Thomas Curran: "Wir sollten Mitgefühl mit uns selbst haben"

Autor*innen
Anna Scheld
Mann rennt Treppe hoch in Richtung eines Schlüssellochs, in den Himmel.

Der britische Psychologe Thomas Curran forscht zu Perfektionismus. Das Streben nach Produktivität sieht er kritisch. Wann wird es zur Sucht?

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Herr Curran, in Ihrem Buch beschreiben Sie Perfektionismus als eine Eigenschaft, von der viele denken, sie sei gut. Als Gesellschaft glauben wir, Perfektionismus bedeute vor allem, hohe Ansprüche zu haben, nach großen Zielen zu streben, besonders fleißig und kämpferisch zu sein. Warum ist das ein Problem?

Weil es in Wahrheit ganz anders ist. Die meisten Menschen wollen perfekt aussehen, sich perfekt verhalten, das perfekte Leben führen. Darunter liegt aber jedes Mal ein sehr zerbrechlicher Selbstwert. Perfekt sein zu wollen ist wie eine Art Rüstung, um das wahre, verletzliche Ich vor Ablehnung zu schützen. Es braucht nur einen kleinen Fehler, ein falsches Wort oder einen falschen Blick, und die Perfektionismus-Rüstung zerbricht wie hauchdünnes Porzellan.

Thomas Curran 37, ist Assistenzprofessor für Psychologie an der London School of Economics. Sein Buch Nie gut genug ist soeben im Rowohlt Verlag erschienen.

Weil wir glauben, wir können nur akzeptiert und geliebt werden, wenn wir perfekt sind?

Ja, Perfektionismus bezieht sich immer auf soziale Beziehungen, auf andere Menschen. Das Gefühl, in Ordnung zu sein, ist eng verknüpft mit der Leistung, die wir erbringen. Sobald wir einen Fehler machen, eine Prüfung nicht schaffen oder ein Projekt auf der Arbeit schiefgeht, zerbricht die Fassade. Und es ist egal, wie viel man davor schon erreicht hat. Man fühlt sich nie gut genug. Erfolg und Bestätigung muss man sich und anderen immer wieder neu beweisen. Das ist ein Teufelskreis.

Dieser Zwang, sein wahres Ich zu verbergen und zu schützen, kann zu ernsthaften psychischen und körperlichen Krankheiten führen: Depression, Angststörungen, Bulimie. So schreiben Sie es in Ihrem Buch. Wie kann es so weit kommen?

Das sind natürlich die extremen Fälle. Wenn man sich nie gut genug fühlt, ist das mit ständigen Gefühlen wie Scham, Angst, Panik und Sorge verbunden. Das ist eine Abwärtsspirale, die zu allen möglichen Verhaltensweisen und Krankheiten führen kann. Zum Beispiel zu Selbstverletzung, Hoffnungslosigkeit, Burn-out und in extremen Fällen sogar Suizid.

Sie behaupten, jeder Mensch sei ein Perfektionist. Das fällt mir schwer zu glauben. Es gibt doch auch Menschen, die relativ frei von der Meinung und den Blicken anderer sind. Die gut mit ihren eigenen Fehlern und Rückschlägen umgehen können.

Ich verstehe das eher wie ein Spektrum. Einige Menschen haben sehr niedrige Perfektionismus-Anteile. Sie sorgen sich zwar auch darum, wie sie aussehen oder wie sie rüberkommen, aber nur in bestimmten Kontexten. Insgesamt beeinflusst es ihr Ich-Gefühl und ihr inneres Gleichgewicht nicht besonders. Andere sind in der Mitte des Spektrums: Es gibt Bereiche in ihrem Leben, da sind sie perfektionistisch und verletzlich, aber es gibt immer noch genug andere Bereiche, die das ausgleichen. Und wiederum andere leiden extrem, wie eben beschrieben.

"Manchmal sind wir einfach erschöpft"

Sie haben herausgefunden, dass der Drang zum Perfektionismus unter jungen Menschen sehr stark ausgeprägt ist. Dazu haben Sie 40.000 Studierende befragt. Hat Sie das Resultat überrascht oder bestätigt?

Es hat mich überrascht und besorgt. In meiner Forschung habe ich drei verschiedene Arten von Perfektionismus definiert: Selbstorientierten Perfektionismus – der betrifft Menschen, die absurd hohe Ansprüche an sich selbst haben. Fremdorientierten Perfektionismus – also Menschen, die unrealistische Erwartungen an andere Menschen haben. Und sozial vorgeschriebenen Perfektionismus – der bezieht sich auf Menschen, die denken, andere hätten unerreichbar hohe Ansprüche an sie. Vor allem letztere Art von Perfektionismus ist sehr stark angestiegen. Junge Menschen fühlen sich scheinbar immer mehr von außen unter Druck gesetzt.

