Aktive Arbeitsplätze: Immer in Bewegung
- Felicitas Witte

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Schreibtischfahrräder, Laufbänder, Sitzbälle und andere aktive Arbeitsgeräte liegen im Trend. Was bringen solche Tricks, um das gesundheitsschädliche Dauersitzen zu vermeiden?
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"Sitzen ist das neue Rauchen" – so schrieben einschlägige Medien vor einigen Jahren. Hintergrund waren diverse Studien aus den vergangenen 20 Jahren gewesen, die gezeigt hatten, wie schädlich Sitzen für die Gesundheit ist. Wer viel sitzt, muss Auswirkungen für die Muskulatur befürchten; sie kann sich verkürzen, was zu Rücken- und Nackenschmerzen führt. Vielsitzer haben demnach zudem ein höheres Risiko für Herz-Kreislauf-Krankheiten, Krebs und Diabetes, und sie sterben möglicherweise vorzeitig. Nur mit viel Bewegung – also zum Beispiel 60 bis 75 Minuten pro Tag Radeln in der Ebene oder strammes Spazierengehen – kann man das erhöhte Risiko kompensieren.
Menschen sitzen jeden Tag zu lange, und in den vergangenen Jahren ist das Problem immer gravierender geworden, wie Forscher von der Universität in Madrid vor zwei Jahren zeigten. Der Anteil der Personen, die täglich mehr als viereinhalb Stunden, ohne aufzustehen, sitzen – das wird als kritische Schwelle betrachtet für ein erhöhtes Herz-Kreislauf-Risiko –, stieg demnach von 2002 bis 2017 in fast allen Ländern an. Im Jahr 2017 gehörten in Deutschland 57,2 Prozent der Männer und 50,2 Prozent der Frauen zu solchen Dauersitzern. "Ich fürchte, im Homeoffice sitzen die Menschen jetzt noch mehr", sagt Thomas Lüscher, Professor für Kardiologie im Imperial College in London. Das Sitzen zu unterbrechen könne sich auszahlen: Menschen, die weniger saßen, hatten in Studien bessere Stoffwechselwerte als die Dauersitzer, was auf ein langfristig verringertes gesundheitliches Risiko weist.
"Früher dachten wir, das ständige Sitzen ist nur für den Rücken schlecht", sagt Pavel Dietz, Sportwissenschaftler im Institut für Arbeits-, Sozial- und Umweltmedizin in der Uniklinik Mainz. "Als dann die Studien über die weiteren Nachteile des ständigen Sitzens rauskamen, wurde in arbeitsmedizinischen Fort- und Weiterbildungen immer mehr darauf hingewiesen, dass es nicht nur für den Rücken wichtig ist, das Sitzen zu unterbrechen, sondern auch, um chronische Krankheiten zu vermeiden." Offenbar mit Erfolg: Gemäß einer Forsa-Umfrage im Auftrag der Techniker Krankenkasse von 2016 gab damals jeder vierte der 1.210 Befragten an, in seinem Betrieb würden Besprechungen im Stehen stattfinden. Manche schwören eher auf die dicken runden Sitzbälle, andere wackeln auf Swopper-Hockern vor ihrem Schreibtisch oder schaukeln auf Kniehockern – all das, um "dynamisch" und nicht wie festgeklebt zu sitzen. Manche kaufen oder basteln sich Steh-Sitz-Schreibtische. Dabei setzt man quasi einen Tisch auf einen Tisch, einer dient zum Arbeiten im Sitzen und einer zum Arbeiten im Stehen. Gerade im Corona-Homeoffice haben solche Lösungen unerwartete Popularität erlangt; teilweise wurden die selbst ausgedachten Konstruktionen stolz in den sozialen Medien gezeigt.
Der Blutdruck sinkt – die Arbeitsgeschwindigkeit auch
Ein relativ neuer Trend sind Schreibtischfahrräder oder Schreibtisch-Laufbänder. Die Räder – auch Deskbike genannt – sehen aus wie Fahrradergometer ohne Lenker. Es gibt Versionen mit und ohne integrierte Arbeitsplatte, letztere schiebt man einfach unter einen normalen Arbeitsplatz. Auch bei den Laufbändern fehlt der übliche Vorbau mit Haltegriffen und Display, sie gibt es ebenfalls "nackt" oder in Kombination mit einem Schreibtisch. Man geht ungefähr mit einer Geschwindigkeit zwischen 1,6 und 2,5 Kilometern pro Stunde, manchmal auch bis zu 3,2 km/h schnell – das entspricht langsamem Gehen. Die aktiven Arbeitsplätze sind nicht billig: Einen guten Steh-Sitz-Schreibtisch gibt es ab hundert Euro, für Schreibtischfahrräder muss man einige Hundert und für ein stabiles Laufband mehr als 1.000 Euro investieren.
