Emotionsforscherin im Gespräch: Warum wollen wir eigentlich alle normal sein?

Autor*innen
Sarah Obertreis
Vor einem Mann teilt sich der Weg und er weiß nicht welchen er gehen soll

Die Emotionsforscherin Sarah Chaney erzählt im Interview, wie es das Wort "normal" in unseren Sprachgebrauch geschafft hat, warum es eng mit der Angst vor Einsamkeit verknüpft ist – und wie man sich davon lösen kann.

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Frau Chaney, warum sind die meisten von uns geradezu besessen von der Frage: Bin ich normal?

Zwei Jahrhunderte Forschung haben uns die Idee auferlegt: Es muss ein "normales" Sein, ein "normales" Verhalten geben. Wir sind so daran gewöhnt, uns und die anderen ständig an diesen wissenschaftlichen Daten zu messen, dass wir immer die Sorge haben, mit uns stimme etwas nicht, wenn wir nicht unter den Durchschnitt fallen. Suchmaschinen wie Google und die sozialen Medien haben diese Sorgen verstärkt, weil wir uns noch leichter an einer sogenannten Norm messen können. Dabei müssten wir mal innehalten und uns fragen: Mit was vergleichen wir uns eigentlich?

Sie sind in einer Kleinstadt in Kent aufgewachsen, wo Sie mit Ihren dicken Brillengläsern und selbstgestrickten Pullovern als Außenseiterin galten. Ihren Umzug nach London als 18-Jährige beschreiben Sie als "magisches Erlebnis".

Schon bevor ich in die Stadt zog, hatte ich ab und zu einen Ausflug nach London gemacht. Dort waren so viele Menschen unterwegs, die ganz anders aussahen als alle anderen. Trotzdem gingen sie unbehelligt durch die Straßen. Das wäre in meiner Kleinstadt unvorstellbar gewesen. Ich fühlte mich in London sofort wohl. Alles, was mich zu Hause von den anderen unterschied, war in London völlig normal, weil alle anders waren.

Wenn alle unterschiedlich sind – existiert das Normale dann überhaupt noch?

Egal wie liberal eine Gruppe ist – es wird immer bestimmte Normen und Erwartungshaltungen geben. Der Soziologe Erving Goffman hat das mit seinen Studien über das Gruppengefüge in Psychiatrien gezeigt: Selbst dort, wo es so gut wie keine Konventionen gab, wurden bestimmte Dinge nicht akzeptiert. In einer Klinik hörte man zwar viele Menschen schreien und mit sich selber reden, aber es war tabu, beim Rauchen auf den Boden zu aschen. Alle benutzten Aschenbecher. 

Oft unterscheiden sich das statistische Normal und das, was den gesellschaftlichen Konventionen entspricht. Sie tragen Schuhgröße 43. Wenn man die Verteilung der Schuhgrößen in Amerika betrachtet, liegt eine normale Schuhgröße für Frauen – also passend für 95 Prozent der Bevölkerung – zwischen 35 und 43. Trotzdem haben Sie Probleme, überhaupt Schuhe in Ihrer Größe zu finden. Tatsächlich sind meine Füße statistisch gesehen gerade noch normal groß. Das passt aber nicht dazu, wie wir "normal" in unserem Alltag definieren. Seit ich 15 bin, muss ich meine Schuhe in der Männerabteilung oder in speziellen Geschäften kaufen. Natürlich hat das – und die geschockten Reaktionen der Verkäuferinnen – meinen Eindruck verstärkt, dass mit mir etwas nicht stimmen könne, dass meine Füße abnormal seien.

Sarah Chaney

Sarah Chaney ist promovierte Historikerin und forscht am Londoner Queen Mary College zu Emotionsgeschichte. Gerade ist ihr Buch "Bin ich normal? Warum wir alle von dieser Frage besessen sind und wie sie Menschen abwertet und ausgrenzt" auf Deutsch erschienen.

Bei Normalität geht es also oft auch darum, wie eine Frau aussehen sollte?

Ja. Beim Normalen ging es schon immer viel um Erwartungen an das Erscheinungsbild von Menschen, besonders von Frauen. Das ist in gewisser Weise auch heute noch so.

In der Schule wurden Sie "Creepy Phoebe" genannt, nach einer Figur aus der australischen Serie "Neighbors", die als eigenbrötlerische Streberin gilt und nichts lieber mag als ihr Haustier: eine Schlange. Wieso wurden Sie in diese Rolle gedrängt?

