis zur ergrauten Bingospielerin. Komm, Nico, du bist heute im Team Elvira! Solche Konfrontationen lassen sich vermeiden. Aber wer, um Himmels willen, hat den Fernsehmoderatoren eingeflüstert, es wäre lässig, "Hallo, Claus in Washington" oder "Guten Abend, Silvia in Kiew" zu dröhnen? Spielen wir jetzt CNN? Glaubt wirklich einer der Senderverantwortlichen, damit streamende junge Menschen fürs Fernsehen zu gewinnen? Lasst das Gekumpele einfach weg!
Früher war bei Weitem nicht alles besser, aber so ein Blödsinn undenkbar. Nein, keiner will die "Fräulein, bitte zum Diktat"–Prügelstrafen-Welt zurück. Aber an guten Gepflogenheiten festzuhalten ist ungemein entspannend, statt ungefragt von Krethi und Plethi geduzt zu werden. Mitunter ist es herrlich, ein Spießer zu sein. Oder so zu wirken. Duzen kann eine Illusion sein.
Ursula Kals ist 57 Jahre alt. Seit den frühen Neunzigerjahren arbeitet sie in einer Siez-Kultur.
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