Allgemeinbildung: Was weiß denn ich?

Autor*innen
Astrid Probst
Mensch balanciert auf roter Linie, statt Kopf hat er eine leuchtende Glühbirne

In einer Welt mit Google und ChatGPT stellt sich die Frage: Was muss man heute noch wissen – Dreisatz, Goethe, Kreuzzüge? Wirklich wichtig ist: statistisches Denken.

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Neulich, an einem Sommerabend auf dem Balkon, erzählte eine Freundin von ihrer Forschung an Kristallen, einer davon sei laut ihr besonders leitfähig. Das liege an der Anordnung der Atome, sagte sie. Die sei nämlich besonders gleichmäßig. Und während sie weiter erzählte, kramte ich in meinem Hirn. Anordnung von Atomen. Was heißt das noch mal? Wasser hat Atome. H₂O? Und weiter? Keine Ahnung, wie das aussieht, also in Chemiesprache. Klar habe ich das im Chemieunterricht gelernt, ist halt nur schon mehr als zehn Jahre her.

Später googelte ich. Die Strukturformel von H₂O sieht aus wie ein Dreieck, mit dem O an der Spitze und zwei Hs unten. Es ist mir unangenehm, dass ich das nicht wusste – und gleichzeitig frage ich mich, ob mir das peinlich sein muss. Ich kann nicht alles wissen, und wenn ich was nicht weiß, weiß ich immerhin, wo ich Antworten finde.

In einer Zeit, in der Google innerhalb von durchschnittlich 55 Sekunden Antworten auf fast alle Fragen liefert, in der ChatGPT Texte zaubert, in der die Welt immer komplexer wird, schleicht sich das Gefühl ein, dass man ohnehin nicht mehr mithalten kann. Wissenslücken zu füllen, fühlt sich an, als würde man ein vor Wasser berstendes Fass abdichten wollen – mit Tesafilm. Toll, ein Loch geschlossen – hier ist noch eins und die gestopfte Lücke klafft wieder auf, weil das Wissen schon überholt ist. Denn übrigens: Künstliche Intelligenz kann inzwischen Bilder herstellen, Industrie 4.0 soll die industrielle Produktion revolutionieren und jährlich erscheinen in Deutschland rund 70.000 neue Bücher.

All das passiert, während die meistgestellte Frage auf Google im Jahr 2022 war: "Wie alt ist Putin?" 70. Doch in nur vier Monaten ist das kein aktuelles Wissen mehr, da wird er 71. Vermutlich wäre es sinnvoller, zu lernen, wann er Geburtstag hat (07.10.1952), und im Zweifel nachzurechnen. Expert:innen unterscheiden daher zwischen Wissen und Bildung, also zwischen dem Anhäufen von Wissen und dem Anwenden von Wissen, was zu Kompetenzen und Fähigkeiten führt.

Wir begreifen Allgemeinwissen recht breit: Es ist Schulwissen bis zur zehnten Klasse und alles, was in der Tagespresse vorkommt.
Harald Valder

Also, was ist dran an der Behauptung, dass solche Kompetenzen und Fähigkeiten wichtiger sind als Wissen? Was muss ich wissen, um in dieser Welt überleben zu können? Welches Wissen überlebt den steten Wandel?

An einem Dienstagmorgen erreiche ich Harald Valder. Sein Job ist es, mit 15 Fragen herauszufinden, ob ein Mensch eine gute Allgemeinbildung hat. Für Wer wird Millionär? und andere Quizshows denkt sich seine Firma Fragen und Antworten aus. Seit 1995 macht Valder das. Damals saßen die Quizfragenredakteur:innen zwischen unzähligen Bücherregalen, haben im Brockhaus oder Spezialwissensbüchern geblättert. Was es zu wissen galt, passte in Büroräume. Heute wühlen sie sich durchs Internet.

Trotzdem habe sich an der Art der Fragen oder dem abgefragten Wissen kaum etwas verändert, sagt Valder. Goethe und Schiller, Wissen über Musik und Geschichte blieben. Dazu kamen neue Themenbereiche, vor allem rund ums Digitale. "Wir begreifen Allgemeinwissen recht breit: Es ist Schulwissen bis zur zehnten Klasse und alles, was in der Tagespresse vorkommt – auch Klatsch und Tratsch", sagt Valder am Telefon. Deshalb sitzt da auch mal ein Mathelehrer und verzweifelt wegen einer Frage zur Krönung von Charles III. "Das sind die schönen Momente, wenn Klischees aufbrechen und vermeintlich gebildetere Leute auch nicht weiterwissen", sagt Valder.

Wer in einer dieser Quizshows sitzt, ist aber auch in einer Offline-Version der Welt und kann nur in seinem Hirn googeln. Außerhalb dieser Welt wird es komplizierter. Da prasseln Informationen auf einen ein und immer öfter stellt sich die Frage, wie man mit diesen umgehen soll.