So viel Bewegung hält gesund
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Lohnt sich das Geld? "Natürlich sind solche Geräte keine Garantie, dass man nicht krank wird", sagt Jens Bucksch, Professor für Prävention und Gesundheitsförderung in der pädagogischen Hochschule Heidelberg. "Aber sie können ein Mosaikstein sein zu einem gesünderen Leben." Inzwischen gibt es auch einige Studien, die die gesundheitlichen Effekte solcher "aktiven Arbeitsplätze" untersucht haben. Radeln am Schreibtischfahrrad oder Gehen auf dem Laufband erhöhte den Energieumsatz der Probanden, senkte ihren Blutdruck und verbesserte die Blutzuckerwerte – all das können Hinweise sein, dass die Betroffenen fitter werden und ihr Risiko für chronische Krankheiten sinkt. Übergewichtige nahmen ab, und ihre Cholesterinwerte bewegten sich in den gesunden Bereich. Personen mit chronischen Rückenschmerzen hatten weniger Beschwerden, wenn sie an einem Steh-Sitz-Schreibtisch arbeiteten. Das Erinnerungsvermögen kann sich mit Laufband und Fahrrad bessern, manche arbeiteten aufmerksamer, und ihnen war nicht so langweilig.
Allerdings kann sich das "unstete Arbeiten" umgekehrt auch negativ auf die Leistung im Job auswirken. So waren Studienteilnehmer mit Laufband oder Schreibtischfahrrad langsamer in Routineaufgaben wie Tippen oder gezielten Mausbewegungen und machten mehr Tippfehler als diejenigen mit Stehtischen. Die Laufband-Arbeitenden schnitten im Schnitt hier noch schlechter ab als die Radelnden. In einer Analyse von 18 Studien mit insgesamt 722 Teilnehmern tippten diejenigen mit Schreibtischfahrrad und Laufband ebenfalls langsamer und machten mehr Fehler, und auch hier betraf das mehr die Laufband-Geher. Dies scheint aber nicht an einer durch die Bewegung gestörten Hirnfunktion zu liegen, etwa weil es kompliziert ist, gleichzeitig eine grobe Bewegung wie das Radeln oder Gehen und eine feine wie das Tippen auszuführen. In standardisierten Hirnfunktionstests schnitten die Teilnehmer nämlich genauso gut ab wie solche, die im Sitzen arbeiteten. Möglicherweise habe es damit zu tun, diskutieren die Autoren, dass die Personen die Geräte und das gleichzeitige Sichbewegen und Arbeiten nicht gewohnt waren. Mit Übung kann es aber gelingen, zwei gleichzeitig durchgeführte, voneinander unabhängige Bewegungen zu verinnerlichen. "Schnelligkeit und Genauigkeit beim Tippen könnten sich also mit zunehmender Benutzung der Geräte wieder bessern", spekuliert Bucksch.
Unnatürliche Bewegungsabläufe führen zu Überlastungsreaktionen
Er fände es gut, wenn mehr Unternehmen "bewegte" Arbeitsplätze anbieten würden. "Aber es darf sich niemand gezwungen fühlen, das dann auch zu nutzen." Er warnt zudem davor, die Studien überzuinterpretieren. In der Tat gibt es diverse Faktoren, die die Ergebnisse verzerren könnten. So ist zum Beispiel nicht auszuschließen, dass jemand, der an einer Studie teilnahm und neuerdings radelte oder auf dem Laufband ging, sich auch sonst gesundheitsbewusster verhielt und mehr Sport trieb, sich deshalb Blutdruck und Zuckerstoffwechsel verbesserten und er mehr Kalorien verbrauchte. Und vielleicht waren manche Probanden aufmerksamer, weil sie zufällig ausgeschlafener waren, oder machten mehr Fehler, weil sie übermüdet waren. Das erklärt, warum es immer wieder Studien gibt, die keinen Einfluss auf Blutdruck oder Stoffwechsel zeigten oder bei denen sich das radelnde oder gehende Arbeiten nicht negativ auf die Arbeitsleistung auswirkte. Abgesehen davon gibt es insgesamt noch nicht so viele Studien zum Nutzen von aktiven Arbeitsplätzen, und meist wurden relativ wenige Teilnehmer eingeschlossen. Auch wurden die Geräte mitunter nur unter "Laborbedingungen" getestet und nicht im wirklichen Leben. Um wirklich sagen zu können, dass und welchen Effekt die Geräte haben, müsste man Tausende von Teilnehmern in großen Studien und in der "realen Bürowelt" über längere Zeit untersuchen.
