Sexualisierte Gewalt: "Wer nicht mitmacht, wird gemobbt oder sabotiert“

Autor*innen
Alisa Schellenberg
Gesicht, dessen obere Hälfte durch eine pinke Faust vor einem blauen Kreis ersetzt wurde.

Hinweis der e‑fellows.net-Redaktion

Triggerwarnung: sexualisierte Gewalt

Im folgenden Artikel wird das Thema "sexualisierte Gewalt an Hochschulen" behandelt. Dies könnte traumatische Erinnerungen hervorrufen, insbesondere für Personen, die selbst Erfahrungen mit sexualisierter Gewalt gemacht haben. 

Sexualisierte Gewalt an Unis wird oft verschwiegen, weil die Täter mächtig sind. Victoria Striewe ist Mitgründerin von Metooscience. Sie weiß, was Betroffene tun können.

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Frau Striewe, durch Ihr Projekt Metooscience sind Sie mit vielen Menschen in Kontakt, die an einer Hochschule sexualisierte Gewalt und Machtmissbrauch erlebt haben. Wovon erzählen sie?

Uns schreiben vor allem junge Frauen, aber auch trans Personen und queere Menschen. Sie berichten von Erlebnissen mit Dozierenden oder Professor:innen. Bei sexualisierter Belästigung testen diese meist schrittweise aus, wie weit sie gehen können. Es fängt an mit einer schleichenden Vermischung von Privatem und Beruflichen, geht dann weiter mit kleinen Botendiensten für Besorgungen und mit privaten Treffen, meist auch mit Alkohol. Man wird zum Dinner eingeladen, zu Cocktailpartys. Dann kann es zu sexualisierten Anspielungen oder sexistischen Witzen kommen. In schweren Fällen, die uns nicht selten berichtet werden, kommt es schließlich zu Übergriffen hinter verschlossenen Türen. Das können Entblößungen oder Berührungen sein.

An der Humboldt-Universität in Berlin wurde im August ein wissenschaftlicher Mitarbeiter freigestellt. Ihm wird von Studierenden sexualisierte Gewalt und Machtmissbrauch vorgeworfen, die Polizei ermittelt. Victoria Striewe ist Dozentin, Coachin und Antimachtmissbrauchsaktivistin. 2022 berichtete sie dem "Spiegel" von ihren eigenen Erfahrungen mit Machtmissbrauch an der Hochschule. Zusammen mit zwei anderen Frauen hat sie Metooscience gegründet, um Betroffene an Hochschulen zu unterstützen. Sie können Metooscience durch ein anonymisiertes Kontaktformular von ihrer Geschichte erzählen. Außerdem berät Metooscience Betroffene, aber auch Institutionen.

Was passiert dann?

Wenn Betroffene nicht so mitmachen, wie die Täter:innen wollen, werden Sie gemobbt oder ihre Arbeit wird sabotiert. Sie werden mitunter von anderen Kolleg:innen gemieden. Es gibt auch andere Formen von Machtmissbrauch. Betroffene berichten von Schikane, Abwertungen, systematischer Benachteiligung und Bossing, also Mobbing durch Vorgesetzte.

Victoria Striewe

Victoria Striewe ist Mitgründerin von Metooscience. Sie ist als Coachin und Dozentin tätig und hat an der Universität zu Köln in der Sozial- und Kognitionspsychologie promoviert.

Was haben diese Berichte noch gemeinsam?

Die Betroffenen sind oft isoliert: Man glaubt ihnen nicht. Selbst Zeug:innen, die dabei waren, leugnen, was passiert ist. Oder sie ziehen ihre Aussage zurück, wenn es zum Verfahren kommt. Auch Professor:innen haben mitunter Angst, sich mit Betroffenen zu solidarisieren. Was dann oft passiert, ist, dass sie das System Hochschule verlassen und psychische Probleme entwickeln: posttraumatische Belastungsstörungen, Angststörungen, Depressionen.

Hochschulen sind meist riesige Organisationen, mit Tausenden Studierenden und vielen Mitarbeiter:innen. Welche Gruppen sind am meisten betroffen und warum?

Von Machtmissbrauch können alle Hierarchiestufen betroffen sein, außer die, die ganz oben stehen. Die meisten Zuschriften bekommen wir aus dem sogenannten Mittelbau, also von Postdocs und wissenschaftlichen Mitarbeiter:innen. Aber auch von Professor:innen. Grundsätzlich ist es so: Je kleiner und unbedeutender die Betroffenen im System Hochschule sind, desto wahrscheinlicher ist es, dass ihnen Machtmissbrauch widerfährt. Das bedeutet aber nicht, dass sie Vorfälle auch melden. Je weniger Einfluss jemand auf die Forschung und auf Arbeitsabläufe hat, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass man sich gar nicht traut, Nein zu sagen und Beschwerde einzureichen.

Warum ist es so schwierig, über Machtmissbrauch zu sprechen?

Studierende und Promotionsstudierende berichten, dass das Umfeld um die Person, von der die Diskriminierung ausgeht, mitmacht oder stillhält. Die Betroffenen schauen sich um, aber da ist bei niemandem Irritation zu sehen. Vielleicht wird auch mitgelacht. Das suggeriert: Das macht man hier so, das sind wir alle gewöhnt. Dadurch wird die eigene Wahrnehmung vernebelt.

An der Universität sind die Täter:innen dazu oft auch diejenigen, die eine moralische Vorbildfunktion haben.
Victoria Striewe

Gibt es weitere Gründe?

