Cyberchondrie: Morgens Bauchspeicheldrüsenkrebs, mittags Darmdurchbruch

Autor*innen
Madeleine Londene
Ein Diagramm von menschlichen Lungen, vor dem drei Personen in weißen Kitteln stehen und jeweils zeigen, Notizen machen, und ein Stethoskop an die Lungen halten.

Bei jedem Ziehen oder Zucken sucht Ronja im Internet nach einer Krankheitsdiagnose, oft stundenlang. Bis sie vom Suchen krank wird. Sie leidet an Cyberchondrie.

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Es ist fünf Uhr morgens, Ronja liegt hellwach in ihrem Bett und spürt ihren Herzschlag bis zum Hals. Es klopft schneller als sonst, oder nicht? Zieht es da nicht in ihrem rechten Arm? Ronja ringt nach Luft, ihre Brust fühlt sich eng an. Hat ihr Herz gerade einen Schlag ausgesetzt?

Beim Googeln neulich hatte sie gelesen, dass Herzstolpern ein Vorbote für einen Herzinfarkt sein kann. Alle Symptome passen, das muss es sein. Sie ist zwar erst 17 Jahre alt, aber in einem Artikel hatte sie neulich gelesen, dass auch junge Menschen daran sterben könnten. Weil sie es so allein in der Dunkelheit mit ihren Gedanken nicht aushält, springt sie auf und schlüpft zu ihrer Mutter unter die Bettdecke. Für einen kurzen Moment fühlt sie sich sicher – dann hallt es wieder durch ihren Kopf: "Diese Nacht überlebe ich nicht."

So sah Ronjas Alltag vor zwei Jahren aus. Er war bestimmt von Angst. Einer permanenten, alles überschattenden Angst davor, krank zu werden. Das, was Ronja hat, bezeichnen Expert:innen als Hypochondrie und Cyberchondrie – also eine extreme Angst davor, krank zu werden in Kombination mit einer exzessiven Internetrecherche.

Statistisch lässt sich belegen, dass sich rund 80 Prozent aller Internetnutzer:innen regelmäßig zu ihrer Gesundheit im Internet informieren. Zu diesem Ergebnis kommen einige Studien, wie die vom Office for National Statistics aus England. In einer anderen Studie aus dem Jahr 2010, bei der mehr als 12.000 Menschen aus 12 Ländern befragt wurden, kam heraus, dass die Hälfte von ihnen Google für eine Selbstdiagnose nutzen.

"Das ist per se nichts Schlechtes", sagt Stefanie Jungmann von der klinischen Abteilung für Psychologie der Universität Mainz. Cyberchondrie ist einer ihrer Forschungsschwerpunkte – ein bisher wenig erforschtes Gebiet, das aber in den vergangenen Jahren immer mehr an Aufmerksamkeit gewann. Es komme auf die Qualität der Information an, sagt Jungmann, und auf die Häufigkeit, Dauer und Belastung durch die Suche. Viele könnten nicht einschätzen, ob die Seite, die sie gerade aufgerufen haben, eine seriöse Quelle ist, der sie vertrauen können, oder nicht. Wie viel Prozent der Bevölkerung an Cyberchondrie leiden, dazu gibt es noch keine konkreten Studien.

Die Merkmale von Cyberchondrie sind recht klar definiert. "Es handelt sich hier um eine exzessive und wiederholte gesundheitsbezogene Internetrecherche, die mit emotionalen Belastungen – meistens Angst – verbunden ist", sagt Jungmann. Wer zum Beispiel lange Zeit und wiederholt im Internet nach Krankheiten googelt, seinen Alltag – wie zum Beispiel seine Arbeit, der Vorlesung an der Uni oder Treffen mit Freund:innen – dafür unterbricht oder sogar absagt und sich im Anschluss der Recherche mehr Sorgen macht, hätte ein höheres Risiko, an Cyberchondrie zu leiden. Je nachdem, wie ausgeprägt diese Merkmale sind, desto wahrscheinlicher ist eine Cyberchondrie. Bei Ronja traf alles zu.

