Management: Aus Fehlern gelernt

Autor*innen
Claudia Obmann, Milena Merten und Franziska Telser
Verzweifelter Mann, der in die Knie geht und seine leere Aktentasche als Hut aufsetzt. Im Hintergrund ein Diagramm, das einen Abwärtstrend zeigt.

Spitzenkräfte treffen nicht immer die besten Entscheidungen. Dieses Risiko begleitet Toppositionen. Wie Manager damit umgehen.

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Jeden Tag treffen wir bis zu 20.000 Entscheidungen. "Etwa 90 Prozent davon erfolgen automatisch-intuitiv“, sagt Verena Utikal, Entscheidungswissenschaftlerin der österreichischen Privatuniversität Schloss Seeburg. So etwa, ob wir morgens lieber mit Tee oder Kaffee starten. Das sei eine effiziente Funktion des Gehirns, um uns in einer komplexen Welt schnell handlungsfähig zu machen. Andere Entscheidungen dagegen sind schwerwiegend und wollen wohlüberlegt sein: Wie wir entscheiden, lässt unseren Erfolg oder unsere Karriere gedeihen – oder eben nicht.

Für Unternehmenslenker ist das Thema noch gravierender, nicht zuletzt wegen der oft vielen Optionen und der auf ihnen lastenden Verantwortung für Investoren, Kunden und Beschäftigte. Und Klimakrise, technologischer Wandel oder Handelskriege machen die Wirtschaftswelt immer weniger berechenbar.

Ob nun "aus dem Bauch heraus" oder sorgfältig erwogen – eine Entscheidung kann falsch sein. "Aus Angst vor Fehlern nichts zu riskieren und abzuwarten, ist jedoch keine Option", sagt Peter Brandl. Der Kommunikationsexperte und frühere Berufspilot coacht Top-Führungskräfte zum Thema "Fehlerkultur". Wer nicht aktiv werde, mache sich zum Spielball von Umständen, die außerhalb jeder Kontrolle lägen. Um nicht in der "Opferrolle" zu landen, sei eine falsche Wahl besser als gar keine, behauptet Brandl sogar. Denn: Die Auswirkung einer falschen Wahl "merke ich und kann sie im besten Fall korrigieren. Oder wenigstens daraus lernen." Darum gehe es ja schließlich: Einsichten zu gewinnen und besser zu werden.

Doch gerade in der Unternehmenswelt neige man hierzulande noch immer dazu, Fehler zu sanktionieren. Stehe das berufliche Vorankommen auf dem Spiel, werde daher jeder versuchen, erst gar keine Fehler zu machen, sagt der Management-Berater. Die Folge: Passivität, wenig Innovation, womöglich eine Kultur des Vertuschens. Um dem bewusst entgegenzuwirken, empfiehlt Brandl Chefs und Chefinnen, zu ihren Fehlern zu stehen: "Sie müssen Offenheit und Ehrlichkeit vorleben, um zu dokumentieren, dass das keinen Gesichtsverlust bedeutet." Beim Kulturwandel könnten zudem einige erprobte Instrumente helfen. Fehler-Bulletins, wie sie in der Luftfahrt versandt werden, regelmäßige Retrospektiven wie in IT-Entwicklerteams, was geklappt hat und was nicht. Oder auch sogenannte Fuck-up-Nights, zu denen all diejenigen virtuell oder persönlich eingeladen werden, die vor ähnlichen Herausforderungen stehen. Wichtig sei dabei herauszustellen, was passiert ist, welche Faktoren einen Fehler ermöglicht haben und was sich ändern oder verbessern muss. "Es darf aber nie darum gehen, denjenigen bloßzustellen, dem der Fehler unterlaufen ist", mahnt Brandl. Nur dann entstehe Vertrauen und ein den Lerneffekt vergrößernder Erfahrungsspielraum, der dazu führt, dass Angestellte Experimente wagen.

Irren ist und macht menschlich. Fünf Führungskräfte der Chefetage gehen hier selbstkritisch voran, gewähren öffentlich Einblick in ihre Fehlentscheidungen – und schildern, was sie daraus Wesentliches gelernt haben.

"Cybersicherheit war mir lästig"

Susanna Zapreva Geschäftsführerin Enercity.

