Pseudologie: Ab wann ist Lügen zwanghaft?

Autor*innen
Sheila-Ananda Dierks
Ein Mann rudert auf einer halben Peperoni und macht einen gereizten eindruck

Zwanghaftes Lügen ist eine psychische Erkrankung. Aber sie ist behandelbar, sagt Psychiater Hans Stoffels. Vor allem, wenn Betroffene ihr kreatives Potenzial entdecken.

Hans Stoffels

Hans Stoffels ist Psychiater und Psychotherapeut sowie langjähriger Leiter der Psychiatrischen Abteilung der Schlosspark-Klinik Berlin. Sein wissenschaftlicher Arbeitsschwerpunkt liegt unter anderem auf der Pseudologia Phantasica, dem krankhaften Lügen. Er ist einer der wenigen, die auf psychologisch-medizinischer Ebene wissenschaftlich zu diesem Thema geforscht und publiziert haben.

Herr Stoffels, je nachdem, welcher Studie man glaubt, lügt jeder Mensch 25 bis 200 Mal am Tag. Wie viel Lügen ist normal und wann wird es krankhaft?

Lügen ist etwas sehr Komplexes. Dementsprechend traue ich diesen Studien auch nicht: Lügen zu zählen, ist aus meiner Sicht unmöglich. Die Bandbreite reicht vom "gesunden" Lügen über bewusstes und betrügerisches Lügen bis hin zu krankhaftem Lügen, auch Pseudologia Phantastica genannt. Betroffene dieser Krankheit nennt man deswegen auch Pseudologen. Sie werden von Fantasien so sehr bedrängt, dass sie nicht anders können, als diese auch zu äußern und für wahr zu erklären. Das führt dazu, dass krankhafte Lügner so selbstverständlich schwindeln, wie sie atmen. Die Eigenart dieses Lügens ist also, dass es nicht bewusst oder böswillig passiert. Die Betroffenen glauben ihre Lügen zumeist selbst.

Können Sie dazu ein Beispiel geben?

Zum "gesunden" Lügen zählen kleine Notlügen, Höflichkeitslügen oder auch einfach nur das Weglassen von Informationen. Typisch ist zum Beispiel die Behauptung, man habe eine Nachricht übersehen, aber tatsächlich hat man eine Antwort immer wieder aufgeschoben. Sowas in der Form machen wir alle tagtäglich. Das Lügen kann aber auch als manipulatives Mittel genutzt werden. Man behauptet, man habe nichts geklaut, aber in der Einkaufstasche sind lauter Lebensmittel. Dann sind die Lügen betrügerisch und passieren bewusst um des eigenen Vorteils willen. Beim krankhaften Lügen sprechen wir von einem Zwang zum Schwindeln.

Ob jemand absichtlich oder ungewollt lügt, lässt sich ja nicht auf Anhieb unterscheiden. Wie erkennt man einen notorischen Lügner?

Erst einmal spreche ich nicht vom "notorischen", also dem "wiederkehrenden" oder "ständigen", sondern vom krankhaften oder zwanghaften Lügen. Zwar wird der Begriff des notorischen Lügens im Volksmund gebraucht, doch wird er meiner Meinung nach dem Aspekt des Unwillkürlichen nicht gerecht. Wir sprechen hier von einer schweren Form der Persönlichkeitsstörung, die meist auf schwere emotionale Entbehrungen zurückzuführen ist. Das ist krankhaft und so benenne ich es auch. Für den krankhaften Lügner ist es typisch, dass er immer wieder Geschichten erfindet, die einander widersprechen können oder in sich nicht ganz stimmig sind, wodurch im Umfeld natürlich immer wieder Irritationen entstehen. Er behauptet, jemand anderes zu sein, als er eigentlich ist oder Dinge erlebt zu haben, die nie passiert sind. Es kommt auch vor, dass er sich an Situationen vor dem dritten oder vierten Lebensjahr erinnert oder seine Geschichten bei weiteren Nachfragen immer weiter ausschmückt.