Wie kann man sich von dem Gefühl befreien, niemals gut genug zu sein?

Wir müssen uns mit uns selbst verbinden, uns selbst spüren. Das ist, was uns fehlt, wenn wir ständig denken, dass wir nach außen hin perfekt sein müssen. Und wir müssen uns bewusst machen: Es ist nicht unsere Schuld, dass wir perfektionistisch sind. Es ist durch das System bedingt, in dem wir leben. Eines, das uns ständig in Form von Werbung oder Social-Media-Posts anschreit: Du bist nicht gut genug. Dir fehlt etwas. Kauf dies, tu das, dann bist du eine bessere Version von dir selbst! Das ist der Kapitalismus, der sich da in uns zeigt. Das ist schlimm. Aber wenn wir uns diesen Mechanismus bewusst machen, nimmt das die Verantwortung von uns selbst, das fühlt sich an wie eine Erleichterung: Ich bin nicht daran schuld.

Das ist also der Anfang: Verstehen, woher unsere Gefühle überhaupt kommen. Und wie können wir dann besser mit ihnen umgehen?

Wir sollten Mitgefühl mit uns selbst haben. Freundlich sein zu uns selbst. Wenn die Dinge gut laufen, sollten wir das genießen und uns darüber freuen. Und wenn sie mal nicht so gut laufen, sollten wir uns sagen, dass es schon okay ist. So, wie wir es einem Freund oder einer Freundin sagen würden. Wir sollten die Rückschläge in den größeren Kontext unseres Lebens setzen: Du hast schon viel erreicht in deinem Leben, dir sind Dinge gelungen. Du hast andere Bereiche, in denen es gut läuft.

Lassen Sie uns das auf eine konkrete Situation anwenden. Wenn zum Beispiel im Büro eine neue Person eingestellt wird, und ich habe das Gefühl: Mist, die ist viel schlauer und schneller als ich, ich kann nicht mithalten. Das triggert in mir Emotionen wie Wertlosigkeit, Stress, Nicht-gut-genug-Sein. Was kann ich mir in so einem Moment selbst sagen, um mir zu helfen?

Frage dich in so einem Moment: Warum bin ich überhaupt hier in diesem Büro? Warum mache ich diesen Job? Verbinde dich mit den Gründen, deinen ganz persönlichen Gründen. Vielleicht bist du hier, weil du diesen Job liebst, weil er dir Spaß macht. Am Ende wird das auch deine Arbeit beeinflussen. Wettbewerb wird irrelevant, wenn du empfindest, dass dein Job für dich bedeutend ist.

Was ist, wenn man Angst vor Kritik an der eigenen Arbeit hat, wie geht man damit um?

Dazu gehört Mut. Wenn du dich bei deiner Arbeit wie paralysiert fühlst oder prokrastinierst, weil du dich so vor der Meinung der anderen fürchtest, kann man sagen: Du tust das zu Recht, weil du wahrscheinlich wirklich von irgendwem kritisiert werden wirst. Die Angst kann dir also keiner so richtig nehmen. Aber es geht darum, zu spüren, dass die Kritik nicht so katastrophale Auswirkungen hat, wie du dir ausmalst.

Hat Ihr eigenes Buch Sie auf die Kritik vorbereitet, die Menschen daran geäußert haben, als es erschienen ist?

Es geht so. Ich bin auch ein Perfektionist, deshalb habe ich ja ein Buch darüber geschrieben. Ich habe mir Sorgen gemacht, kritisiert zu werden. Und wissen Sie, was? Ich wurde auch kritisiert. Aber es hat am Ende eben nicht so sehr wehgetan, wie ich dachte.

Was wurde kritisiert?

Dass ich diesen ständigen Wachstumswahn unserer westlichen Gesellschaft verurteile. Das hat manche Leute sehr geärgert.

Wachstum ist aber doch nicht immer etwas Schlechtes. Ist es nicht wichtig, sich als Mensch immer weiterentwickeln zu wollen?

Wenn ich Wachstum kritisiere, dann meine ich damit diesen Gedanken, dass wir uns in allen Bereichen ständig weiterentwickeln müssten: Im Job, in Beziehungen und so weiter. Dass wir als Individuen wachsen wollen, ist natürlich. Aber es gibt ein Limit. Wir werden älter, einige Dinge funktionieren nicht so gut wie früher, manchmal treten wir auf der Stelle, und all das ist doch zutiefst menschlich. Manchmal sind wir einfach erschöpft. Unsere moderne Kultur erlaubt uns aber nicht, uns dem hinzugeben, uns auszuruhen, zurückzulehnen und aufzuhören, nach mehr zu streben. Deshalb sind einige Leute ausgetickt, als sie mein Buch gelesen haben: Da kommt einer und sagt, Wachstum sei schlecht. Es sei schlecht, wenn man hart für etwas arbeitet und große Ambitionen hat.