Die Betreuungsverhältnisse in der Wissenschaft sind oft sehr exklusiv. Promotionsstudierende haben meist eine:n fachliche:n Vorgesetzte:n, der:die gleichzeitig ihr Förderer ist. Sie sind davon abhängig, welche Mittel er:sie für ihre Forschung bereitstellt, und von deren Bewertung der Arbeit. Das macht abhängig. Außerdem gibt es wenige Stellen, um überhaupt zu promovieren – und die Arbeitsverträge sind befristet. Solche Situationen sind ein Nährboden für Machtmissbrauch.

Universitäten sind daran interessiert, Koryphäen zu schützen 

An der Humboldt-Universität in Berlin soll ein wissenschaftlicher Mitarbeiter schon seit den Neunzigern Studentinnen gegenüber demütigende und sexualisierte Bemerkungen gemacht haben. Das berichtete unter anderem der Tagesspiegel. Der Dozent wurde wegen der Vorwürfe jetzt erst freigestellt. Berichte über ein mögliches Fehlverhalten sind allerdings seit Jahren bekannt. Wie kann so etwas sein?

Universitäten sind oft daran interessiert, ihre Mitarbeiter:innen, vor allem die fachlichen Koryphäen, zu schützen. Die Glaubwürdigkeit der Betroffenen wird infrage gestellt. Ein anderer Punkt ist unser gesellschaftliches Verständnis von Gerechtigkeit und Recht. Im Strafrecht liegt die Beweislast auf den Schultern der Kläger:innen, der Betroffenen. Nur gibt es bei sexualisierter Gewalt häufig keine Beweise. Und das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz, das vor Diskriminierung schützen soll, gilt an Hochschulen zwar für die Mitarbeiter:innen, für Studierende aber nur indirekt. An der Universität sind die Täter:innen dazu oft auch diejenigen, die eine moralische Vorbildfunktion haben. Deshalb ist der Widerstand, sie anzuzweifeln oder anzukreiden, höher. Auch von den Universitätsleitungen selbst – schließlich hängt das Ansehen ihrer Einrichtung von dem Ruf ihrer Galionsfiguren ab.

Welche Möglichkeiten haben Studierende oder Promovierende, wenn ihnen sexualisierte Gewalt widerfährt?

Es ist hilfreich, sich schon vorbeugend mit den Themen sexualisierte Gewalt und Diskriminierung auseinanderzusetzen. Dazu gibt es manchmal Informationsveranstaltungen von studentischen Gruppen. Falls einem tatsächlich etwas passieren sollte, ist es sinnvoll, danach mit anderen Personen zu sprechen, falls überhaupt andere dabei waren: Hast du das auch gesehen? Wenn es um physische Übergriffe geht, hat der Schutz von Psyche und Körper immer die höchste Priorität.

An wen sollte man sich wenden?

Auf jeden Fall nur an externe Beratungsstellen. Denn die Beratungsstellen der Hochschule sind ihr weisungsgebunden. Sie haben den impliziten Auftrag, die Interessen der Uni zu schützen. Für eine neutrale Beratung und ein Gespräch über rechtliche Möglichkeiten sind externe oder unabhängige Beratungsstellen geeigneter. Dazu sollte man so viele Beweise sammeln, wie geht: Chatnachrichten, Gedächtnisprotokolle, Zeug:innen, E-Mails – und dann schriftliche Beschwerde bei der Gleichstellungsbeauftragten der Hochschule einreichen.

Wenn es um Konsequenzen für Täter geht, heißt es oft, dass Gleichstellungsbeauftragte Betroffenen mitunter davon abraten würden, ein hochschulinternes Ermittlungsverfahren einzuleiten. Sie sorgen sich um die Karriere der Betroffenen in der Wissenschaft. Ist das berechtigt?

Ja. Selbst wenn ein mächtiger Wissenschaftler abgemahnt wird oder ihm bestimmte Befugnisse entzogen werden, werden die Betroffenen immer diejenigen sein, die dieser Person Steine in den Weg gelegt haben. Deshalb gibt es in der Wissenschaft oft viele sogenannte Bystander. Menschen, die Vorfälle mitbekommen – und andere Betroffene, die Gründe haben, dichtzuhalten. Hochschulen sind ein System, in dem viele Menschen Angst haben, ihre Karriere aufs Spiel zu setzen. Es macht aus dieser Logik heraus wenig Sinn, für sein Recht einzustehen. Aber es braucht mehr Betroffene, die sich beschweren, und mehr öffentliche Aufmerksamkeit, damit sich dieses Denken ändert. Der Anreiz der Hochschulen darf nicht sein, Mächtige zu schützen, sondern gewaltfreie Räume zu schaffen.

Was sollten Hochschulen tun?

Sie sollten unabhängige und externe Beratungsstellen einrichten, die die Interessen der Betroffenen vertreten können. Wenn es zu Verfahren kommt, sollten diese transparenter geführt werden. Außerdem sollte man darüber nachdenken, die fachliche Betreuung von beispielsweise Promotionsstudierenden von deren disziplinarischen Betreuung zu trennen. Wichtig ist, dass Universitäten ihr Problem anerkennen. Es würde helfen, wenn Leitungen sagen: "Wir haben ein MeToo-Problem und wir können kaum dagegen vorgehen, weil wir nicht den rechtlichen Spielraum haben." Das hätte eine viel größere öffentliche Wirkung als Beschwerden von Betroffenen.

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