Wie kann man sich diese Lügengeschichten vorstellen?

Ich unterscheide da grundlegend zwischen einer Helden- und einer Opfer-Narration. Eine klassische Helden-Narration kann beispielsweise die Behauptung sein, dass man Arzt ist und einen Doktoren- oder Professorentitel hat oder mit Immobilien reich geworden ist. Bei Opfer-Narrationen erzählen Betroffene, dass ihnen etwas Furchtbares widerfahren ist: Beispielsweise sei jemand Nahestehendes schwer krank geworden oder gestorben. Ich habe einmal einen Mann mit dem Namen Binjamin Wilkomirski erlebt, der sich als Holocaust-Überlebender ausgab, als sogenannter Child survivor. Er hat sogar ein Buch über seine KZ-Erlebnisse als Kind geschrieben, das im hochangesehenen Suhrkamp-Verlag erschien. Irgendwann kam raus: Nichts davon stimmte, nicht einmal sein Name.

Enttarnen sich solche großen Lügen nicht sofort?

Personen, die an Pseudologia Phantastica erkrankt sind, verhalten sich wie Schauspieler. Sie sind suggestiv äußerst begabt und können ihre erfundene Identität so glaubwürdig verkaufen, dass ihr ganzes Umfeld ihnen glaubt. Vor allem bei Opfer-Narrationen wagen außenstehende Personen kaum, Zweifel anzumelden, beispielsweise wenn jemand von einem sehr sensiblen Thema wie dem Holocaust, um bei dem Beispiel zu bleiben, erzählt. Falls sie doch auffliegen, befreien sie sich mit einer anderen Lügengeschichte aus dieser Situation, geben vielleicht sogar zu, dass sie gelogen haben, aber erfinden dann etwas Neues dazu. Zudem sind sie meist ohnehin von einem sozialen Umfeld isoliert und sehr einsam. Da gibt es oftmals keine Personen, denen ein solches Lügennetz überhaupt auffallen würde.

"Pseudologen haben eine blühende Fantasie"

Wie kommt es zu einem solchen Lügendrang?

Letztendlich suchen solche Menschen händeringend nach fehlender Anerkennung und Aufmerksamkeit. Betroffene jeden Alters zeichnen sich durch eine starke Ungebundenheit aus, die mit hoher Wahrscheinlichkeit auf eine sehr entbehrungsreiche und schwierige Kindheit zurückzuführen ist, deren Umstände zu diesen Bindungsschwierigkeiten geführt haben. Dadurch haben sie weder einen Bezug zur Realität, noch zu ihren Mitmenschen und sind oftmals nicht beziehungsfähig. Zudem haben sie nie ein Gefühl für ethische Maßstäbe bekommen, wissen also nicht, wie viel Lügen ethisch vertretbar ist. Da die reale Welt ihnen so fern erscheint und Probleme mit sich bringt, flüchten sie in eine fantastische Welt, weil sie sich dort wohler fühlen. Man spricht deswegen auch vom Peter-Pan-Syndrom: Wie die Figur aus dem Roman des Schriftsteller James Matthew Barrie schweben sie regelrecht über den Wolken und wollen andere Kinder mit in ihre Welt entführen.

Auch prominente Persönlichkeiten wie Donald Trump oder der Schriftsteller Karl May werden als krankhafte Lügner bezeichnet. Ist die Diagnose Pseudologia Phantastica ein Trend oder leiden wirklich immer mehr Menschen darunter?

Von "leiden" kann man da nicht sprechen, krankhafte Lügner leiden selbst am wenigsten unter ihrem Drang, zu lügen. Sie haben damit ja kein Problem, sondern glauben eine Lösung gefunden zu haben. Eine Zunahme dieser Störung lässt sich wissenschaftlich aber nicht belegen. Ich kann bloß sagen, dass die Behandlungsanfragen und Zuschriften, die ich bekomme, in den letzten Jahren stark zugenommen haben. Innerhalb von zwei, drei Jahren haben mich hunderte Angehörige und Betroffene kontaktiert, die alle zu beantworten war unmöglich.