"Wir müssen unser Versagen nicht ständig zu etwas Gutem recyceln"

Aber was ist denn mit gesundem Wachstum – weiser werden zu wollen, sein eigenes Verhalten besser zu verstehen, zufriedener mit sich zu sein?

Klar, die Art von Wachstum meine ich nicht. Natürlich ist es toll, zufriedener zu werden, sich als Mensch weiterzuentwickeln. Ich spreche in meiner Kritik nur von Produktivitätssucht, von diesem Mindset, niemals zur Ruhe kommen zu dürfen.

Es gibt Mindfulness-Apps, die uns helfen sollen, zu uns selbst zu kommen. Yoga ist zum Volkssport geworden. Klingt erst mal nach einem gesunden Weg zu sich selbst. Aber ist das nicht letztendlich auch eine Art gesellschaftlicher Zwang, eine bessere Version von sich selbst werden zu müssen?

Auch da ist es wichtig, sich seinen eigenen Weg zu bahnen. Wenn du Yoga machen möchtest, tu das. Aber nur, wenn du selbst das wirklich willst, du das innerlich so richtig spürst, wie es dir guttut. Tu es nicht, weil du es auf Instagram oder TikTok gesehen hast und so sein willst wie die Leute in dem Video. Denk dir nicht: Ich muss dieses Buch lesen oder jeden Tag meditieren, weil andere das machen. Das wird dich nicht glücklicher und nicht gesünder machen. Es geht vielmehr darum, herauszufinden, was dir wirklich Freude bringt. Und das bringt dich dir selbst näher.

Sie schreiben in Ihrem Buch: Wir müssen aufhören, ständig aus unseren Fehlern und Rückschlägen lernen zu wollen. Kann das nicht sehr heilend sein?

Manchmal können wir etwas daraus ziehen und daran wachsen, ja. Aber eben nicht immer. Manchmal hatten wir einfach einen schlechten Tag, manchmal gehen Dinge einfach schief, ohne dass es deine Schuld ist. Ich finde, wenn wir uns immer nur darauf konzentrieren, was wir von so etwas lernen können, dann geht uns etwas ganz Essenzielles verloren: dass jeder Fehler und jede Niederlage uns daran erinnert, dass wir als Menschen nicht perfekt sind. Wir dürfen Fehler machen und sind trotzdem liebenswert. Genau das zu verstehen, ist sehr gut für die mentale Gesundheit. Wir müssen unser Versagen nicht ständig zu etwas Gutem recyceln.

Kann es nicht auch etwas Gutes bewirken, wenn man sich selbst niemals gut genug ist? Ich stelle mir vor, dass zum Beispiel diejenigen, die den Covid-Impfstoff entwickelt haben, sehr verbissen daran gearbeitet haben und danach gestrebt haben, sich selbst zu übertreffen.

Fleißig und sorgfältig zu arbeiten, ist natürlich gut. Aber das ist etwas anderes als Perfektionismus. Perfektionisten können nicht gut damit umgehen, wenn sie etwas falsch machen. Sie beziehen einen einzigen Fehler auf ihren kompletten Selbstwert und halten keine Ungewissheit aus. Am Ende wird also auch ihre Leistung leiden.

Sie selbst kommen aus dem Arbeitermilieu, aus der kleinen Stadt Wellingborough in England. Ihre Eltern und einige Ihrer Freunde leben noch dort. Wenn Sie schon früher Ihre eigenen Muster als Perfektionist gekannt hätten, als jemand, der sich selbst niemals gut genug ist – hätten Sie dann einen anderen Weg eingeschlagen?

Ja, vielleicht hätte ich in Wellingborough bleiben und bei meinem Dad in der Baufirma anfangen sollen. Es wäre ein bescheideneres Leben gewesen, möglicherweise ein glücklicheres. Ich denke da auch an meine Freunde aus der Kindheit, die jetzt ein Haus und Familien haben. Ich selbst sehe zwar nach außen hin sehr erfolgreich aus: Ich bin Professor an einer der renommiertesten Universitäten für Sozialstudien auf der Welt. Aber ich habe nicht mal ein Haus! Ich kann es mir nicht leisten, im Umkreis von 45 Minuten von meiner Arbeit zu wohnen. London ist zu teuer. Ich zahle immer noch mit 37 Jahren meinen Studienkredit ab. Vielleicht hätte ich mich anders entschieden, hätte ich damals schon all das gewusst, was ich heute weiß. Aber ich bereue nichts.

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