Studieren mit ADHS: Wenig Fokus

Autor*innen
Lisa Kuner
Freigestelltes schwarz-weiß-Bild einer bedrückt aussehenden Frau. Der obere Teil ihres Kopfes ist aufgeklappt und im Inneren des Kopfes sind verworrene Linien sichtbar.

Studieren braucht Aufmerksamkeit. Für Menschen mit AD(H)S ist genau das ein Problem. Lässt sich die Uni schaffen, wenn man sich nur schwer konzentrieren kann?

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Sich aufzuraffen, um zu lernen, fällt Analena Schreiber schwer. Wenn sie es dann geschafft hat, dann scheitert die 25 Jahre alte Studentin oft daran, konzentriert zu arbeiten oder ihren eigenen Zeitplan einzuhalten. Häufig hat sie das an den Rand der Verzweiflung getrieben, zweimal hat Schreiber sogar ein Studium abgebrochen. Ihr wurden Depressionen und eine Angststörung diagnostiziert. Aktuell studiert sie Grundschullehramt in Münster. Obwohl das Studium noch immer eine Herausforderung ist, geht es ihr inzwischen besser. Vor allem, weil Schreiber nun weiß, woher ihre Probleme wirklich kommen, und dass all das nicht einfach an ihrer fehlenden Motivation liegt. Sie hat eine Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (kurz ADHS). ADHS und ADS (Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom) sind psychische Störungen, zu deren Hauptmerkmalen Konzentrationsschwierigkeiten und bei ADHS auch Impulsivität gehören. Rund drei bis vier Prozent der deutschen Bevölkerung leben mit AD(H)S. Während AD(H)S oft als Kinderproblem abgetan wird, ist es für viele auch im Erwachsenenalter nicht einfach, mit der Diagnose umzugehen. Gerade in einem Studium, das viel Selbstdisziplin erfordert, ist der Umgang damit eine Herausforderung.

Marcel Henschel heißt eigentlich anders. Der 26-Jährige möchte seinen vollen Namen nicht in der Zeitung lesen, weil er Angst hat, dass die Diagnose ADHS seinen Berufseinstieg negativ beeinflussen könnte. Er ist inzwischen im Masterstudium an der Uni Köln, die Störung wurde bei ihm schon als Kind diagnostiziert. Er beschreibt sich als "exzentrisch mit einem Energieniveau über der gesunden Norm". Im Studium spüre er sein ADHS vor allem, wenn ihn etwas nicht interessiert. Dann falle es ihm besonders schwer, sich aufzuraffen, gerade längere Texte zu lesen grenze manchmal ans Unmögliche. So hat er fürs Latinum beispielsweise ein Jahr länger als vorgesehen benötigt, und Statistik war ein einziger Kampf. Wenn ihn ein Thema hingegen interessiert, kann er in kurzer Zeit eine enorme Menge an Wissen anhäufen. Außerdem fällt es ihm meist leicht, den Dialog mit Dozierenden zu suchen und nachzufragen oder innovative Lösungen für ein Problem zu suchen.

Wenn das Gehirn gegen dich arbeitet

Hartnäckig hält sich in Bezug auf AD(H)S oft noch das Bild von einem hibbeligen Jungen. In Wahrheit aber sind laut Sarah Kittel-Schneider Mädchen ähnlich oft betroffen, aber etwas seltener hyperaktiv. Kittel-Schneider leitet am Universitätsklinikum Würzburg den Bereich Entwicklungspsychiatrie und forscht unter anderem zu AD(H)S und den Auswirkungen aufs Studium. Dass vor allem Jungs betroffen seien, ist nicht der einzige falsche Mythos rund um die psychische Störung. Auch die Vorstellung, dass sich AD(H)S "auswächst", also nach der Pubertät einfach verschwindet, sei laut Kittel-Schneider nicht richtig. Während rund jeder dritte Betroffene im Erwachsenenalter tatsächlich keine Symptome mehr zeigt, sind etwa zwei Drittel auch als Erwachsene noch beeinträchtigt. "Die Hyperaktivität nimmt ab", erklärt Kittel-Schneider. "Sie wird dann aber oft durch eine innere Unruhe ersetzt." Statt einfach aufzuspringen und herumzurennen, lernen die Betroffenen im Laufe ihres Lebens andere Strategien, beispielsweise das Herumspielen auf dem Handy. Aus ADHS wird bei Erwachsenen also oft ADS. Damit wird die Verhaltensstörung zwar deutlich weniger sichtbar, aber nicht weniger herausfordernd. Hinzu kommt, dass laut der Expertin AD(H)S im Erwachsenenalter noch stark unterdiagnostiziert ist - viele Menschen kämpfen also ohne Therapie damit.

Eine davon war lange Analena Schreiber. "In der Schule hatte ich nie Probleme, ich war eine gute Schülerin", erinnert sie sich. "Aber im Studium bin ich dann irgendwie hängen geblieben." Während in der Schule ein klarer Rahmen vorgegeben war, musste sie sich den im Studium selbst bilden. Das konnte Schreiber nicht. Sie schob Aufgaben auf, immer wieder schafft sie Abgaben nicht. "Fernsehen, Freunde treffen, alles ist wichtiger, als mich zu fokussieren", sagt sie. Mit Prokrastination kämpfen viele Studierende, aber bei Menschen mit AD(H)S ist das Problem extrem. "Ich habe manchmal das Gefühl, dass mein Gehirn gegen mich arbeitet", sagt die Studentin.

