Soziale Angststörung: Bitte nicht ansprechen!

Autor*innen
Hannah Schultheiß
Arm eines Mannes im Anzug hält Megafon auf Frau gerichtet

Manche Menschen sind introvertiert und zufrieden, andere dagegen ängstlich schüchtern oder psychisch krank. Wo liegt der Unterschied? Diese Dinge helfen bei Sozialphobie.

Dieser Artikel ist Teil von ZEIT am Wochenende, Ausgabe 39/2022.

Kommen Menschen in Gesprächsrunden zusammen, lassen sich grob zwei verschiedene Verhaltensweisen beobachten: Da gibt es diejenigen, die gern im Mittelpunkt stehen und lauthals Anekdoten erzählen. Auf der anderen Seite sind die eher Schweigsamen, die lieber zuhören und das Gespräch mit Vertrauten suchen. Während erstere keine Party auslassen, gehen letztere nur ab und zu feiern und freuen sich, wenn sie wieder zu Hause sind – allein.  

Lädt jemand seine Akkus im Austausch mit anderen Menschen auf und zieht daraus viel Inspiration? Dann ist die Person wohl eher extravertiert (umgangssprachlich auch extrovertiert genannt). Introvertierte hingegen brauchen mehr Zeit für sich, haben häufig viel Fantasie und ziehen aus beidem ihre Energie und ihre Inspiration (Psychologie der Persönlichkeit: Asendorpf & Neyer, 2012). Doch haben sie auch Angst vor dem Kontakt mit anderen Menschen oder schlicht weniger Lust darauf? Wo verlaufen die Grenzen zwischen Introvertiertsein, Schüchternheit und sozialer Angststörung? 

Ein Vorurteil über introvertierte Menschen hält sich hartnäckig: dass sie sich nicht trauten, im Kontakt mit anderen Leuten aus sich herauszugehen. Doch: "Introversion hat nichts mit der Angst vor sozialen Kontakten zu tun", sagt der Persönlichkeitsforscher Jens Asendorpf. In seinem Buch Psychologie der Persönlichkeit schreibt er, dass Introvertierte andere Menschen nicht wegen mangelnder sozialer Kompetenzen oder aufgrund sozialer Ängste meiden, sondern einfach, weil sie es oft vorziehen, allein und unabhängig zu sein. Bei der Introversion handelt es sich um eine Persönlichkeitseigenschaft. "Sie ist nicht besser oder schlechter als Extraversion", sagt Asendorpf.  

Ohnehin lassen sich Verhalten und Wesenszüge der meisten Menschen weder dem einen noch dem anderen Extrem zuordnen. Die meisten sind nicht ausschließlich introvertiert oder extravertiert. "90 Prozent der Menschen befinden sich irgendwo in einem Mittelbereich", sagt Asendorpf. Auch tendenziell Extravertierte sind hin und wieder gern für sich. "Und da alle Menschen soziale Kontakte brauchen, suchen auch Introvertierte den Austausch mit anderen. Nur eben vergleichsweise weniger", sagt Asendorpf.

Anders verhält es sich jedoch mit der Schüchternheit. Sie sollte nicht mit Introvertiertheit verwechselt werden. Denn: Schüchterne Menschen reagieren in vielen sozialen Situationen gehemmt. Sie fühlen sich etwa auf Partys unwohl, haben Angst, nur in der Ecke zu stehen, und trauen sich nicht, andere Menschen anzusprechen (Psychologie der Persönlichkeit: Asendorpf & Neyer, 2012). 

Die wichtigste Unterscheidungsmöglichkeit: Introversion erzeugt keinen Leidensdruck. Bei der Schüchternheit und den dazugehörigen sozialen Ängsten hingegen leiden die Betroffenen. Sie wären gerne sicherer und unbefangener bei Begegnungen mit anderen.

Allerdings kennt auch das fast jeder Mensch und ist hin und wieder eingeschüchtert oder hat Angst in Situationen mit anderen Leuten: Reden vor großem Publikum halten, Partys mit vielen Unbekannten oder eine Vorstellungsrunde unter neuen Kolleginnen. Nur: Wo liegen hier die Grenzen? Wo endet ein normales Maß an Schüchternheit und wo beginnt die soziale Angststörung? 

Schüchterne Menschen überwinden ihre Anspannung nach einiger Zeit, wenn sie mit den neuen Kontakten vertraut werden. Sie haben dann keine Probleme und Ängste mehr, aus sich herauszukommen, und fühlen sich wohl. Sozial ängstliche hingegen bleiben angespannt – auch nachdem sie ihr Umfeld besser kennengelernt haben (Soziale Angst verstehen und verändern: Hoyer & Härtling, 2019).

Ob jemand nur schüchtern ist oder eine handfeste soziale Angststörung (auch soziale Phobie genannt) vorliegt, zeigt sich auch daran, ob die sozialen Ängste, Befürchtungen und das Vermeidungsverhalten deutlich über das hinausgehen, was in dem jeweiligen kulturellen Kontext normal ist. Und ob sie zu erheblichem Leid oder Beeinträchtigungen führen (ICD 11).

