Depression im Studium: Wenn die Depression mit im Hörsaal sitzt

Autor*innen
Sebastian Blum
Freigestelltes schwarz-weiß-Bild einer bedrückt aussehenden Frau. Der obere Teil ihres Kopfes ist aufgeklappt und im Inneren des Kopfes sind verworrene Linien sichtbar.

Als die Depression ausbricht und ihren Masterabschluss gefährdet, ist Lisa 25. Wie es ihr gelingt, sich aus dem schwarzen Loch herauszukämpfen. 

Alles beginnt mit der Angst, den Hörer abzuheben: Lisa* sitzt als Praktikantin an ihrem Arbeitsplatz und hofft, dass das Telefon an diesem Tag stumm bleibt. Sie scheitert an den einfachsten Aufgaben. Lisa starrt auf ihre Excel-Tabellen – und weiß plötzlich nicht mehr, wie sie die Daten in Word exportiert. "Mich hat es einfach zerbröselt", sagt sie.  

Von Lisas erstem "Aussetzer" bekommt niemand etwas mit: weder die Kollegen im Praktikumsunternehmen noch ihre Familie, Freunde und Kommilitonen. "Am nächsten Tag war ich so souverän wie davor", erinnert sich Lisa. Doch das Schwächegefühl kommt immer wieder. Lisa zeigt es nicht – ebenso wenig wie ihre Erschöpfung und die Selbstzweifel, die an ihr nagen. Schließlich hat sie Verpflichtungen: das anspruchsvolle Praktikum, das Stipendium der Konrad Adenauer Stiftung, das ehrenamtliche Engagement an der Uni, ihren Master-Abschluss in International Business Studies.

Lisa ignoriert deshalb die Warnzeichen, die ihr Körper ihr sendet. Sie hofft, dass sich alles wieder normalisiert. Unangenehme Situationen versucht sie, zu überspielen: Bloß nichts anmerken lassen. 

Risikogruppe Studis? 

Mit Situationen, die Betroffene wie Lisa gefühlt überlasten, beginnen Depressionen häufig – so die Stiftung Deutsche Depressionshilfe (SDDH). Weitere vermeintliche Auslöser sind Konflikte, Verlusterlebnisse oder sogar scheinbar positive Veränderungen wie der herbeigesehnte Urlaub oder die Geburt eines Kindes. Ob die Depression wirklich ausbricht, entscheiden laut SDDH jedoch die genetische Veranlagung oder traumatische Kindheitserlebnisse. Die Zahl der Betroffenen ist immens: Schätzungsweise 16 bis 20 von 100 Menschen erkranken laut dem Bundesgesundheitsministerium irgendwann in ihrem Leben mindestens einmal an einer Depression oder einer chronisch depressiven Verstimmung

Akademiker wie Lisa werden häufig depressiv. Laut Barmer-Arztreport 2018 leidet etwa jeder sechste Student an einer psychischen Erkrankung. Die Beratungsstellen der Studentenwerke erleben einen Boom: Im Jahr 2017 zählte das Deutsche Studentenwerk 108.800 Beratungskontakte – im Vergleich zu 2006 ein Plus von 60 Prozent. Den Anstieg begründet das Deutsche Studentenwerk unter anderem mit hohem Prüfungsstress und dem Zeitdruck im Studium. Zählen also Studenten zu den Risikogruppen für eine Depression? 

"Es gibt keinen Hinweis, dass Menschen im Hochleistungsbereich häufiger unter Depressionen leiden", meint SDDH-Vorstandsvorsitzender und Psychiatriefacharzt Ulrich Hegerl. Heutzutage seien Ärzte viel besser geschult und würden eine Depression häufiger diagnostizieren. Dass Studenten heute gefühlt depressiver sind, hat nach Hegerl einen weiteren Grund. Eine Depression gilt nicht mehr als Schwäche, sie ist in unserer Gesellschaft als Erkrankung akzeptiert. Die Folge: "Junge Studierende haben eine größere Bereitschaft, unser Beratungsangebot anzunehmen", sagt auch der Leiter des Psychologischen Beratungs-Services der Uni Oldenburg, Wilfried Schumann.

Depression – Rückzug ins Schneckenhaus               

Lisa verzichtet zunächst auf Beratung. Sich Hilfe zu suchen – das empfindet die 25-Jährige damals als persönliche Niederlage. Doch der Druck wächst: Lisa stellt hohe Ansprüche an ihre Masterarbeit und kämpft um ihr Stipendium. Dann erkrankt auch noch ein Familienmitglied. Lisas Depression verschlimmert sich. Sie bemerkt, wie sie ohne erkennbaren Grund unruhig wird. Immer häufiger zweifelt sie an sich selbst, fühlt sich abgeschlagen, antriebslos. "Das ging so weit, dass ich zwei Stunden gebraucht habe, um mich beim Rausgehen zu entscheiden, ob ich jetzt die rote oder die grüne Jacke anziehe", erzählt Lisa. Die Folge: Sie ist nur noch in den eigenen vier Wände entspannt und zieht sich sozial immer mehr zurück.

Dass Lisa in dieser Zeit Kontakte abbricht, liegt auch daran, dass viele Freunde ihre Erkrankung nicht verstehen. Lisa hört Sätze wie "Mach dir keinen Stress. Du hast doch eh' einen 1er-Abschluss". Oder: "Das ist nur eine Phase, bis jetzt hast du doch auch alles geschafft". Freunde schenken ihr sogar ein Selbsthilfebuch für mehr Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl. "Ich habe mich einfach nur unverstanden gefühlt", sagt Lisa.

