Arbeitszeiten: 50, 60, 75 Wochenstunden – wer bietet mehr?

Autor*innen
Julia Büttner
Eine Laufende Person, der komplette Oberkörper wurde durch eine Wanduhr ersetzt, die kurz vor 8 Uhr anzeigt.

Die schlechte Nachricht zuerst: Du wirst ein Arbeitssklave sein. Die gute: Es wird dir nicht einmal etwas ausmachen.

Es war einmal in grauer Vorzeit, da hatten Arbeitnehmer um punkt acht im Büro zu sitzen. Dafür ließen sie um fünf den Kuli fallen. Blackberry, Handy, ständige Erreichbarkeit, auch am Wochenende? Undenkbar. Vier-Tage-Woche, Teleheimarbeit, Sauna im Büro? Utopie. Heutzutage arbeiten Hochschulabsolventen in den meisten Branchen eigenverantwortlicher, flexibler – vor allem aber: mehr. Und damit sind die meisten recht glücklich.

Arbeitszeiten von 75 Wochenstunden sind für High Potentials normal

"Der Tag hat 24 Stunden und zur Not nehmen wir noch die Nacht dazu!" lautet eine gern zitierte Beraterweisheit. Tatsächlich sind Arbeitstage mit 10 bis 12, sogar 14 Stunden im Consulting, aber auch in anderen typischen Hochkaräter-Branchen wie dem Investmentbanking oder in den Großkanzleien eher die Regel als die Ausnahme. Vor allem Berufseinsteiger, die sich profilieren wollen, arbeiten oft bis an die Grenze der körperlichen Leistungsfähigkeit. Zum Ausgleich winken fürstliche Gehälter. Doch reicht das aus, um den Wegfall von Freizeit zu kompensieren?

Flexible Arbeitszeiten und mehr Freiraum

An die Stelle von Stechuhr und Stundenzählerei sind Lebensarbeitszeitkonten, Gleitzeit und Vertrauensarbeitszeit getreten. Bei Arbeitgebern wie SAP oder der Würth AG lautet das neue Motto: "Wer wann kommt, ist uns egal – Hauptsache, ihr macht euren Job." Die neue Flexibilität kommt hochqualifizierten Arbeitnehmern meist entgegen, bedeutet sie doch mehr Selbstbestimmung und verhindert frustrierenden Leerlauf. Andererseits ist eben fast immer sehr viel Arbeit da – und die macht sich nicht von selbst.

Früher gehen ist erlaubt – aber nicht gern gesehen

Wer um 16 Uhr nach Hause geht, weil die Arbeit erledigt ist, muss zudem befürchten, vor dem Chef und den Kollegen als Faulenzer dazustehen. "Es gibt wahnsinnig viele Leute, gerade auf den höheren Ebenen, die deutlich mehr als 60 Stunden die Woche arbeiten und 10 Stunden am Tag als okay empfinden. Da stößt man durchaus auf Unverständnis, wenn man mal einen Abend gegen 19 Uhr gehen will, weil man zum Essen verabredet ist." So beschreibt eine Stipendiatin, die lieber anonym bleiben möchte, das Dilemma.

Überstunden sind der Normalfall

Überstunden sind in Deutschland der Normalfall: Die durchschnittliche tatsächliche Arbeitszeit von Vollzeiterwerbstätigen lag 2021 bei 41 Stunden. Diese Zahl ist seit etwa 30 Jahren konstant. Eine kleine Gruppe von Vollzeitarbeitnehmern ohne vertraglich festgelegte Arbeitszeit allerdings kann darüber nur müde lächeln: Diese Gruppe arbeitet im Schnitt sogar 50 Stunden pro Woche. (Studie des DIW Berlin in Zusammenarbeit mit Infratest Sozialforschung). 

In diese Gruppe fallen auch Top-Manager, Anwälte oder Unternehmensberater. Während die vertraglich vereinbarten Arbeitszeiten in Deutschland in der Vergangenheit kontinuierlich gesunken sind, ist die reale Arbeitsbelastung für eine kleine Gruppe hochqualifizierter Arbeitnehmer also außerordentlich hoch.