Immerhin scheinen Schreibtischfahrrad und Laufband ungefährlich zu sein. In der Fachliteratur finden sich keine Berichte über schwere Unfälle oder Verletzungen, nur von Muskelschmerzen ist in manchen Studien die Rede. "Problematisch könnte das gleichzeitige Bewegen und die Arbeit am Schreibtisch sein, auf die sich die Person ja als Erstes konzentriert", sagt Yannic Bangert, Leiter des Bereichs Sportorthopädie und -traumatologie in der Uniklinik Heidelberg. "Dadurch könnte es sowohl auf dem Fahrrad als auch auf dem Laufband zu unnatürlichen Bewegungsabläufen und als Folge zu Überlastungsreaktionen kommen."
Am ehesten seien das dann Sehnenreizungen, etwa der Achillessehne, oder Rückenschmerzen durch Fehlbelastung oder Fehlhaltung. "Im Extremfall kann man sich natürlich auch die Knochen brechen oder sich einen Bänderriss zuziehen, wenn man von Rad oder Laufband stürzt. Aber das halte ich für sehr unwahrscheinlich." Trotzdem hat er ein paar Tipps, um Unfälle zu vermeiden. Erstens: Fahrrad oder Laufband nicht zu schnell einstellen. Zweitens: Nicht dauerhaft aufs Rad oder Laufband – das vermeidet Überlastung. Drittens: Gut sitzende Turnschuhe, um sich nicht am Fuß zu verletzen. Viertens: Drahtloses Headset, damit man nicht über das Kabel stolpert. Fünftens: Genügend Platz um das Laufband herum lassen und es nur betreten, wenn es in Ruhe ist – "selbst die besten Experten fallen mal runter".
Auch eine Besprechung im anderen Gebäudetrakt bringt schon etwas
Einige Länder haben in ihren Empfehlungen für Bewegung und Bewegungsförderung inzwischen das Sitzen thematisiert und wie wichtig es ist, das ständige Sitzen zu vermeiden. Schreibtischfahrrad und Laufband könnten hier sehr hilfreich sein, sagt Sportwissenschaftler Pavel Dietz. "Als Arbeitgeber und auch als Privatmensch würde ich aber kritisch überlegen, ob sich die Investition lohnt." Die Euphorie mag am Anfang groß sein, aber will man wirklich jahrelang vor dem Computer radeln oder gehen? Oder steht nachher das teure Gerät in der Ecke und verstaubt? "Viel wichtiger, als aktive Arbeitsplätze zur Verfügung zu stellen, ist es, dass Arbeitgeber diverse Anreize anbieten, damit die Beschäftigten das Sitzen gerne unterbrechen", sagt Dietz. "Alles ist gut, was Lust macht, ab und zu mal aufzustehen." Das könne zum Beispiel eine gute Espressomaschine sein, die die Mitarbeiter einlädt, sich ab und zu einen Kaffee zu holen. Funktionieren können auch einfache kleine Regeln. Etwa, die Mitarbeiter anzuhalten, möglichst keine E-Mails an die Kollegen im gleichen Gebäude zu schreiben, sondern Absprachen mit ihnen persönlich zu treffen. Für Teamtreffen lässt sich oft auch ein Besprechungsraum in einem anderen Gebäude(teil) finden, zu dem alle erst ein paar Minuten hingehen müssen.
Auch jeder einzelne Beschäftigte könne etwas tun. Etwa, sich den Wecker alle zwei Stunden auf dem Handy stellen, beim Klingeln aufstehen und fünf Minuten Gymnastik machen. Oder sich einen Sitzball ins Büro stellen und jede Stunde aufstehen und Bürostuhl gegen Sitzball tauschen. Das seien alles gute Tipps, sagt Kardiologe Lüscher, man dürfe aber die anderen Risikofaktoren nicht außer Acht lassen. "Wenn man nach der Arbeit raucht wie ein Schlot, keinen Sport macht und übergewichtig ist, bringen Stehtisch, Deskbike oder Laufband wenig."
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