Das ist im Rückblick schwer zu sagen. Aber ich denke, es lag daran, dass ich sehr schüchtern war. Das wurde noch schlimmer, als eine meiner engsten Freundinnen starb. Damals war ich sieben Jahre alt. Ich erinnere mich daran, wie einsam und isoliert ich mich danach gefühlt habe. Es fiel mir schwer, Beziehungen mit anderen Menschen zu vertrauen. Als ich dann auf die weiterführende Schule kam, galt ich schnell als merkwürdig. Meine Mitschüler machten sich auch über mein Aussehen lustig. Ich war sehr stur als Teenager und weigerte mich, Dinge zu tun, nur weil sie alle anderen taten. Das hieß aber nicht, dass es mich nicht auch erschütterte, wie ich behandelt wurde. Später, an der Universität, kam einmal eine Kommilitonin auf mich zu, sie war richtig wütend, und fragte: "Wieso, verdammt, bist du so still?!" Weil Menschen öfter aggressiv auf meine Schüchternheit reagierten, zog ich mich immer mehr zurück.

Wie hat das Ihre Sicht auf sich selbst beeinflusst?

Ich fühlte mich isoliert. Obwohl es sehr gut sein kann, dass es den meisten Teenagern um mich herum genauso ging, konnte ich das nicht sehen. Für mich waren die anderen diese homogene Masse, in der jeder weiß, wie man sich verhält und miteinander spricht. Und ich war die Einzige, die aus irgendeinem Grund nicht wusste, wie es läuft, die nicht normal war. Das kann eine sehr schwierige Erfahrung sein. Gleichzeitig hatte ich diese Sehnsucht danach, ich selbst zu sein, mich weiter so zu kleiden und so zu verhalten, wie es zu mir passte.

Erinnern Sie sich an das erste Mal, als Ihnen bewusst wurde, dass Sie vielleicht ein ganz normaler Teenager waren?

Das war viel später, da war ich schon Mitte 20. Damals fand ich eine Gruppe von Freunden, die in der Schule alle nicht dazugehört hatten und die sich auch ständig fragten: Warum bin ich nicht normal? Ich erfuhr dieses Gefühl von Zugehörigkeit und begann darüber nachzudenken, ob sich überhaupt jemand mit der Erwartung wohlfühlt, normal sein zu müssen.

Das heißt, der Wunsch nach dem Normalsein ist eng verknüpft mit der Angst vor Einsamkeit?

Ja, genau.

Wie kann man sich von dieser Angst lösen?

Es hilft auf jeden Fall, wenn man weiß, dass die anderen dieselben Ängste haben. Und mir hat es sehr geholfen, sich die Geschichte der Normalität anzuschauen und ihre verschiedenen Definitionen. Besonders interessant sind Studien aus den 50ern und 60ern, die zeigen, dass es in einer Gruppe immer mehr Verhaltensunterschiede als Gemeinsamkeiten gibt. Das gilt auch für die Geschlechter.

Erst seit etwa 200 Jahren beschreiben wir mit dem Wort "normal" unser Verhalten und Aussehen. Vorher hatten sich die Menschen zwar auch untereinander verglichen, aber das Normale als etwas vermeintlich Allgemeingültiges existierte nicht.

Genau. Das änderte sich erst, als der Belgier Adolphe Quetelet 1835 die Gaußsche Normalverteilung, mit denen Astronomen den Standort von Himmelskörpern berechnet hatten, auf menschliche Körper und Verhaltensweisen übertrug.

In der Astronomie und Mathematik war der Mittelpunkt der Normalverteilung immer gleichzeitig der Durchschnitt und das Ideal. Was bedeutet das für unser heutiges Verständnis von Normalität?

Es herrscht noch immer große Verwirrung darum, was Normalsein eigentlich bedeutet. Seit den Fünfzigern diskutieren wir im Westen darüber, ob sich "normal" auf den Durchschnitt bezieht oder auf ein Ideal. Für Quetelet war es das Gleiche, dabei sind die Unterschiede eigentlich enorm. Das macht es schwierig, wenn wir zum Beispiel über einen "normalen Blutdruck" reden. Sagt Ihnen ein Arzthelfer: "Ihr Blutdruck ist normal" - könnte das einerseits heißen: Sie haben einen idealen Blutdruck, der gesünder nicht sein könnte. Es könnte aber auch bedeuten: Die Höhe Ihres Blutdrucks ist durchschnittlich - und damit nicht automatisch gesund.

Sie erinnern immer wieder daran, dass das Konzept des Normalen von europäischen Wissenschaftlern entwickelt wurde, die sich in ihrer Forschung vor allem auf ähnliche Menschen wie sie, also auf die weiße, männliche Mittel- und Oberschicht, konzentrierten.

Ja, fast alle Studien, die Quetelet durchgeführt hat, beziehen sich auf diese Personengruppe. Francis Galton, der sogenannte Vater der Eugenik, definierte weiße Männer oberhalb der Arbeiterklasse als gleichzeitig normal und ideal. In seiner Lehre waren sie allen anderen Menschen überlegen. Diese Auffassung bestimmte auch seine statistische Arbeit.

Wann begannen auch die unteren, weniger gebildeten Schichten, das Wort "normal" zu benutzen?

Wahrscheinlich ging "normal" erst etwa hundert Jahre nach Quetelet, also zu Beginn des 20. Jahrhunderts, in die gesprochene Sprache über.

