Mobbing: "Hilflosigkeit ist der Stoff, aus dem Depressionen entstehen können"

Autor*innen
Jens Wohlgemuth
Ein Mann sitz auf dem Boden und über ihm ist eine Wolke, die regnet

Wie prägend ist Mobbing fürs Leben? Die Psychologieprofessorin Mechthild Schäfer erklärt, welche Langzeitfolgen Mobbing haben kann und wie man sich davon befreit.

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Mobbing torpediert das Selbstwertgefühl, sagt Mechthild Schäfer. Sie ist Psychologieprofessorin an der Ludwig-Maximilians-Universität München und forscht zu Mobbing in Schulklassen und Konsequenzen von Mobbing.

Jede:r siebte Jugendliche:r wird Opfer von Mobbing. Wie prägend ist eine solche Erfahrung später im Erwachsenenalter?

Das ist schwer zu sagen. Es gibt eine Menge Studien, die Konsequenzen zu erkennen meinen. Zum Beispiel eine Studie von der University of Nebraska aus dem Jahr 2015. Gerade bei Querschnittsuntersuchungen finden sich Fälle, bei denen Opfer von Mobbing depressiv werden. Sogar Schizophrenie kann eine Konsequenz sein.

Was sagen Sie dazu?

Ich bin als Grundlagenforscherin der Meinung, dass präzisiert werden muss. Wenn ein Mensch Opfer von Mobbing wurde, ist das sicher ein Risikofaktor für psychische Erkrankungen. Die betroffene Person hat eine größere Skepsis, weil sie etwas erlebt hat, wofür es keine Erklärung gibt. Sie fragt sich, warum gerade sie zum Opfer wurde. Bestimmte psychische Erkrankungen sind nicht nur genetisch, sondern auch vom Umfeld bestimmt. Diese könnten sich unter einem bestimmten Umfeld – wie dem Gemobbtwerden als Risikofaktor – leichter als sonst entwickeln.

Mechthild Schäfer lehrt als Professorin an der Fakultät an der LMU München Sozialpsychologie, Pädagogische Psychologie und Beratungspsychologie. Sie forscht unter anderem zu Aggression und Mobbing in Schulklassen als Gruppenphänomen, Stabilität von Mobbingrollen und Konsequenzen von Mobbing.

Wie entsteht diese Skepsis, die betroffene Personen haben?

Wir entwickeln unser Selbstwertgefühl in der Interaktion mit der sozialen Umgebung. Durch Reaktionen entwickelt sich ein Gespür für den eigenen Wert im sozialen System. Das wird durch Mobbing ziemlich torpediert. Durch diese negativen Reaktionen entwickelt sich ein vermindertes Selbstwertgefühl, eine Hilflosigkeit und Skepsis. Dies ist eine so stabile Erfahrung, dass man in Zukunft Probleme haben kann, Bindungen einzugehen. Menschen, die gemobbt wurden, haben in der Regel ein schlechteres Bild von sich, aber auch von anderen. Sie gehen negativ behaftet in soziale Interaktionen, haben Angst, dass etwas schiefgeht, was dann häufig auch passiert. Das ist eine selbsterfüllende Prophezeiung.

Wie lassen sich so gesunde Freundschaften oder Beziehungen im Erwachsenenleben führen?

Es ist nicht so, dass das ganze Leben zerstört wurde. Studien haben gezeigt, dass sich funktionierende Beziehungen und Partnerschaften aufbauen lassen. Es ergeben sich auch danach schöne Freundschaften, von denen man profitiert. Die Anzahl an Freundschaften ist oft geringer, dafür allerdings intensiver. Aber die Schwierigkeit, diese aufrechtzuerhalten, gibt es für Betroffene.

Wo fängt Mobbing eigentlich an?

Mobbing ist, wenn sich eine Gruppe gegen eine Person verschwört und diese gezielt ausgrenzt. Dabei muss zwischen Mobbing und sozialer Ablehnung unterschieden werden. Mobbing findet vorrangig in der Altersspanne von zwölf bis 18 Jahren statt. Das liegt an der Adoleszenz, aber auch dem vorherrschenden Umfeld – der Schule.

Wie unterscheidet sich soziale Ablehnung von systematischem Mobbing?

Der Unterschied ist, dass es beim Mobbing um das Erlangen und den Erhalt von Dominanz geht. Der Täter kann definieren, wie weit er gehen kann, um zu zeigen, dass ihm niemand etwas anhaben kann. Das nennt sich Definitionsmacht. Er zeigt Schüler:innen und Lehrer:innen, dass er sich alles erlauben kann. Dass dann viele daneben stehen und nichts machen, legitimiert das Mobbing. Von sozialer Ablehnung hingegen spricht man, wenn Kinder sozial nicht kompetent oder aggressiv sind und es ihnen schwerfällt, in einer Gruppe anzukommen.

Mobbing funktioniert also durch die schweigende Masse?

Mit der Unterstützung dieser. Durch soziale Anpassung neigen wir im sozialen Kontext dazu, das zu tun, was andere machen. Das zieht sich von der Schule bis in den Beruf. Dabei weiß die schweigende Masse, dass ihr Schweigen falsch ist. Moral ist dabei obsolet, der Gruppenmechanismus wirkt. Das kennen wir auch aus dem eigenen Freund:innenkreis, wenn etwas vorgefallen ist, wogegen hätte eingegriffen werden müssen, was aber nicht geschehen ist. Genau das macht die Definitionsmacht des Täters größer.

