Masterarbeit: 23 Semester
- Katharina Meyer zu Eppendorf
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Unsere Autorin studierte in Regelstudienzeit. Doch vor dem Abschluss kam ihr einiges dazwischen. Wie sie es schaffte, sich aufzuraffen, die letzte Arbeit zu schreiben.

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Schwerpunkt der aktuellen Ausgabe: Lernen ohne Stress
Ich hatte vergessen, wie viel Kraft es kostet, den Autor eines 30-seitigen wissenschaftlichen Textes zu verstehen und ihn dann auch noch richtig zu zitieren. Doch jetzt musste ich da durch. Jetzt schrieb ich im mondänen Grimm-Zentrum mit Blick auf den Berliner Fernsehturm das, was ich mehr als vier Jahre aufgeschoben hatte: meine Masterarbeit. Wie war ich hier nur gelandet?
1. Ich habe meine Studium geliebt
Alles begann vor zwölf Jahren in Marburg an der Lahn: eine Stadt mit vielen Gässchen und viel Fachwerk, über der das prächtige Landgrafenschloss thront und in der man der Legende nach erst wirklich angekommen ist, wenn man im Delirium, einer Kneipe, einen Rostigen Nagel getrunken hat, einen Schnaps aus Ingwer, Rum und Tabasco.
Ach, Marburg.
Ich war 20, als ich mich an der Philipps-Universität einschrieb, um Politikwissenschaft im Bachelor zu studieren, ich nahm ein Jahr später noch Vergleichende Kultur- und Religionswissenschaft dazu. Fünf Jahre später hatte ich in beiden Fächern meinen Bachelor gemacht und schaffte es endlich in den Master, in dessen Seminare ich mich schon im ersten Semester verknallt hatte: Friedens- und Konfliktforschung, kurz FuK.
In FuK lernte ich nicht nur, wie viele Definitionen es von "Gewalt" und "Frieden" gibt. Ich lernte auch, dass eigentlich in jedem Konflikt Macht- und Verteilungsverhältnisse ausgehandelt werden und sich Gruppen nicht nur um Geld und Land streiten können, sondern auch um Anerkennung. Wer spricht? Wer wird gehört? Wem glauben wir? Diese Dinge.
Ich hatte das vorher immer für eine pathetische Floskel gehalten, aber ich kann es nicht anders sagen: Das Studium erweiterte meinen Horizont, ja, meinen Blick auf die Welt.
Anders als viele Kommiliton:innen wollte ich aber nicht in der Wissenschaft bleiben oder als Entwicklungshelferin arbeiten. Ich wusste schon zu Abi-Zeiten: Ich will Journalistin werden. Und weil es dafür oft ein bisschen egal ist, was man studiert, verbrachte ich meine Semesterferien lieber in Redaktionen statt bei der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit in Subsahara-Afrika und bewarb mich schon im vorletzten Mastersemester an der Henri-Nannen-Journalistenschule in Hamburg.
Die Plätze an solchen Schulen sind begehrt, in meinem Jahrgang bewarben sich mehrere Hundert junge Menschen auf 16 Plätze. Deshalb war nach meiner Zusage am 28. Juli 2017 sofort klar: Mit der Masterarbeit wird es erstmal nichts, in fünf Monaten werde ich Marburg verlassen. Was tat ich bis dahin? Noch eine schöne, entspannte Reise machen, wie es uns der zukünftige Schulleiter empfohlen hatte? Nee. Ich wollte lieber noch alle verbliebenen Module strebermäßig wegstudieren.
Dann, so dachte ich, könnte ich die Masterarbeit nach der Ausbildung nachholen. Wie schwer könnte das schon werden? Außerdem wünschte sich das meine Großmutter so sehr. Sie hatte in der DDR als OP-Schwester gearbeitet, obwohl sie lieber Medizin studiert hätte. Bis heute ist sie überzeugt, dass Aufstieg vor allem durch Bildung möglich ist. Und für sie gehört nun mal ein abgeschlossenes Studium dazu. So richtig, mit Masterarbeit.