An diesen Merkmalen erkennt man eine soziale Angststörung

Für die Diagnose der sozialen Angststörung nennt das internationale Verzeichnis zur Klassifikation von Erkrankungen (ICD-11) folgende Kriterien:

  • Ausgeprägte und übermäßige Angst, die immer wieder in einer oder mehreren sozialen Situationen auftritt. Zum Beispiel bei einer Unterhaltung, wenn man sich durch andere beobachtet fühlt, etwa beim Essen oder Trinken in Gegenwart anderer.
  • Sorge, dass das Verhalten oder die Angstsymptome von anderen bemerkt und negativ bewertet werden könnten (peinlich, demütigend, ablehnend).
  • Vermeidung: Soziale Situationen werden konsequent vermieden oder mit intensiver Angst oder Furcht ertragen.
  • Dauer: Die Symptome dauern mindestens sechs Monate oder länger an.
  • Einschränkung: Die Beeinträchtigungen sind so schwerwiegend, dass sie zu erheblichem Stress oder erheblichen Beeinträchtigungen in persönlichen, familiären, sozialen, schulischen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen führen.

Repräsentative Daten aus Europa zeigen, dass etwa 13 Prozent der Menschen einmal im Leben an Symptomen leiden, die anhand der oben genannten Kriterien als soziale Angststörung kategorisiert werden könnten (International Journal of Methods in Psychiatric Research: Kessler et al., 2012). "Damit ist die soziale Angststörung eine der häufigsten psychischen Störungen überhaupt", sagt Ulrich Stangier, Professor für Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Universität Frankfurt. Einer seiner Forschungsschwerpunkte ist die kognitive Therapie zur Behandlung der sozialen Angststörung. "Häufiger sind sonst nur noch Depressionen", sagt er.

In dem Buch Soziale Angst verstehen und verändern schreiben die Autoren sogar: "In jeder Schulklasse befindet sich mindestens ein Kind mit sozialer Angststörung". Ein Kind, das beispielsweise versteinert, wenn es an der Tafel steht, die Aufgabe vor lauter Angst nicht lösen kann und kein Wort mehr herausbringt. Fachleute beobachten zudem schon seit einiger Zeit eine deutliche Zunahme dieser Ängste in der Bevölkerung (zum Beispiel Soziale Ängste bei jungen Erwachsenen: Berberich, 2022).

Es gibt verschiedene Ausgangsbedingungen, die dazu führen können, dass Menschen eine soziale Angststörung entwickeln. Dazu gehören Persönlichkeitseigenschaften wie Schüchternheit. Aber auch ein bestimmter Erziehungsstil der Eltern kann dazu beitragen. "Üben die Eltern sehr viel Kritik am Verhalten ihres Kleinkinds, ist das ein Risikofaktor", sagt Stangier. Auch andere Persönlichkeitseigenschaften können eine Rolle spielen. Und hier kommt tatsächlich doch die Introversion ins Spiel. Denn obwohl Introversion an sich ausdrücklich kein Anzeichen einer Störung ist, haben introvertierte Menschen offenbar ein etwas höheres Risiko, eine soziale Angststörung zu entwickeln. Das liegt womöglich auch an ihrem Umfeld – nämlich unter daran, dass schon introvertierten Kinder häufig das Gefühl vermittelt wird, mit ihnen stimme etwas nicht. "Allerdings ist der Zusammenhang nicht so eng, dass jedes introvertierte Kind ein sozial ängstlicher Erwachsener wird", sagt Stangier.

Eine große Rolle spielen daher Eltern und Erzieherinnen. "Werden zurückhaltende Kinder zu sozialem Kontakt gedrängt, kann dies die Botschaft vermitteln, unangemessen oder peinlich zu sein", sagt Stangier. Dadurch würden Kinder eine erhöhte Selbstaufmerksamkeit entwickeln, sich also selbst genauer beobachten und gleichzeitig soziale Situationen vermeiden. Wiederholen sich diese Szenen, werden soziale Ängste verstärkt und können zu einem dauerhaften Problem werden.

Auslöser können auch Erfahrungen in der Schule sein. Wenn Kinder gehänselt, gemobbt oder ausgelacht werden, lassen diese Erlebnisse bei manchen belastende Erinnerungen zurück. Sie können den Beginn eines gebrochenen Selbstbewusstseins und zunehmenden Rückzugs markieren, der zu einer sozialen Angststörung führt. "Die meisten sozialen Ängste", sagt Stangier, "entstehen in der Altersspanne zwischen 13 und 15 Jahren, also in einer Phase, wo das Selbstwertgefühl sehr sensibel für Fehlschläge und sozialen Ausschluss ist."