Führungskräfte haben die längsten Arbeitszeiten

Vor allem Führungskräfte arbeiten in Deutschland unter Hochdruck: Vier von fünf Managern arbeiten mehr als 50 Stunden pro Woche. Das ist das Ergebnis der aktuellen "Work-Life-Balance"-Studie, die die Managementberatung Kienbaum in Kooperation mit dem Harvard Businessmanager erarbeitete. Die Hälfte der Führungskräfte mit einem Jahresgehalt von mehr als 200.000 Euro hat eine 60- bis 70-Stunden-Woche. Das ist sogar länger als in den USA. 96 Prozent der Befragten arbeiten auch am Wochenende, 85 Prozent stellten eine deutliche Zunahme der Arbeitsbelastung in den vergangenen fünf Jahren fest.

Je höher die Qualifikation, desto mehr Überstunden

Das Klischee vom Chef, der die Füße auf den Schreibtisch legt und seine Mitarbeiter die Arbeit machen lässt, ist also falsch: Je qualifizierter der Arbeitnehmer, desto höher ist auch die wöchentliche Mehrarbeit. Führungskräfte mit vertraglich festgeschriebenen Arbeitszeiten leisten knapp zehn Überstunden pro Woche. Bezahlt bekommen sie die meist nicht – je höher die Qualifikation, desto öfter werden Überstunden ohne finanziellen oder Freizeitausgleich geleistet. Trostpflaster: Wer mehr arbeitet, verdient meist auch mehr. "Die Arbeitsbelastung steigt fast linear mit dem Gehalt", beobachtet Walter Jochmann von Kienbaum Management Consultants.

Arbeitszeit – ein Fetisch?

Die wöchentliche Arbeitzeit eignet sich daher durchaus dazu, ein wenig mit ihr zu kokettieren. Während der Recherchen zu ihrem Buch "Gestatten: Elite" hat die Journalistin Julia Friedrichs sich bei jungen Arbeitnehmern umgehört. Ihr Fazit: "In Gesprächen bekomme ich den Eindruck, dass die Wochenarbeitszeit in der Welt des Wirtschaftsnachwuchses ein Fetisch ist, der fast noch mehr zählt als das dicke Auto oder die schöne Wohnung."

Der Begriff Work-Life-Balance suggeriert, dass "Arbeit" und "Leben" Gegensätze sind. Doch wir verbringen einen wesentlichen Teil des Tages mit unserer Arbeit. Gerade für Menschen, die sich stark im Job engagieren, sind die beruflichen Aufgaben Teil ihres Lebensinhalts. Ihre Bewältigung verschafft Befriedigung, Anerkennung, Erfolgserlebnisse – und sogar Glücksmomente.

Investition in sich selbst

"Dass Beschäftigte mit anspruchsvollen Tätigkeiten vergleichsweise lange arbeiten, könnte daran liegen, dass sie sich stärker als die unteren Einkommensgruppen mit ihrer Arbeit identifizieren und die längeren Arbeitszeiten – zu Recht – als eine Investition in ihr Humankapital ansehen." So formuliert es die DIW-Studie recht vorsichtig. Die Zufriedenheit mit der eigenen Arbeit ist laut Studie in den oberen Qualifikationsgruppen deutlich größer als in den unteren. Wer mehr verdient und länger arbeitet, so das wenig überraschende Fazit, bei dem hat der Job auch einen höheren Stellenwert – und umgekehrt.

Adrenalinkick durch Arbeit

Diese Erkenntnisse decken sich mit den Ergebnissen der schon zitierten Work-Life-Balance-Studie. Trotz der außergewöhnlichen Belastung empfinden vier Fünftel aller deutschen Führungskräfte die erhöhte Arbeitsbelastung als herausfordernd oder gar als normal. Ganze 95 Prozent betonen, dass ihnen ihr Job Spaß mache. Viele der Befragten berichten davon, dass ihnen extreme Leistungen einen Adrenalinkick verschaffen. Das Phänomen hat sogar einen Namen: "Flow".

Flow: Motivation und Konzentration im Einklang

Der Flow-Zustand wurde erstmals von dem ungarischen Psychologen Mihaly Csikszentmihalyi beschrieben. Ursprünglich wurde der Begriff nur auf die Momente zwischen Angst und Euphorie angewandt, die manche Extremsportler bei der Bewältigung großer Herausforderungen erreichen. Inzwischen bezeichnet Flow einen Schaffensrausch, in dem Konzentration und Motivation in idealer Weise zusammenwirken. 