2. Ich lernte die geilen Skills
Viele Dinge, die ich an der Journalistenschule lernte, hätte ich schon an der Uni gern gekonnt: Kurze Sätze schreiben, konkret erzählen oder die Google-Suche richtig benutzen. Wie viele Hausarbeiten wären mir leichter gefallen, wenn ich den Suchbefehl "filetype:pdf" oder das Internetarchiv archive.org gekannt hätte? Egal, zurück an die Uni wollte ich ja ohnehin nicht. Als ich für die Journalistenschule nach Hamburg zog, verbanden mich schon nach einer Woche nur noch zwei Dinge mit meinem Leben als Studentin: die rund 200 Euro Semestergebühren und mein zerfledderter Studierendenausweis.
Ich hätte mich in den vier Jahren danach also locker exmatrikulieren können. Chefredakteur:innen hatten mich nie nach einem Abschluss gefragt. Die Uni verließ ich trotzdem nicht. Irgendwann fragte ich mich: Warum eigentlich? Ich wusste keine richtige Antwort darauf. Da war nur das vage Gefühl, dass es für irgendetwas gut sein würde. Und dass ich das, was ich mit so viel Leidenschaft einmal angefangen hatte, auch beenden wollte. Und spätestens seit Jean-Paul Sartre wissen wir ja: Keine Entscheidung ist eben auch immer eine Entscheidung.
3. Ich ergriff meine Chance
Wie man sieht, bin ich also ein Fan von Lebensweisheiten, auch wenn manche wie "Die Zeit heilt alle Wunden" ziemlich einfach sind. Aber viele machen mir Mut: "Auch der beschissenste Tag hat nur 24 Stunden" zum Beispiel. Meine Definition von Optimismus ist, dass sich die richtigen Dinge schon ergeben. Und dass die Kunst eigentlich nur darin liegt, diese Momente auch zu erkennen.
Mir ging es so im Sommer 2020. Ich hatte mittlerweile einen Job als Redakteurin bei ZEIT Campus, den ich nur wenige Monate nach der Journalistenschule bekommen hatte und fuhr mit einer Kollegin nach Hanau. Dort wollte ich recherchieren, wie die Stadt mit dem rassistischen Attentat des 19. Februar umgeht. Eine Frage, die auch als Friedens- und Konfliktforscherin spannend ist.
In Hanau kam mir der Gedanke: Könnte ich die Recherche und meine Masterarbeit vielleicht verbinden? Ich schrieb meinem alten Lieblingsprofessor in Marburg, der mir beigebracht hatte, wie unterkomplex die meisten Analysen von Konflikten eigentlich sind. Damals wusste ich noch nicht, dass "unterkomplex" einmal zu meiner Lieblingsabwertung werden sollte.
Er bat mich, ihm ein Exposé zu schicken, doch ich quälte mich damit. Das Thema war zwar da, aber die konkrete Fragestellung fehlte noch. Dann aber recherchierten wir weiter und verfolgten das, was einer der Angehörigen der Opfer in einem Nebensatz beim Çay erwähnt hatte: Die Stadt wollte ein Mahnmal für die getöteten Menschen bauen.
Das erinnerte mich an ein Seminar in Marburg. In einem Planspiel hatten wir versucht, den fiktiven, von einem Bürgerkrieg zerstörten Staat Rosanien wieder aufzubauen. Ich gehörte in dem Planspiel einer radikalen Ex-Miliz an, die unbedingt ein Mahnmal errichten wollte und so Streit auslöste. In der späteren Diskussion darüber verstand ich, warum: Unser Mahnmal wollte an den Sieg der einen Bevölkerungsgruppe über die andere erinnern. Ein Affront, wenn man eine gemeinsame, friedliche Zukunft aufbauen möchte. Damals hatte ich gelernt: Erinnerung ist immer politisch, manchmal sogar eine Waffe.
Und so fragten wir uns auch in Hanau: Wie wird man hier mit dem Mahnmal umgehen? Wie läuft der Wettbewerb ab, den die Stadt dafür ausgeschrieben hat? Ich mailte meinem Professor, dass ich dieser Frage journalistisch nachging, sie aber auch gern wissenschaftlich diskutieren würde. Wie erinnert Hanau an rassistische und rechte Gewalt? Mein Professor war einverstanden. In einer E-Mail schrieb er: "Das ist natürlich wirklich eine spannende Entwicklung und unterstreicht die Politisierung von Erinnerung im öffentlichen Raum."