Wie Experimente im Alltag helfen, die Angst zu überwinden

Zuletzt gibt es noch die aufrechterhaltenden Faktoren. Stangier beschreibt sie so: "Wenn Betroffene anfangen, soziale Situationen zu vermeiden, können sie keine korrigierenden Erfahrungen sammeln und das negative Selbstbild verfestigt sich. Oder sie beobachten sich permanent selbst, fragen sich, was an ihrem Verhalten gerade als peinlich wahrgenommen werden könnte." So chronifiziert sich die Angststörung und wird immer schlimmer.

Von allein bessert sich die Symptomatik eher selten. Doch es gibt effektive psychotherapeutische Methoden – soziale Angststörungen lassen sich in der Regel sehr gut behandeln (Lancet Psychiatry: Mayo-Wilson et al., 2014). "Am besten ist die Wirkung der kognitiven Verhaltenstherapie erforscht", sagt Stangier. Eine sehr wirksame Technik ist das sogenannte Verhaltensexperiment. Dabei begeben sich Patienten in eine für sie stressige Situation. Ein solches Verhaltensexperiment unterscheidet sich allerdings von der klassischen Exposition, die ebenfalls in der Psychotherapie sehr verbreitet ist. Bei der Exposition wird eine Patientin, die beispielsweise unter Spinnenphobie leidet, mit einer Spinne konfrontiert – und lernt dabei, die Angst vor dem Tier so lange auszuhalten, bis sie durch Gewöhnung von selbst zurückgeht. Das funktioniert laut Stangier bei der sozialen Angststörung nicht sehr gut.

Beim Verhaltensexperiment setzen sich die Patienten zwar auch der stressigen Situation aus, doch geht es dabei nicht nur ums Aushalten und Abwarten. Stattdessen probieren die Betroffenen aus, ob bestimmte Verhaltensweisen wirklich zu den Reaktionen führen, vor denen sie solche Angst haben. Sie könnten beispielsweise während eines Vortrags absichtlich eine Pause machen und das Publikum warten lassen. Vielleicht geben sie außerdem noch zu, dass sie den Faden verloren haben. Und sie bemerken, dass die Zuschauenden ganz anders reagieren als befürchtet. "Wenn sie zum Beispiel niemand auslacht, werden die Vorstellungen und Ängste korrigiert", sagt Stangier.

Nur: Für Menschen, denen vor Angst sogar der Gang zum Supermarkt schwerfällt, ist schon die Vorstellung, einen Vortrag halten zu müssen, extrem beängstigend. Einsteigen könne man auch mit weniger stressigen Situationen, wie einem Besuch im Café. "Eine Patientin hatte zum Beispiel extreme Angst davor, stark zu zittern, wenn sie ihre Kaffeetasse hochhebt", sagt Stangier. Im Rahmen eines Verhaltensexperiments ging er mit ihr Kaffee trinken, um durch gezieltes Zittern herauszufinden, ob andere Menschen dies peinlich finden. Sie setzten sich an unterschiedliche Tische. Im ersten Schritt bestellte der Therapeut Kaffee und zitterte absichtlich übertrieben mit der Tasse. Die Patientin konnte beobachten, dass alle anderen Gäste davon völlig unbeeindruckt blieben. Im nächsten Schritt bestellte die Patientin den Kaffee und machte selbst die Erfahrung, dass niemand auf das Zittern achtete. In weiteren Experimenten dieser Art konnte sie ihre neue Sichtweise verfestigen und ihre Angst Schritt für Schritt überwinden.

Doch nicht alle Betroffenen wollen oder können sich helfen lassen. Einige haben Hemmungen, eine Therapie zu beginnen, weil sie sich womöglich für ihre Ängste schämen. Eine Chance sieht Stangier daher darin, erste Schritte mit einer Therapie-App zu gehen. "Auch um die oft lange Wartezeit auf einen Therapieplatz zu überbrücken." Gemeinsam mit Kollegen der TU Dresden entwickelt Stangier gerade eine solche auf soziale Phobien ausgerichtete App. Sie soll Betroffene über das Krankheitsbild aufklären und ihnen letztlich helfen, sich beängstigenden Situationen zu stellen. Dass Onlineangebote bei sozialen Angststörungen grundsätzlich wirksam sein können, bestätigen Studien (Journal of Anxiety Disorders: Kampmann et al, 2016).

Man kann soziale Ängste also gut behandeln, aber dafür muss man sie erst einmal erkennen und sich auch selbst eingestehen. Und das tun offenbar nicht alle. Persönlichkeitsforscher Jens Asendorpf beobachtet bei manchen Betroffenen einen Abwehrmechanismus – und der kann unter Umständen dazu führen, dass man sich selbst ein falsches Label zuordnet: "Wenn man nicht zugeben will, sozial ängstlich zu sein, ist es natürlich einfacher, sich als introvertiert zu bezeichnen", sagt Asendorpf. Ein wichtiger Schritt wäre also, die Angst vor der eigenen Angst zu überwinden.

Für eine Studie zur Weiterentwicklung der Therapie-App suchen der Psychologe Ulrich Stangier und seine Kolleginnen noch Teilnehmer. Wer sich dafür interessiert, findet Informationen auf der Institutsseite.

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