Menschen, die im Flow arbeiten, gehen völlig in ihrer Tätigkeit auf, vergessen Zeit und Umgebung, sind ganz Handeln – und fühlen sich dabei glücklich. "Mir macht die Arbeit viel mehr Spaß, wenn ich Termindruck habe und weiß, dass das, was ich gerade tue, wichtig und sinnvoll ist. Da vergesse ich gern alles andere und sage auch mal die eine oder andere Verabredung ab", beschreibt ein Stipendiat diesen Zustand. Wer im Flow arbeitet, ist nicht nur glücklicher, sondern auch wesentlich produktiver als der Kollege, der keinen Flow empfindet.
Glücksgefühle am häufigsten bei der Arbeit

Befragt man Menschen, wann sie sich besonders glücklich fühlen, nennen sie meist Freizeitaktivitäten. Untersuchungen, bei denen die Probanden gebeten wurden, sich immer dann, wenn sie sich glücklich fühlten, eine Notiz zu machen, zeigten, dass das gar nicht stimmt: Die meisten Glücksmomente treten bei der Arbeit auf. Nur ist einem das in der Rückschau oft gar nicht bewusst.

Nur noch ein Jahr...

Die Sache hat allerdings einen Haken: Flow kann süchtig machen. Ergebnis ist der Workaholic, dessen Sozialleben und Gesundheit unter der extremen Belastung zu leiden beginnen. Auch die befragten Extremjobber aus der Work-Life-Balance-Studie gaben in der Mehrheit an, den Job so nur noch ein paar Jahre machen zu wollen. Unter Studenten, die in die Beratung gehen wollen, hört man oft: Ich mache das zwei, drei Jahre lang, und dann wechsle ich in ein Unternehmen, wo es ruhiger zugeht. Der Wunsch nach erheblich kürzeren Arbeitszeiten ist auch und gerade unter den Höherqualifizierten da – spätestens, wenn die Familienplanung ins Spiel kommt.

Die geregelte Trennung von Beruf und Privatleben ist eine vergleichsweise junge Erfindung. In der vorindustriellen Zeit gab es keine "Freizeit". Ob auf dem Hof, im Haus, oder im Handwerksbetrieb: Zu tun gab es immer etwas. Zu diesem Zustand, so Soziologen, kehren wir zurück. Grund ist die neue Flexibilität und Mobilität. Wer unterwegs oder zu Hause vom Laptop aus arbeitet, am Wochenende schnell noch ein paar E-Mails verschickt und im Urlaub an der Präsentation herumbastelt, bei dem verwischen die Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit.

Vollzeitarbeit macht nicht effektiver

Der Nachteil daran: Wer auch zu Hause immer im Standby-Modus ist, bei dem kommt die Erholung leicht zu kurz. Doch ausgiebige Entspannung ist für die Leistungsfähigkeit entscheidend. Teilzeitkräfte zum Beispiel arbeiten oft genauso effektiv wie Vollzeitarbeitende, weil sie sich aufgrund der längeren Erholungsphasen besser konzentrieren können.
Freizeitmanagement

Wer wenig Freizeit hat, sollte die also genauso ernst nehmen wie seinen Job. Ganz wichtig ist es, bewusst auf Erholungspausen zu achten. Wer bis nach Sonnenuntergang im Büro hockt, sollte sich einen Ruck geben und morgens eine halbe bis ganze Stunde früher aufstehen. Spazieren gehen, Rad fahren, joggen oder schwimmen: Sonnenlicht und frische Luft machen fröhlich, beugen depressiven Verstimmungen vor und verscheuchen die Müdigkeit.

Lange Arbeitszeiten: Kein Problem für diese e-fellows

Mach doch, was du willst

Sport – ohne Druck und Wettkampfcharakter! – ist ein unverzichtbarer Ausgleich. Ansonsten gilt: Erlaubt ist, was Spaß macht. Menschen, die Wandern, Bergsteigen oder Tanzen zu ihren Hobbys zählen, berichten am häufigsten von tief empfundener Entspannung und Freude. Und wie wäre es mit einer Chor-Mitgliedschaft? Es mag merkwürdig klingen, aber Singen löst nachweislich ebenso tiefe Glücksgefühle aus wie Sex oder Essen und stimuliert sogar die körpereigenen Abwehrkräfte.