So können Angehörige helfen 

Im Rückblick ist Lisa klar, dass die Reaktionen ihrer Freunde vor allem eines waren: ein Zeichen der Hilflosigkeit. "Was eine Depression ist, können Angehörige und Freunde oft verständlicher Weise nicht nachvollziehen", sagt SDDH-Vorstandsvorsitzender Hegerl. "Außenstehende denken an eigene Erlebnisse wie eine nicht bestandene Prüfung, bei denen ihre Stimmung in den Keller ging. Bei einer Depression handelt es sich jedoch um eine schwere Gehirnerkrankung, die die Lebenserwartung um zehn Jahre verkürzen kann."

Familienmitgliedern und Freunden empfiehlt Hegerl deshalb, sich mit einem Ratgeberbuch über das Thema Depression zu informieren. Einblicke bieten online neben der SDDH auch Organisationen wie die Deutsche DepressionsLiga oder die Bundesärztekammer. Für Außenstehende ergeben sich daraus klare Regeln für den Umgang mit dem oder der Erkrankten. Gut gemeinte Ratschläge à la "Reiß dich doch zusammen" sollten Angehörige vermeiden. Vielmehr gilt: "Angehörige sind nicht für die Depression des Betroffenen oder die Heilung verantwortlich", so Hegerl. "Sie sollten dem Erkrankten vielmehr geduldig zur Seite stehen und ihn immer motivieren, die ärztliche Behandlung konsequent durchzuhalten." 

Abschluss mit der Depression

Bis Lisa endlich einen Arzt aufsucht, dauert es ein ganzes Jahr; ein Jahr, in dem sie immer tiefer in eine Abwärtsspirale rutscht: Ihr Stipendium ist abgelaufen, die Master-Thesis droht zu versanden. Wenn Lisa ihren Abschluss retten will, muss sie verlängern. Ihre einzige Chance ist ein ärztliches Gutachten. Über das Gutachten und Gespräche mit einem Psychologen beginnt Lisa eine medikamentöse Behandlung und "rutscht langsam in die Therapie", wie sie rückblickend erzählt. 

Bei der Suche nach einem Therapeuten hilft ihr das Angebot der Kassenärztlichen Vereinigung. Danach folgen Schritte, die Lisa zunächst als Scheitern wahrnimmt, die sich aber rückblickend als richtig erweisen: "Ich bin aus der Studenten-WG zu meinen Eltern zurückgezogen. Hier konnte ich mit der Therapie anfangen. Ich musste mich ganz bewusst aus dem kompetitiven Umfeld der Uni herausnehmen."

Lisa merkt, wie sich ihr Zustand nach und nach bessert – auch weil sie regelmäßig eine Selbsthilfegruppe für junge Menschen mit Depressionen besucht. Um sich finanziell über Wasser zu halten, beginnt sie außerdem zu kellnern. Der Nebenjob ist für sie mehr als ein notwendiges Übel. "Ich bin wieder unter Leute gekommen und habe seit langer Zeit wieder ohne Leistungsdruck gearbeitet." Lisa sammelt positive Bestätigung, die ihr genug Kraft für das Studium gibt. Nach der doppelten Regelstudienzeit schließt sie ihre Masterarbeit ab – und ist einfach glücklich, dass sie das Ruder herumgerissen hat.      

Am eigenen Anspruch verzweifelt

Rückblickend erkennt Lisa die Verhaltensmuster, die sie während des Studiums in die Depression getrieben haben. "Ich habe mich damals ständig neuen Herausforderungen gestellt, die jeden Menschen an seine Grenzen gebracht hätten. Aus dieser Situation heraus ist meine Krankheit entstanden. Durch die Therapie habe ich gelernt, diese Verhaltensmuster zu erkennen und mit ihnen umzugehen." Anderen Studenten, die an einer Depression leiden, rät Lisa deshalb: "Wartet nicht zu lange, bis ihr therapeutische Hilfe in Anspruch nehmt und verurteilt eure Symptome nicht als persönliche Schwäche. Es ist eine soziale Kompetenz und vielmehr ein Zeichen von Stärke, sich Hilfe holen zu können."

Wie kämpfe ich gegen die Depression?

Als Betroffener fühlst du dich oft allein. Depression ist hierzulande jedoch eine Volkskrankheit. Laut SDDH starben 2019 mehr Menschen durch Suizid als durch Drogen, Verkehrsunfälle und HIV zusammen – die Mehrheit der Selbstmorde ist auf eine unzureichend behandelte Depression zurückzuführen. Such dir so schnell wie möglich therapeutische Hilfe! Dein Hausarzt ist in der Regel der erste Ansprechpartner.

Informationen und Hilfe finden du und deine Angehörigen:

  • auf der Webseite der Stiftung Deutsche Depressionshilfe (inklusive Selbsttest)
  • am deutschlandweiten Info-Telefon Depression: 0800 33 44 5 33 (kostenfrei)
  • beim Deutschen Bündnis gegen Depression (bietet konkrete Hilfe vor Ort in mehr als 80 Städten und Regionen)
  • in Selbsthilfegruppen in deiner Nähe des Vermittlungsangebots NAKOS
  • auf der Webseite des Bundesverbands der Angehörigen psychisch erkrankter Menschen, BAPK

*Name von der Redaktion geändert

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