Faustregeln statt Fakten 

Vor Kurzem gingen ein Foto und wenig später ein kollektives Schmunzeln um die Erdkugel. Darauf zu sehen: Papst Franziskus im Puffer Jacket. Franziskus wurde schon als Modepapst gefeiert, bis rauskam: Alles nur ein Fake. Ein KI-Bild. Sicher, man hätte es erkennen können. Sagt sich jetzt im Nachhinein so leicht. Trotzdem leuchteten bei vielen die Alarmlämpchen für die Absurdität dieses papstigen Michelin-Männchens nicht auf.

"Desinformationen kann man erkennen, indem man wie ein Faktenchecker denkt, also kritisch hinterfragt", sagt Gerd Gigerenzer. Er war Direktor des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung und ist wohl das, was man heute einen Gelehrten nennt. Schließlich steht in seinem Wikipedia-Eintrag, dass er als einer der 100 einflussreichsten Denker der Welt gilt.

Damit man nicht auf Fakes reinfällt, brauche man Heuristiken, das bedeutet: Methoden zur Problemlösung, sagt der 75-Jährige am Telefon. "Das sind Faustregeln, die man jedem beibringen kann." Jeder weiß, wie eine Kette aussieht, hat vielleicht eine Vorstellung von den Händen des Papstes und sich schon mal einen Gürtel umgebunden. Deshalb hätte das Alarmlämpchen angehen sollen, denn: Woran baumelt das Kreuz? Warum ist die päpstliche Hand so unförmig? Wo führt der Gürtel hin? Wer heuristisch denke, sagt Gigerenzer, könne herausfinden, welche Texte von KI geschrieben wurden, welche Websites seriös sind und warum Instagram kostenlos ist.

Dass man bei dem Thema Allgemeinbildung noch an klassische Literatur oder Philosophie denkt, hat laut Gigerenzer viel mit der Geschichte von Bildung an sich zu tun. Schließlich gab es in der Antike fast nur theologische Bildung. Da Theologen nun mal Männer waren, verwundert es nicht, dass vor allem sie den Bildungskanon prägten. So führte der Umstand, dass die Bildung der Frau erst im 16. Jahrhundert eingeführt wurde und die oft nur für adelige Familien zugänglich war, zu einem Bildungskanon, der als weiß, männlich und kolonialistisch gilt. Noch immer lernen deutsche Schüler:innen kaum etwas über die koloniale Vergangenheit, etwa über das Massaker an Herero und Nama in Namibia.

Statistisches Denken ist der Schlüssel für sehr vieles.
Gerd Gigerenzer

Die Bedeutung der Fächer sei historisch gewachsen, sagt Gigerenzer. "Erst im 19. Jahrhundert wurde an den Universitäten die Dominanz der Theologie durch die Rechtswissenschaft, Medizin und auch Philosophie beendet – worunter Mathematik und Naturwissenschaften fielen", sagt er. Wobei Mathe und Naturwissenschaften eher vernachlässigt wurden. Geändert hat sich das erst im 20. Jahrhundert. Doch die Verachtung für diese Fächer blieb. "Noch heute sagen Menschen, dass sie in Mathematik nicht gut sind – das wird akzeptiert. Oft ist es sogar cool. Aber niemand sagt, dass er nicht gut lesen kann", sagt Gigerenzer.

Aber ist Mathe büffeln die Lösung, Herr Gigerenzer?

"Statistisches Denken ist der Schlüssel für sehr vieles", sagt er. Wer verstehen will, wie wirksam Impfungen sind, ob der tägliche Apfel den Doktor fernhält oder was die Regenwahrscheinlichkeit bedeutet, muss Studien lesen und bewerten können. Das könne sich jeder Erwachsene beibringen. Doch ein Großteil der Deutschen sei zahlenblind und könne keine Studien oder Statistiken verstehen, sagt Gigerenzer. Auch, weil es in den Schulen kaum gelehrt wird. Da stehen nun mal Sprachen, Geschichte, Deutsch, Erdkunde und Biologie auf dem Lehrplan. Alles durchaus sinnvoll. "Was fehlt, ist die Fähigkeit, kritisch zu denken", sagt Gigerenzer. Also die Fähigkeit, beurteilen zu können, woher Wissen stammt, wie zuverlässig die Quelle ist und ob das, was man da sieht, überhaupt wahr ist oder sein kann.

Trevor Rainbolt ist einer, dem man beim kritischen Denken zusehen kann. Er ist Geoguesser und auf TikTok errät er anhand eines Bildes von einer Straßenecke, wo es aufgenommen wurde. Flache und eckige Gebäude? Klar, Polen. Blaue Straßenschilder? Muss Wien sein. Vieles davon hat er womöglich einfach auswendig gelernt und weiß deshalb, wie Leitpfosten in den jeweiligen Ländern aussehen. Aber weil Rainbolt nicht nur das Land, sondern den genauen Ort erraten will, sind bald die Grenzen des Wissens erreicht. Dann hilft nur die Fähigkeit, unter zahllosen Möglichkeiten die richtige zu finden – Kompetenzen und kritisches Denken in Kombination mit Wissen werden zum Stunt.

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