"Es war sehr früh morgens, als mich zu Hause die schockierende Nachricht erreichte: Wir waren Opfer eines Hackerangriffs geworden, Erpresser hatten Daten entwendet und unsere gesamte Business-IT lahmgelegt. Die Folge: Wir konnten weder an der Strombörse handeln noch Rechnungen stellen. Zwar versorgten wir unsere Kunden weiter mit Strom und Gas, wussten aber nicht, ob wir zu viel oder zu wenig Energie beschafft hatten. Wir waren beim Ein- und Verkauf blind. Dass uns so etwas einmal passiert, hätte ich nie für möglich gehalten. Ich war darauf nicht vorbereitet, musste aber schnell handeln. Zuerst habe ich entschieden, dass wir mit niemandem außer mit den Behörden darüber sprechen, bis wir verstanden haben, was los ist. Dann standen wir vor der Frage: Verhandeln wir mit den Erpressern? Wir haben entschieden, es nicht zu tun. Aber ich gebe zu, je mehr Zeit verging, desto öfter hatte ich schwache Momente. Doch wir sind standhaft geblieben. Bis unsere IT vollständig wiederhergestellt war, vergingen vier Monate. Wir hatten ein sehr gutes Back-up-System, sodass wir unsere gesamte IT-Struktur nachbauen konnten. Dennoch: Der Schaden belief sich insgesamt auf 20 Millionen Euro – und da ist der entstandene Imageverlust noch nicht mit eingerechnet. Rückblickend habe ich die Gefahr eines Cyberangriffs deutlich unterschätzt. In unserem Risikobericht war das zwar aufgeführt – aber weit hinten, deutlich unterbewertet. Um ehrlich zu sein, war das nie mein Fokus: Ich habe Cybersicherheit als lästig empfunden und nicht in der Tiefe verstanden – das Thema war nicht präsent. Das hat sich seit dem Hackerangriff deutlich geändert: Ich räume der IT generell eine ganz andere Priorität ein, investiere deutlich mehr in Cybersicherheit und lasse jede Software auf ihre Sicherheitsstandards prüfen. Und wenn die IT-Experten mit mir sprechen wollen, bekommen sie sofort einen Termin."

"Disruptive Kraft unterschätzt"

Martin Daum Vorstandschef Daimler Truck.

"Eine Fehleinschätzung gleich zu Beginn meiner Karriere hat mich als Manager sehr geprägt – seitdem ist mir klar, dass wir dazu neigen, die disruptive Kraft von Technologie zu unterschätzen. Eine wichtige Lehre, an die ich mich auch nach 30 Jahren immer wieder erinnere, ob es um E-Fahrzeuge oder generische KI geht. Was war passiert? Damals, die ersten Mobilfunklizenzen wurden gerade versteigert, ging es um eine Geschäftsidee, deren Erfolgsaussichten ich abschätzen sollte. Meine Analyse ergab, dass mindestens zehn Prozent der Menschen in Deutschland ein Handy besitzen müssten, damit sich die Idee rechnet. Ein solcher Verbreitungsgrad war für mich Anfang der 90er-Jahre unvorstellbar. Wer hatte denn bis dahin ein mobiles Telefon? Allenfalls Topmanager und Spitzenpolitiker in ihren Dienstwagen. Ich erinnere mich noch heute mit Grausen daran, wie selbstbewusst ich davon abriet, das Mobilfunkprojekt zu realisieren. Nicht erst als meine drei Kinder alle Handys hatten, war offensichtlich, wie sehr ich mit meiner Einschätzung danebengelegen hatte. Meine Lehre: offener sein für Veränderung. Mich selbst und meine Annahmen immer wieder hinterfragen. Das gilt erst recht an der Unternehmensspitze, wo Widerspruch ohnehin meist gering ausfällt. Zwar konnte ich besagte Geschäftsidee nicht wiederbeleben. Aber ich habe aus dieser frühen Erfahrung meine Führungsphilosophie abgeleitet: Der Fehler ist nicht die falsche Entscheidung an sich, sondern erst das Beharren darauf. Die wichtigste Eigenschaft einer Führungskraft? Aus meiner Sicht ist es der Mut zur 180-Grad-Wende. Also offen zugeben können, wenn man sich geirrt hat, und nachvollziehbare Gründe für den Richtungswechsel liefern. Das ist immens wichtig, um seine Unterstützer nicht zu verlieren. Und klar, allzu häufig sollten gravierende Irrtümer natürlich erst gar nicht passieren."

"Schluss mit falscher Bescheidenheit"

Laura Gersch Allianz-Finanzvorständin.

"In meinen ersten Berufsjahren bin ich davon ausgegangen, dass gute Arbeit ausreicht, um befördert zu werden. Als Beraterin bei McKinsey hatte das auch immer geklappt. Doch nach dem Wechsel zur Allianz fiel mir auf, dass immer mal wieder Positionen besetzt wurden, bei denen ich mich fragte, warum ich dafür eigentlich nicht in Erwägung gezogen wurde. Als 2017 dann die Leitung des Vorstandsbüros unseres CEO Oliver Bäte zu besetzen war, wurde ich gefragt, wer denn intern dafür infrage kommen könnte. Das war für mich damals eine Traumposition. Statt mich aber selbst ins Spiel zu bringen, diskutierte ich mit über andere Kandidaten. Ich habe mich nicht getraut. Es erschien mir vermessen zu sagen, was ich will, und ich dachte, es müsse meinen Vorgesetzten doch auch so auffallen, dass ich qualifiziert für diese Rolle wäre. Dann habe ich eine Fortbildung in den USA besucht. In den Staaten, wo ich auch studiert habe, fühle ich mich immer selbstbewusster – ich empfinde die Stimmung dort insgesamt als viel positiver und mutiger als in Deutschland. Als ich mit meinem amerikanischen Selbstbewusstsein ausgestattet zurückkam, hatte ich ein Gespräch mit Allianz-CEO Oliver Bäte. Wieder ging es um die besagte Position. Ich nahm all meinen Mut zusammen und fragte: ‚Wie wäre es denn, wenn ich es mache?‘ Und er antwortete: ‚Natürlich machen Sie es. Ich habe nur darauf gewartet, dass dieser Vorschlag endlich von Ihnen kommt.‘ Gelernt habe ich daraus, dass es wichtig ist, klar zu sagen, was man möchte. Gute Arbeit zu leisten ist eine notwendige, aber keine hinreichende Voraussetzung, um weiterzukommen. Schluss mit falscher Bescheidenheit – auf gesundes Selbstmarketing kommt es an."