Das Konzept der Normalität ist eng verknüpft mit der Geschichte der Emotionen, die Sie ebenfalls erforschen. Wie hängt beides zusammen?

Auch die Geschichte der Emotionen ist noch sehr jung. Erst in den 1830er-Jahren begannen Psychologen von "Emotionen" zu sprechen. Vorher gab es im Englischen und in den meisten anderen europäischen Sprachen eine ganze Reihe von Begriffen, um Emotionen zu beschreiben: "Leidenschaften", "Stimmungen" und "Empfindungen" etwa. Als all diese Wörter der psychologischen Kategorie "Emotionen" untergeordnet wurden, wurden sie zu etwas Problematischem, Krankhaftem. Im Laufe des 19. Jahrhunderts entwickelte sich die schließlich vorherrschende Ansicht in der westlichen Psychologie, dass Emotionen gefährlich für die körperliche und mentale Gesundheit seien und unterdrückt werden müssten. In Amerika war es besonders verpönt, Wut und Ärger zu zeigen, die Briten hatten dagegen eher ein Problem mit Traurigkeit. Daraus entstand die ungeschriebene Regel, niemals in der Öffentlichkeit zu weinen.

Von diesen Konventionen haben wir uns schon ein Stück weit wegbewegt, richtig? Inzwischen sprechen wir schließlich auch darüber, dass es für Männer genauso normal ist zu weinen wie für Frauen.

Ja, seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kehrt sich diese Pathologisierung von Emotionen langsam um. Seitdem wird die Auffassung immer populärer, dass es schlecht ist, seine Gefühle zu unterdrücken, dass wir uns ihnen stellen müssen.

Während der Corona-Pandemie sprachen wir viel davon, in einer "neuen Normalität" zu leben. Was haben wir damit überhaupt gemeint?

Darüber habe ich viel nachgedacht, ohne zu einem Schluss zu kommen. Zu Beginn der Pandemie gab es diesen Schock: Auf einmal standen so viele Dinge auf dem Kopf, die vorher als unveränderlich und stabil gegolten hatten. Bis heute bleibt die Frage: Was war eigentlich die "alte Normalität"? Geht man weiter in der Geschichte zurück, stößt man auf ähnliche Diskussionen, jedes Mal, wenn die Zeiten besonders turbulent waren. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die amerikanische Gesellschaft komplett reorganisiert. Damit einher gingen neue Definitionen des Normalen: Es galten auf einmal wieder sogenannte traditionelle Werte. Frauen, die während des Krieges gearbeitet hatten, kehrten an den Herd zurück und trugen wieder Kleider statt Hosen.

Rechte Gruppierungen nutzen den Normalitätsbegriff, um Sehnsüchte zu wecken und Ängste zu schüren. Die AfD warb 2021 mit dem Slogan: "Deutschland. Aber normal".

Auch in den Niederlanden haben rechte Parteien schon mit dem Normalitätsbegriff geworben. Hier tritt wieder einer seiner Ursprünge zutage, über den wir vorher schon gesprochen haben: Francis Galton mit seiner Eugenik-Lehre des normalen Menschen als weißer, männlicher Europäer. Galton wollte eine nationale Bevölkerung optimieren, zu der nur bestimmte Menschen gehören durften. Seit ein paar Jahren wird der Normalitätsbegriff wieder verstärkt in dieser extrem repressiven Auslegung genutzt.

Es gibt noch eine ganz andere Sicht aufs Normalsein: als etwas Langweiliges, Banales und auf keinen Fall Erstrebenswertes. Ist das eine neue Entwicklung?

Höchstwahrscheinlich schon, ja. Im 20. Jahrhundert wurde das Normale als etwas Angenehmes gesehen, das selten hinterfragt wurde. Als ich jüngeren Kollegen von meinen Forschungen erzählte und davon, dass ich mein Buch "Bin ich normal?" nennen wollte, fragten sie, völlig überrascht: Wieso sollte man überhaupt normal sein wollen? Sie hatten sich in ihrer Jugend offensichtlich nicht die gleichen Sorgen wie ich gemacht. (lacht)

Sie beenden Ihr Buch mit den Worten: "Also, bin ich normal? Nun, ja und nein. Aber ist das überhaupt die richtige Frage, die man sich stellen sollte?". Wenn "Bin ich normal?" nicht die richtige Frage ist, welche Frage sollten wir uns stattdessen stellen?

Eine wichtige Frage wäre: Was ist "normal" überhaupt? Wenn wir uns fragen "Bin ich normal?" gehen wir automatisch davon aus, dass eine bestimmte Definition von "normal" existiert, und das ist nicht der Fall. Mir selbst würde ich stattdessen die Frage stellen: Wann ist es wichtig, anders zu sein? Es fängt ja schon im Arbeitsalltag an: Wenn in einem Team alle ähnlich sind, alle die gleichen Talente und Ansichten haben, sind seine Möglichkeiten sehr begrenzt. Viel besser ist es, wenn Menschen zusammenarbeiten, die unterschiedlich sind und sich ergänzen können.

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