Sexismus im Medizinstudium: "Behandelt wie Frischfleisch"

Autor*innen
Lisa Kuner
Hand hält Megafon, aus dem Geräusche kommen.

Sexistische Sprüche sind im Medizinstudium an der Tagesordnung - aber das kommt selten heraus und wird noch seltener bestraft.

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Melodische Beats, tanzende Frauen, eine eingängige Melodie - trotzdem merkt man direkt, dass der Song "Lotuseffekt" mehr will, als gut zu unterhalten. Der Text ist gnadenlos. Mit Sprüchen wie "Bist du überall so gut rasiert wie im Gesicht?" oder "Chirurgie ist Männersache" reihen die Sängerinnen Sophie Charlotte Schröder, Ayda Khodabandehlou und Anna Spolanski Ereignisse aneinander, die sie während des Studiums selbst erlebt haben. Die drei Studentinnen aus Jena und Berlin haben den Song für die Medimeisterschaften, ein Festival von Medizinstudierenden, produziert und wollen damit zeigen, wie groß das Problem Sexismus rund ums Medizinstudium ist.

"Eigentlich hat jede Frau, mit der man spricht, schon Sexismus erlebt", erzählt Petra Jung. Die Allgemeinmedizinerin ist an der Universität Freiburg Lehrkoordinatorin für den klinischen Abschnitt des Studiums. Wie genau der Sexismus aussehe, sei unterschiedlich. "Meistens sind es eher dumme Sprüche in der Vorlesung oder in der Klinik."

Ihr und ihren Kolleginnen war aufgefallen, dass immer wieder Studierende von übergriffigen Erlebnissen berichteten, vor allem nach klinischen Abschnitten. Trotzdem wurden solche Vorfälle an keiner Stelle gesammelt dokumentiert. Darum haben Jung und ihre Kolleginnen im vergangenen Jahr das Projekt "Detect" gegründet. Betroffene von Diskriminierung können dort anonym ihre Erlebnisse einreichen. Ein ähnliches Projekt läuft in Hannover unter dem Namen "Say it". Auf der Website von "Detect" kann man eine Auswahl der Einsendungen lesen.

"Anatomie brauchen Sie später am Herd ja sowieso nicht"

Ein Teil der eingesendeten Vorfälle stammt aus Medizinvorlesungen und Seminaren. Überwiegend zielen die Bemerkungen von Dozierenden darauf ab, infrage zu stellen, ob Frauen für die Medizin geeignet sind. Man kann auf der Website beispielsweise nachlesen, dass ein Dozent zu einer Seminargruppe gesagt habe: "Wenn es nach mir ginge, würden Frauen keine Medizinstudienplätze erhalten." Ein Professor äußerte den Einsendungen zufolge: "Die weiblichen Geschöpfe treten mal bitte einen Schritt zurück, damit die Herren besser gucken können. Anatomie brauchen Sie später am Herd ja sowieso nicht."

Der zweite Teil der Sprüche kommt aus dem Umfeld von klinischen Praktika. Den Studentinnen wird vorgeworfen, sich hochschlafen zu wollen, Ärzte bezeichnen sie als "Nachmittagssnacks" oder machen unangebrachte Bemerkungen über ihre Körper. Medizinerin Petra Jung war überrascht davon, was für ein großes Echo die Plattform in kürzester Zeit hervorrief und wie viele Studierende ihre Erfahrungen einschickten. "Detect" ist nicht auf Sexismus beschränkt, sondern soll eigentlich auch andere Diskriminierungsformen wie Rassismus oder Diskriminierung aufgrund von Behinderung miteinbeziehen. Dazu kämen aber kaum Einsendungen, sagt Petra Jung.

Methode "Lotuseffekt"

Sophie Charlotte Schröder, Medizinstudentin in Jena und eine der Sängerinnen in "Lotuseffekt", hat in ihrem Medizinstudium mehrfach Sexismus erlebt. Sie absolviert gerade das praktische Jahr des Medizinstudiums. Sie zähle zwar nicht mit, aber seit sie ihr Medizinstudium 2014 angefangen habe, sei sie in dessen Kontext sicher schon mehr als 30-mal mit sexistischen Sprüchen konfrontiert worden. "Es hat sich jedes Mal scheiße angefühlt", sagt sie. Oftmals sei sie sich hilflos vorgekommen, gerade in der Klinik fühlte sie sich auch allein und überfordert und war nicht schlagfertig genug, etwas zu erwidern. Sie versuchte die Erfahrungen einfach zu überspielen oder ironisch wegzulächeln. Irgendwann habe sie sich dann fast daran gewöhnt. Als bei einem Mittagessen verschiedene Kolleginnen von ihren Erfahrungen erzählten, schreckte sie dann aber doch zusammen. Jede hatte eine andere Geschichte. "Es kann doch nicht sein, dass das alles nicht gemeldet wird", sagt Schröder. Daraus entstanden dann die Idee, sich auch musikalisch einmal diesem Thema zu widmen, und der Song "Lotuseffekt".