4. Ich war nicht allein
Im Durchschnitt machen Studierende in Deutschland ihren Masterabschluss mit 26 Jahren. Ein gutes Fünftel aber ist älter als 30. Ich war mit 31 Jahren also gar nicht so allein, wie ich lange dachte.
Als ich anfing, über meine Pläne zu sprechen, wurde mir klar, wie vielen es ging wie mir. Da waren zum Beispiel eine Freundin, ein alter Kommilitone und ein Follower auf Instagram. Alle drei sind über 30 und haben ihre Masterarbeiten noch nicht mal angefangen oder bekommen sie nicht fertig, weil ihnen ebenfalls die Arbeit dazwischenkam. Sie verdienen gut und arbeiten in interessanten Jobs, als Journalistin, in einer Stiftung, bei einer Bildungseinrichtung. Sie alle haben vor ihrem Abschluss entschieden, die Theorie hinter sich zu lassen und lieber etwas zu bewegen.
Das Bedürfnis danach ist eigentlich auch ziemlich logisch, wenn man darüber nachdenkt, wie Studieren, vor allem in den Geisteswissenschaften, heute funktioniert. Wer sagt wegen des Masters einen Job ab, wenn er seit dem ersten Bachelor-Semester erzählt bekommt, wie wenig Stellen es für Leute gibt, die sich zwar toll mit Foucault auskennen, die aber keine Ahnung von Programmiersprachen, Recht oder "der Wirtschaft" haben?
Ich schrieb meine Arbeit am Ende trotzdem nicht, weil ich mit dem Abschluss vielleicht eine Gehaltsstufe aufsteigen könnte, wenn ich das richtig verstanden habe. Ich schrieb sie aus akademischem Ehrgeiz und dem leichten Zwang, Dinge zu Ende bringen zu müssen. Das ist deshalb wohl auch der einzige Tipp, den ich Menschen geben würde, die überlegen, ob sie ihr Studium vor der Abschlussarbeit kicken oder doch noch abschließen sollten. Stell dir die Frage: Hast du einen Grund, diese Arbeit zu schreiben, der dich selbst überzeugt?
Wenn ja, dann tu es.
5. Ich machte mir einen Plan
Im Mai 2022 erschien die Reportage über das Mahnmal in der ZEIT. Danach hatte ich, weil ich in Teilzeit arbeite, von Juni bis Ende August frei. Ich entschied, in dieser Zeit nach Berlin zu ziehen, um Abstand zu meinem Alltag zu bekommen, und machte mir wie bei meinen journalistischen Texten einen Schreibplan: Drei Wochen lesen, drei Wochen Theoriekapitel schreiben, sechs Wochen die Theorie auf die Praxis anwenden und wieder schreiben. Danach korrigieren, überarbeiten und drucken, wofür ich noch mal vier Wochen einplante. Außerdem beschloss ich, nie mehr als vier Stunden am Tag zu arbeiten und konsequent die Bibliothek zu verlassen, falls ich mehr auf TikTok hängen sollte als in meiner Literatur.
Ich brauchte ein bisschen, um mich wieder an die wissenschaftliche Sprache zu gewöhnen. Aber mein Plan ging auf, so wie Pläne oft aufgehen, wenn man genug Zeit hat. Denn das ist wohl meine wichtigste und wertvollste Ressource gewesen.
Ende Oktober 2022 hielt ich meine Masterarbeit dann in den Händen, 69 Seiten, gedruckt und gebunden, mit dunkelblauem Hardcover und silberner Prägung. Das Gefühl war bombastisch. Noch besser wurde es, als ich sie im Februar 2023 verteidigte. Ich sprach 30 Minuten mit meinem Prof und bekam eine Note, für die mir meine Oma 200 Euro überwies. Mein Studium war nach 23 Hochschulsemestern endlich vorbei.
Darauf einen Rostigen Nagel.
© ZEIT ONLINE (Zur Original-Version des Artikels)