Woran könnte das liegen?

Natürlich hat das Phänomen durch bekannte Fälle an Popularität gewonnen, wodurch mehr Menschen die Krankheit überhaupt erst als solche erkennen. Ich habe aber auch den Eindruck, dass die aktuelle gesellschaftliche Entwicklung in Hinblick auf soziale Medien dazu beiträgt, dass sich das Phänomen des Lügens häuft: Als digitale Fantasiewelten verleiten sie rasch dazu, den Bezug zur eigentlichen Realität zu verlieren, denn in einer virtuellen Welt fällt das Schwindeln viel leichter. Das haben beispielsweise die Gruppe der Querdenker deutlich gemacht oder auch das Phänomen der Fake News.

Es ist entscheidend, das kreative Potenzial bei diesen Menschen zu entdecken.
Hans Stoffels

Sie haben gerade erklärt: Ein krankhafter Lügner schwindelt nicht böswillig. Sollte man ihm das Lügen also nachsehen?

Auf keinen Fall. Wenn man vermutet, dass jemand einen krankhaften Drang zum Lügen hat, sollte man ihn immer damit konfrontieren. Weniger als wütender Vorwurf, sondern eher als gut gemeinte Frage: "Mir ist aufgefallen, dass dies oder jenes nicht stimmt, weshalb erzählst du mir nicht die Wahrheit?". Nur so kann der Person geholfen werden. Von den vielen Betroffenen, die mich kontaktiert haben, hat sich kaum jemand aus Eigeninitiative gemeldet, sondern weil ihre Partner oder andere nahestehende Personen das gefordert haben. Sofern der Pseudologe nicht ohnehin komplett vereinsamt ist, hilft ein solches Drängen sehr. Im Zweifelsfall kann es die entscheidende Motivation sein, sich um Hilfe zu bemühen.

Lässt sich die Krankheit denn heilen?

Wie bei allen psychischen Erkrankungen hilft auch hier eine fachkompetente Therapie. Aber wie bei allen Therapien, kann ein Betroffener nur gesunden, wenn er dazu auch bereit ist. Für die Person bedeutet das: Sie muss damit einverstanden sein, ein umfassendes Bild von sich Preis zu geben und beispielsweise erkennen, dass ihre erzählte Welt nicht real ist und es schmerzhafte Erfahrungen gab, die diese Störung ausgelöst haben. Natürlich kann es passieren, dass die Person auch in der Therapie nicht sie selbst ist, jemand anderen spielt und sich und andere belügt.

Was passiert dann?

Dann ist es natürlich Aufgabe des Psychologen oder Psychotherapeuten, aufmerksam zu sein und die Lügen zu erkennen. Für uns Therapeuten, aber auch für eine erfolgreiche Therapie ist es entscheidend, das kreative Potenzial bei diesen Menschen zu entdecken. Pseudologen haben eine blühende Fantasie, die sie in einer anderen Form ausleben lernen sollten: Beispielsweise durch einen Berufswechsel oder ein kreatives Hobby wie Schreiben oder Malen. Eine Patientin, die für zwei, drei Beratungsgespräche in meine Praxis kam, war eine fabelhafte Märchenerzählerin, also habe ich ihr geraten, ihre blühende Fantasie für ihre Geschichten zu nutzen, statt für Schwindeleien. Ob sie damit Erfolg hatte, kann ich nicht sagen. Der Anspruch sollte ohnehin niemals sein, diese Störung durch eine Therapie vollständig heilen zu können. Vielmehr geht es darum, einen anderen Umgang mit diesen kreativen Neigungen zu finden. Ein Umgang, der weniger fatal ist und vielleicht sogar etwas Positives mit sich bringt.

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