Unter einem Lotuseffekt versteht man in der Naturwissenschaft die Fähigkeit von Pflanzen, Wasser an ihrer glatten Oberfläche abperlen zu lassen und damit möglichen Schmutz abzuwaschen. Sophie Charlotte Schröder erklärt, dass auch viele Medizinstudentinnen diese Fähigkeit irgendwann perfektionieren. Ab einem bestimmten Zeitpunkt lasse man alles einfach abprallen, lächle und mache seine Arbeit. Auch sie sei mit der Zeit fast abgestumpft. Das könne aber nicht das Ziel sein. Frauen werden strukturell an vielen Stellen benachteiligt, in der medizinischen Ausbildung führen verschiedene Faktoren dazu, dass die Situation sehr angespannt ist.

Hierarchische Kultur hat Folgen

Zum einen ist die Medizin traditionell besonders hierarchisch aufgebaut. "Es gibt an vielen Stellen noch sehr veraltete Strukturen", sagt Schröder. "Und als Studentin wird man einfach behandelt wie Frischfleisch." Weil die Studierenden sich fühlten, als ob sie am unteren Ende der Nahrungskette stünden, seien sie oft eingeschüchtert und hätten das Gefühl, sich nicht wehren zu können. "Ich war bisher in der Klinik immer das kleinste Licht", erinnert sie sich. "Da traut man sich nicht einfach, nach solchen Vorfällen irgendwas zu machen." Außerdem habe es lang zum guten Ton gehört, im belastenden Klinikalltag derbe Witze zu reißen, als Kompensation für den ganzen Stress. Diese hierarchische Kultur hat Folgen. "Nur die allerwenigsten Vorfälle werden überhaupt gemeldet", sagt Schröder. Stattdessen würden sich Studierende nach sexistischen Übergriffen oft schämen und Fehler bei sich selbst suchen. Selbst wenn sie verbale Übergriffe melden, bringe das oft keine echte Verbesserung.

Sophie Charlotte Schröder hat schon mal einen übergriffigen Spruch beim Vorgesetzten gemeldet. Der nahm den Vorfall aber nicht ernst, sondern wiegelte ab, dass der Kollege das sicher nicht so gemeint habe. "Das schlechte Gefühl hört nicht auf, wenn man Vorfälle meldet." Selbst wenn ein Vorfall ernstgenommen werde, seien die Konsequenzen oft unbefriedigend. Betroffene könnten dann vielleicht die Station wechseln, sonst passiere aber nicht viel.

"Natürlich ist es ein strukturelles Problem, dass Hierarchien in der Medizin so stark ausgeprägt sind", sagt auch Petra Jung von der Universität Freiburg. Sie glaubt, dass es jungen Frauen durchaus reale Karrierechancen verbauen kann, wenn sie sich an den falschen Stellen beschweren. Sie sieht noch einen weiteren Grund, warum die Medizin so einen guten Nährboden für Sexismus bietet. "Der Körper ist oft ein Thema", sagt sie. Konnotationen mit Geschlechtsorganen kämen dabei vor, und gerade die Arbeit in der Klinik sei unter Umständen auch sehr physisch. "In anderen Wissenschaften gibt es das nicht so stark", sagt die Medizinerin.

Sexismus sei aber nicht das einzige strukturelle Problem in der Medizin, findet die Studentin Sophie Charlotte Schröder. Im Klinikalltag gebe es auch an vielen weiteren Stellen nicht genügend Sensibilität für diskriminierendes Verhalten. So würde Menschen mit Suchterkrankungen oder Adipositas oftmals sogar von medizinischem Personal stigmatisiert, und psychische Krankheiten würden oft nicht ernst genommen.

Trotz all der Probleme sieht Petra Jung auch, dass sich schon vieles verbessert hat. Immer mehr Medizinerinnen sind weiblich, 2021 waren 64 Prozent der Medizinstudierenden Frauen. In den Führungspositionen spiegelt sich das aber nur bedingt wider - gerade mal 21 Prozent der Professuren in Humanmedizin und Gesundheitswissenschaften waren 2019 von Frauen besetzt. Langsam ändere sich das, da ist sich Jung sicher. Mehr Frauen in den Führungspositionen könnten dann auch zu einer besseren Arbeitskultur ohne Diskriminierung beitragen. Sexismus sei nicht mehr in. "Jüngere Führungskräfte setzen sich auch aktuell schon für ein besseres Arbeitsumfeld ein", sagt sie.

In Zukunft werde sich noch mehr ändern, aber nicht unbedingt aus moralischen Gründen. "Das ist reine Notwendigkeit. In der Medizin wird jede Arbeitskraft gebraucht, da kann man es sich nicht mehr leisten, Frauen zu vertreiben", meint Petra Jung.

Studentin Sophie Charlotte Schröder wünscht sich, dass Reflexion über Diskriminierung im Studium wichtiger wird. Sie hat auch das Gefühl, dass "Lotuseffekt" ein wenig im Kampf gegen Sexismus in der Medizin bewegt. Sie und ihr Team haben fast nur positive Rückmeldungen darauf erhalten. Außerdem habe die Produktion auch in ihr selbst etwas bewegt. "Ich halte all diesen Sexismus jetzt nicht mehr aus", erzählt sie. Es sei, als ob durch zu viel Schrubben der Schutzfilm um sie herum, der bisher den Lotuseffekt hervorrief, kaputtgegangen ist. Sie versucht sich nun öfter zu wehren, Diskriminierung nicht mehr hinzunehmen. "Sexismus ist nicht normal", sagt sie. Der erste wichtige Schritt sei getan, indem immer mehr Menschen nicht mehr "die Klappe halten", sondern Vorfälle ansprechen.

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