Gibt es typische Opfer?

Jede:r kann Opfer werden. Das passiert zufällig, der Kontext bestimmt. Ein Kind, das in seiner Klasse gemobbt wird, würde in einer anderen vermutlich nicht gemobbt werden. Ausschlaggebend ist der Täter und seine Dominanz. Er denkt sich: "Das ist ein geeignetes Opfer." Die Opfer denken: "Hier passiert etwas, warum hilft mir niemand? Es muss an mir liegen." Diese Hilflosigkeit ist der Stoff, aus dem später Depressionen entstehen können.

Wie blicken Opfer auf diese Erfahrungen zurück?

Sie haben etwas erlebt, das zwar immer mehr verblasst, sich aber durch Trigger schnell wieder aktivieren lässt. Zum Beispiel wenn man auf der Arbeit von einer Person schlecht behandelt wird. Dann entsteht eine Angst, dass Mobbing wieder losgeht. Das hat Einfluss auf die Lebensqualität.

Wie kann man sich von diesen Erfahrungen befreien?

Eine Befreiung könnte bedeuten, das Geschehene aufzuarbeiten. Aber das ist schwierig. Denn die Bedingungen, unter denen Mobbing stattfand, sind vergangen. Die Strukturen sind bei jungen Erwachsenen an der Uni oder in der Ausbildung andere als zu Schulzeiten. Man muss verstehen, was damals, als junger Mensch, vorgefallen ist. Durch Gespräche lassen sich diese Mechanismen des Mobbings verstehen.

Das fällt sicher nicht allen leicht.

Darüber möchte vermutlich keine:r reden. Es ist schambehaftet, weil die Gründe unbekannt sind. Ist das aber geschafft, gewinnt man sowohl neuen Gestaltungsspielraum als auch die Deutungshoheit über die Vergangenheit zurück.

Wie meinen Sie das?

Gestaltungsspielraum heißt, mit seinen Fähigkeiten, von denen man ja immer dachte, dass, was immer ich mache, es nicht funktioniert, zu merken: Es konnte in dem Kontext nicht funktionieren. Es heißt nicht, dass die eigenen Fähigkeiten wertlos sind. Man muss mit neuem Vertrauen an die eigene Stärke an die Sache herangehen. Deutungshoheit heißt, zu realisieren, dass Pech dabei war, es jede:n hätte treffen können. Die Opfer haben nichts falsch gemacht. Darüber sprechen ist eine Möglichkeit, dass Verstehen einsetzt. Das könnte die Befreiung sein. Das Phänomen Mobbing ist komplex: Man muss verstehen, wie die Erfahrung wirkt und was sie mit Menschen macht – gerade in Bezug auf eine Langfristigkeit. Das zu erforschen, ist aber gar nicht so leicht.

Warum?

Bei diesem Thema ist es schwer, präzise Dinge zu sagen und bewusste Befunde abzugeben. Das liegt vor allem daran, dass nur zurückblickend gearbeitet werden kann. Retrospektive Berichte sind in der Wissenschaft alles andere als der Goldstandard. Viele Erinnerungen sind durch Emotionen gefärbt, sachliches Zurückblicken ist schwer. Erinnerungen sind auch nicht immer abrufbar. Dazu verfälscht das heutige Befinden, wie es mir heute geht, häufig die Erinnerung. Wir arbeiten häufig mit Fragebögen, operieren verhaltensbasiert und fragen: "Wie hast du das wahrgenommen?" Das ist fehleranfällig, aber häufig hat man keine andere Wahl, denn vorausschauend lässt es sich nicht untersuchen. Außerdem ist es schwer zu bestimmen, wer ein Opfer ist.

Wieso ist das so?

Die Selektion der Stichproben kann ganze Befunde verfälschen. Denn es bräuchte eigentlich eine breite Studie, im breiten Kontext, mit Vielfalt. Man müsste die Lebensläufe vieler Menschen differenziert betrachten und sie befragen, was sie in ihrer Schulzeit erlebt haben. Stattdessen wird von kritischen Ereignissen ausgegangen und gesagt: "Wenn du heute eine psychische Erkrankung hast, wurdest du auch in der Schule gemobbt." Was erkenntnisgewinnende Aussagen angeht, ist das heikel. Häufig wird auch Korrelation mit Kausalität gleichgesetzt: Das heißt, dass von einem Ereignis als Ursache auf eine Wirkung geschlossen wird, obwohl dies nicht der Fall ist.

Wo können Opfer Hilfe finden?

Selbsthilfegruppen können hilfreich sein, bieten aber auch das Potenzial, dass man sich noch tiefer in die Erinnerungen eingräbt. Das ist auch nicht gut, so festigt sich die Erfahrung. Die Auseinandersetzung mit diesen Dingen gibt uns im Verhalten und im Denken großen Spielraum. Man könnte reflektieren, ob man in seiner alten Klasse selbst einem Opfer zu Hilfe gekommen wäre. Ich glaube, dass der richtige Weg ist, im vertrauten Kontext über die eigenen Erfahrungen zu sprechen. Man muss sich dabei von der Idee verabschieden, dass etwas passiert ist, das mit dem eigenen Wert zu tun hat. Das hat es nämlich nicht. Nichts tun ist jedenfalls immer die schlechteste Variante.

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