"Cyberchondrie ist keine psychische Störung und daher auch nicht als Diagnose in DSM oder ICD zu finden (Anm. d. Red.: den Klassifikationssystemen für psychische Krankheiten). Es handelt sich um ein Verhaltensmerkmal", sagt Jungmann. Das bedeutet, dass Cyberchondrie nur eine Begleiterscheinung einer anderen, meist tiefer liegenden psychologischen Erkrankung ist, wie zum Beispiel einer Angststörung oder Zwangsstörung.

"Durch die Internetsuche erhoffen sich Betroffene häufig eine Entlastung. Meistens ist aber das Gegenteil der Fall, wenn die Suche nach Ursachen von Symptomen eher beunruhigt statt beruhigt", sagt Jungmann: Es könne zu einem Teufelskreis aus Rückversicherung und Verunsicherung kommen: Man sucht, um Entlastung zu bekommen, wird stattdessen verunsichert, und beginnt eine erneute Suche. Studien, wie die der Humboldt Universität zu Berlin, haben herausgefunden, dass bei Internetsuchen die Faustregel gilt: Emotion schlägt Information. Das heißt, emotionale Beiträge werden häufiger angeklickt und regen die Gehirnaktivität stärker an als trockene Schlagzeilen. Das Resultat nach dem vielen Klicken sei bei den Betroffenen oft: noch mehr Angst.

Ich dachte beim Frühstück an Bauchspeicheldrüsenkrebs, beim Mittagessen an Darmdurchbruch
Ronja

"Ich hatte schon immer ein ausgeprägtes Gespür für meinen Körper. Aber im Frühjahr 2020, kurz vor den Abiturprüfungen, ist es wirklich schlimm geworden", sagt Ronja. Die Dinge um sie herum kann sie nicht kontrollieren, dafür aber ihren Körper, das denkt sich Ronja damals. Der Druck und der Lernstress setzen ihr zu. Vor allem beim Schlafengehen, wenn es dunkel und still ist, nimmt sie ein Zucken oder ein Ziehen noch deutlicher wahr. "Dann habe ich immer gehofft, dass es einfach schnell hell draußen wird und ich endlich zur Schule gehen kann, um mich abzulenken." Zumindest bis zum nächsten Abend, bis alles wieder von vorne anfängt.

Leberversagen, Arteriosklerose, Nackenverspannungen, Herzstolpern, Tuberkulose, Darmkrebs, Reflux, Mittelohrentzündung, Covid-19, Depressionen, Hepatitis B, Hautkrebs, Gelbsucht, Tetanus, Windpocken und die Pest: Das ist Ronjas Suchverlauf auf ihrem Computer und ihrem Handy. Zu jeder dieser Krankheiten kennt sie den lateinischen Begriff, die Symptome und den Krankheitsverlauf auswendig.

"Ich dachte beim Frühstück an Bauchspeicheldrüsenkrebs oder eine Gefäßverkalkung. Beim Mittagessen dann an Darmdurchbruch, beim Sport an einen Schlaganfall und beim Gassigehen an Schuppenflechte", sagt Ronja. Jeden Tag diagnostiziert sie sich mit einer anderen Krankheit.

Stundenlang liest sie im Internet nach, wie man so gesund wie möglich leben kann. Überzeugt, dass sie nicht krank wird, wenn sie sich an alle diese Dinge hält, erarbeitet Ronja eine Art "Überlebensformel": Mindestens 10.000 Schritte und fünf Portionen Obst und Gemüse am Tag, keine Tierprodukte, kein Brot, kein Alkohol, mindestens drei Liter Wasser täglich, mindestens alle zwei Tage joggen. Nach dem Sport dehnt Ronja jede Sehne, jede Faser in ihrem Körper, nach dem Duschen muss sie sich überall eincremen. Kein Fleck Haut darf vergessen werden. Läuft sie mal 100 Schritte oder trinkt ein Glas zu wenig, bekommt sie Panik – ein Herzinfarkt oder eine Lungenembolie rücken näher. Zumindest in ihrem Kopf.