"Wir waren betriebsblind"

Bastian Nominacher Mitgründer und Co-CEO von Celonis.

"Unsere anfängliche Betriebsblindheit hat mich und meine beiden Gründerkollegen einen großen Auftrag gekostet. Das war 2013. Damals wollten wir unser Unternehmenswachstum beschleunigen. Als ein potenzieller Großkunde überraschend absprang, waren wir schwer enttäuscht. Wir hatten uns von der Kooperation viel erhofft. Und es hat uns auch gewurmt: Als Forscher und Techies waren wir überzeugt, die beste Lösung zu bieten. Wir hatten viel Energie investiert, mit Technikern des potenziellen Kunden ausführlich gesprochen. Doch dann bekamen wir eine Absage – unserer Software fehle es an Benutzerfreundlichkeit. Das hatten wir noch nie gehört. Kein Wunder, denn zuvor haben wir uns immer nur mit IT-Experten ausgetauscht. Doch dieser Kunde wollte einen breiteren Ansatz fahren: Alle Mitarbeiter, von der Personalverwaltung bis hin zum Controlling, sollten selbst mit unserer Software prüfen, woran es bei den eigenen Prozessen eventuell hapert. Erst da wurde uns klar: Unserer Software fehlte es tatsächlich an Nutzerfreundlichkeit. Meine Mitgründer haben sich sofort in Klausur begeben, um eine komplett neue Version zu erarbeiten. Das Ziel: Unsere Software soll so einfach zu handhaben sein wie ein iPhone. Auch wenn es schmerzhaft war, hat uns diese Erfahrung definitiv weitergebracht. Und mir persönlich hat sie zu einem verbreiterten Blickwinkel verholfen. Seitdem herrscht eine neue Haltung in unserem Unternehmen: Wir hinterfragen immer, ob das, was technologisch machbar ist, auch auf den Kundennutzen einzahlt. Benutzerfreundlichkeit ist zu einem strategischen Fokus für uns geworden – dieser Anspruch findet sich auch in unseren Firmenwerten. Und so konnten wir sogar den abgesprungenen Kunden 2016 doch noch überzeugen."

"Habe mir Verantwortung abnehmen lassen"

Johanna Schirmer Geschäftsführerin Irene Gantz GmbH & Co. KG.

"Einen der größten Fehler meiner Karriere machte ich etwa ein Jahr nachdem ich mit nur 21 Jahren die Geschäftsführung unseres Familienunternehmens übernommen hatte. Es stand eine wichtige Verhandlung an, bei der es um eine hohe sechsstellige Summe ging. Ich hatte noch nie in meinem Leben über so viel Geld verhandelt, also entschloss ich mich, mir Hilfe von einem Anwalt zu holen. Das ist an sich ja nichts Schlechtes – jemanden um Unterstützung zu bitten, wenn man das Gefühl hat, es allein nicht zu schaffen. Aber anstatt mir zur Seite zu stehen, hat der besagte Jurist einfach die gesamte Verhandlung übernommen. Wir haben uns drei Monate vor dem Verhandlungstermin getroffen, um die Strategie abzusprechen. Danach habe ich trotz mehrerer Anrufe und Mails nichts mehr von ihm gehört. Also habe ich selbst einen Vorschlag ausgearbeitet. Als der eigentliche Termin dann anstand, war mein Verhandlungspartner gar nicht da, sondern nur der Anwalt, den ich hinzugezogen hatte. Er kanzelte meinen Vorschlag ab und legte mir eine bereits ausgearbeitete Vereinbarung mit unserem Verhandlungspartner vor. Ich war bewusst übergangen worden und sollte nur noch meine Unterschrift daruntersetzen – was ich dann auch tat. Eine Entscheidung, die ich bitter bereut habe – denn der Vertrag war nicht gut für das Unternehmen und hat uns viel mehr Geld gekostet, als nötig gewesen wäre. Letztlich hat mich diese Erfahrung aber zu einer besseren Unternehmerin gemacht. Damals habe ich mir selbst nicht vertraut. Also habe ich mir eine Entscheidung abnehmen lassen, die ich eigentlich selbst hätte treffen müssen. Heute, nach sechs Jahren an der Unternehmensspitze, weiß ich: Man kann mehr, als man denkt, und man sollte selbstbewusst dazu stehen – vor allem, wenn einem jemand etwas anderes weismachen will."

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