Strategien entwickeln

Schreiber wurde erst im vergangenen Jahr klar, dass auf sie viele Symptome der psychischen Störung zutrafen, und sie hat sich professionelle Hilfe in Form von Psychotherapie gesucht. Als sie begann, darüber zu sprechen, stellte sich heraus, dass auch ihre Oma ADHS hatte und ihre Cousine ebenfalls mit der Störung lebt. Das ist typisch, denn ADHS wird oft vererbt. Dass ihre Probleme plötzlich einen Namen hatten, half Analena Schreiber. "Davor hatte ich einfach oft das Gefühl, nicht in die Norm zu passen", sagt sie. "Jetzt weiß ich, was mein Problem ist und dass nichts mit mir falsch ist." Außerdem kann sie jetzt auch gezielt Strategien lernen, um damit besser klarzukommen.

Solche Strategien will Christiane Harmsen vermitteln. Sie ist Beauftragte für Studierende mit Behinderung und chronischer Erkrankung an der Uni Konstanz. "In Bezug auf den Umgang mit Studierenden mit ADHS lernen wir aktuell noch viel dazu", sagt sie. In ihren Beratungen sitzen regelmäßig Studierende mit ADHS, die im Unialltag nicht gut klarkommen. "Das Problem ist dann die Organisation, es sind nicht die Inhalte", beschreibt sie. Die Studierenden erzählen häufig, dass sich das Studium wie ein unüberwindbarer Berg anfühle; oft gelinge es ihnen nicht, zu priorisieren.

Ärztin Sarah Kittel-Schneider betont, dass ADHS manchmal erst im Studium wirklich zum Problem wird. "Einige Leute kommen in der Schule noch zurecht", erzählt sie. Darüber hinaus gibt es noch weitere Bereiche, in denen Menschen mit AD(H)S im Studium Schwierigkeiten bekommen können. "Eine Frage konkret und auf den Punkt zu beantworten, fällt ihnen oft schwer", sagt Kittel-Schneider. Oftmals würden Betroffene dazu neigen, ausschweifende, aber teilweise irrelevante Antworten aufzuschreiben.

Christiane Harmsen von der Uni Konstanz versucht, die Betroffenen zu unterstützen. Ein Ansatz dafür ist ein spezielles Tandemprogramm. Es nennt sich "Studis mit Studis". Darin bekommen Studierende mit AD(H)S oder chronischen Krankheiten einen anderen Studierenden zur Seite gestellt, der ihnen bei der Studienorganisation und im Alltag helfen soll. Damit macht die Uni gute Erfahrungen. Außerdem sei es für Studierende mit AD(H)S besonders wichtig, eine reflektierte und realistische Planung fürs Semester aufzustellen. Dafür sei es sinnvoll, Hilfe in Anspruch zu nehmen. Vonseiten der Uni müsse besonders darauf geachtet werden, klar mit Menschen mit AD(H)S zu kommunizieren.

Für Prüfungen können Studierende mit AD(H)S auch einen sogenannten Nachteilsausgleich beantragen, also eine Maßnahme, die Beeinträchtigungen durch chronische Krankheiten oder Behinderungen kompensieren soll. Bei Menschen mit AD(H)S haben sich beispielsweise das Schreiben von Prüfungen in einem extra Raum oder die Mitnahme von Kopfhörern mit Geräuschunterdrückung bewährt, sagt Harmsen. Student Marcel Henschel bekommt aufgrund des Nachteilsausgleichs in Prüfungen normalerweise eine halbe Stunde länger Zeit - das hilft ihm beispielsweise dabei, Fragen richtig zu erfassen.

Druck bringt nichts

Manche Ansätze sind aber auch eher kontraproduktiv. "Fristverlängerungen sind nicht besonders sinnvoll", erklärt Kittel-Schneider. Menschen mit AD(H)S würden dann einfach weiter aufschieben, statt die Zeit sinnvoll zu nutzen. Dahingegen könne es helfen, wenn Studierenden mit AD(H)S individuelle Beratungsangebote beispielsweise fürs Schreiben von Hausarbeiten in Anspruch nehmen.

Auch die Betroffenen haben inzwischen herausgefunden, was ihnen hilft. "Druck von außen bringt nichts", erzählt Analena Schreiber. Stattdessen hat es sich für sie bewährt, ein paar Kurse weniger zu belegen, damit sie einen besseren Überblick hat und nicht so sehr das Gefühl, dass alles außerhalb ihrer Kontrolle ist. Zum Lernen hilft ihr, sich mit anderen in einer Lerngruppe zu treffen.

Marcel Henschel lernt am liebsten in einem Selbststudiumsraum an der Uni Köln. Das Zimmer hat keine Fenster, wird "Bunker" genannt und ist für viele wahrscheinlich ein Albtraum. Für Henschel ist es genau richtig, weil ihn dort nichts ablenkt. Im Alltag macht er außerdem eine Therapie und nimmt Medikamente. "Die Medikamente helfen mir, das Chaos in meinem Kopf unter Kontrolle zu bringen", erzählt er.

Für Sarah Kittel-Schneider ist auch wichtig, dass die Probleme im Studium für Menschen mit ADHS sich nicht zwingend im Beruf fortsetzen. Denn anders als im Studium müsse man sich dort nicht selbst so viel Struktur geben. In Berufen, in denen Kreativität oder viel soziale Interaktion gefragt ist, seien die Betroffenen oftmals richtig gut.

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