Jungmann kennt Geschichten von Betroffenen wie diese: "Es gibt keinen Typ Mensch, der per se besonders anfällig dafür ist, Cyberchondrie zu bekommen", sagt Jungmann. Es sei ein Zusammenspiel von mehreren Faktoren und Persönlichkeitsmerkmalen. Studienergebnisse, wie zum Beispiel Jungmanns eigene Studie aus dem Jahr 2021, weisen darauf hin, dass Menschen mit einer niedrigen Unsicherheitstoleranz eher dazu neigen, erhöhte Werte in Cyberchondrie zu entwickeln. Dazu zählen zum Beispiel Personen, bei denen Unsicherheit und Unkontrollierbarkeit eher Unbehagen auslösen. Also Menschen, die ein möglichst stabiles Leben haben möchten, Dinge vorhersehen und immer wissen wollen, was als nächstes passiert. "Es geht um Kontrolle", so Jungmann. Doch was mit dem Körper passieren könne, darauf hätten wir meistens keinen Einfluss. Und das könnten und wollten viele nicht wahrhaben.

Ronja weiß, dass ihr das nicht guttut. Doch sie kann es nicht lassen

Ronja redet nur mit ihrer besten Freundin über ihr Problem. Um sich vor sich selbst zu schützen, erteilt sie sich Internetverbot. Stattdessen bittet sie nun ihre Freundin darum, Symptome für sie im Unterricht nachzuschlagen, wenn ihr Arm mal wieder schmerzt oder der Kopf juckt. Eigentlich weiß Ronja, dass ihr das nicht guttut. Doch sie kann es nicht lassen. 

Mehrmals pro Tag misst Ronja ihren Puls. In der Schule nach jeder neuen Schulstunde mit dem Finger am Hals, zu Hause mit einem Pulsgerät. Weil sie ihrer eigenen Einschätzung nicht mehr traut, muss ihre Mutter das schon bald für sie tun. Sie überredet ihre Mutter, einen Erste-Hilfe-Kurs zu besuchen, damit sie sich daheim sicherer fühlen kann. Doch auch das reicht Ronja irgendwann nicht mehr: "Wir fuhren drei- bis viermal die Woche ins Krankenhaus, weil ich mir einbildete, ich hätte irgendwas."

Die unbequeme, blaugrüne Liege im Krankenhaus wird zu Ronjas zweitem Zuhause. Mittlerweile kennt sie den Ablauf auswendig: Blutdruckmessen, Sauerstoffversorgung und Puls prüfen, Herzschlag und Lunge mit dem Stethoskop abhören. Und Blut abnehmen. Darauf besteht Ronja jedes Mal in der Ambulanz. Mittlerweile ist ihr Arm voller Einstiche. Weil ihre Venen sehr dünn und schlecht zu sehen sind, pieken manche Ärzt:innen ihr stattdessen in ihr Handgelenk.

Eine Ärztin oder ein Arzt müssen ihr noch im Krankenhaus bestätigen, dass alles in Ordnung sei, sonst kann sie nicht nach Hause fahren. Erst dann, wenn Ronja ein kleines Pflaster auf die Einstichwunde geklebt bekommt, fühlt sie sich erleichtert, ihr Atem wird gleichmäßiger, ihre Glieder entkrampfen sich. Dann denkt Ronja für einen kurzen Augenblick, dass die Welt ein sicherer Ort ist und ihr nichts passieren kann. "Die Ärzt:innen haben mich oft mit den Worten ‘Bis zum nächsten Mal’ verabschiedet."