Ab in die Natur

Auch Naturerlebnisse und gemeinsam mit Freunden verbrachte Zeit werden im Rückblick als besonders wertvoll erlebt und heben noch tagelang die Stimmung. Zeitkiller wie Fernsehen, Computerspiele oder stundenlanges, zielloses Surfen im Internet machen dagegen meist schlapp und passiv und sollten nur ganz kontrolliert genutzt werden – notfalls mit Stoppuhr.

Abschalten lernen

Auch wenn man am Sonntag am liebsten 14 Stunden durchschlafen würde: Es ist für die Erholung entscheidend, dass man einen regelmäßigen Schlafrhythmus beibehält. Anders als das Gehirn liebt unser Körper Routine. Einschlafschwierigkeiten? Darunter leiden viele, die im Job sehr engagiert sind. In Stressmanagement-Seminaren und Entspannungskursen kann man lernen, das Gedankenkarussell einfach mal abzuschalten. Ähnliche Ziele verfolgen Meditationstechniken und Yoga. Einige große Firmen bieten solche Kurse für ihre Mitarbeiter sogar während der Arbeitszeit an. Ansonsten hat das Fitnessstudio um die Ecke sicher etwas Passendes zu bieten.

Jammerer ernst nehmen

Wenn Familienangehörige und Partner sich über zu wenig Aufmerksamkeit beklagen und Freunde sich nicht mehr melden, weil sie davon ausgehen, dass man ohnehin keine Zeit für sie hat, sind das ernstzunehmende Warnzeichen dafür, dass das Sozialleben leidet. Also: Beschwerden nicht als Jammerei abtun, sondern das Gespräch suchen und sich selbst hinterfragen: Ist es wirklich nötig, dass ich so viel arbeite? Oder bleibe ich abends absichtlich länger in der Firma, weil die Kollegen nett sind und mich zu Hause nur der nörgelnde Freund oder die vorwurfsvolle Freundin erwartet? Warum mache ich das alles eigentlich?

Wer so unter Strom steht, dass er nur noch funktioniert, der vergisst oft, innezuhalten und sein Handeln in einem größeren Zusammenhang zu reflektieren. Um sich seiner Motive und Emotionen bewusst zu werden und seelischen Ballast abzuwerfen, gibt es ein altbewährtes Mittel: Tagebuch führen.

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e-fellow Felix (25), Student und Consultant

"Im Schnitt arbeite ich neun bis elf Stunden täglich. Da mir das Spaß macht, ist es mir nicht zu viel. Ich bastle an meinen Websites herum, das ist für mich mein Hobby. Meine Freundin konnte das nicht verstehen. Unter anderem deswegen ist sie jetzt meine Exfreundin.

Es liegt mir, selbstständig zu arbeiten, es macht mir Spaß, mir etwas aufzubauen. Ich musste mir mein Studium selber finanzieren, darum war Geld meine ursprüngliche Motivation. Da wusste ich noch nicht, dass mir die Arbeit so viel Spaß machen würde. Weniger Arbeiten wird sich in Zukunft nicht vermeiden lassen, aber mit sechs Stunden werde ich wohl nie hinkommen. Zu Gunsten eines Familienlebens würde ich das aber schon zurückschrauben. Dieser passive Lebensstil, von 8 bis 16 Uhr zu arbeiten, das liegt mir gar nicht. Arbeit und Hobbys komplett zu trennen, ist nicht mein Fall. Ich will mich mit meiner Arbeit identifizieren, und da hört man automatisch nicht um 17 Uhr auf. Das Fitnessstudio dreimal die Woche ist mein Ausgleich. Ich gucke ab und zu auch Fernsehen, so ist es nicht, aber dann ausgewählte Sachen. Und ich schlafe auch jeden Tag noch sieben bis acht Stunden."

e-fellow Felix (25) arbeitet freiberuflich für die Unternehmensberatung Emrich Consulting. Außerdem entwickelt er eine Plattform für Online-Marketing - und schreibt gleichzeitig ein Buch darüber. Ach ja, nebenher studiert Felix Wirtschaftsrecht an der Uni Siegen.