Es ist ein Tag im Mai 2020, der alles verändert hat: Ronja, mit tiefen Augenringen, und ihre Mutter sitzen im Auto auf dem Weg in die Notaufnahme. Da sagt ihre Mutter: "Ich kann nicht mehr." Und bittet Ronja, sich Hilfe zu suchen. "Meine Mutter hat ihre Bedürfnisse immer hinten angestellt. Oft hat sie vor Sorge und Stress tagelang nur Brühe essen können und kaum geschlafen", sagt Ronja. "Ich habe mich unglaublich schuldig gefühlt."

Wir fuhren drei- bis viermal die Woche ins Krankenhaus, weil ich mir einbildete, ich hätte irgendwas.
Ronja

Ronja weiß, dass es so nicht weitergehen kann. Sie holt sich Hilfe und beginnt eine Notfalltherapie, die alle sechs bis acht Wochen stattfindet. Ein Psychologe stellt Hypochondrie und eine Angststörung bei ihr fest. Mit dem Therapeuten spricht Ronja über ihre Probleme und darüber, wie sie besser mit ihrer Krankheit umgehen kann. Zu Hause beginnt sie damit, Tagebuch zu schreiben und ihre Erfahrungen in Gedichten zu verarbeiten. "Am Anfang habe ich die Therapie für meine Mutter gemacht, um sie zu entlasten. Irgendwann habe ich gemerkt, wie gut mir das Reden und Schreiben tut."

Auch Jungmann kennt ein paar Strategien, um Cyberchondrie zu reduzieren. Zum Beispiel helfe es, vertrauensvolle und seriöse Quellen, wie die Informationsseite des RKI oder die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung zu kennen und wenn man schon recherchiere, nur diese zu verwenden. Von Foren und Websites rät Jungmann ab. Bei sehr großer Belastung durch die Cyberchondrie wäre es immer ratsam, eine:n Psycholog:in aufzusuchen.

Spezielle Therapiemöglichkeiten für Cyberchondrie gebe es noch keine. Dafür wäre die Erscheinung zu neuartig. "Ob cyberchondrisches Verhalten in einer psychotherapeutischen Behandlung separat, begleitend zu einer damit zusammenhängenden psychischen Störung oder mitbehandelt wird, kann nicht pauschal beantwortet werden", sagt Jungmann. "Das kann im individuellen Fall stark variieren." Einige Interventionen, wie Verhaltenstherapien, zielen auf einen besseren Umgang mit Krankheitssorge und Unsicherheit und Unkontrollierbarkeit ab.

Im Sommer 2020 kehrt in Ronjas Alltag ein wenig Ruhe ein: Sie besteht das Abitur und der Stress fällt weg. Die Hypo- und Cyberchondrie bleibt, doch Ronjas Zustand verbessert sich. "Mir hat es vor allem geholfen, meine vermuteten Krankheiten laut auszusprechen", sagt sie. "Dann merkt man, wie absurd und realitätsfern das klingt."

Heute kämpft Ronja nur alle drei Monate mit dem Verlangen, etwas im Internet nachzuschlagen oder ins Krankenhaus zu fahren. Sie wohnt in einer WG in Leipzig und geht weiterhin zur Therapie. "Ich habe auch gemerkt, dass nichts Schlimmes passiert, wenn ich mal eine Pizza esse oder eine Woche keinen Sport mache", sagt Ronja.

Für die Zukunft hat sich Ronja keine Ziele gesteckt. Ronjas Therapeutin hat ihr gesagt, dass Dinge nie ganz weggehen, sondern sich verschieben. Eine Clownsphobie zum Beispiel kann sich in eine Spinnenphobie verwandeln oder die Angst vor der eigenen Mutter in Höhenangst. Man kann Dinge nicht einfach wegtherapieren, sondern muss einen Umgang damit finden. "Es gibt nun mal Phasen, in denen es mehr ausbricht, mal weniger. Man muss den Zustand und sich selbst akzeptieren. Auch ein Rückschlag bedeutet nicht, dass alles gleich wieder auf null ist." Sie mache sich keinen Druck und konzentriere sich darauf, ihr Leben, den Moment, zu genießen. Das, was bei all ihren Sorgen oft viel zu kurz gekommen ist. 

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