Die Karrierefrage: Bin ich arbeitssüchtig – und wie merke ich das?

Autor*innen
Deike Uhtenwoldt
Mann in Anzug stemmt roten Balken auf seinen Schultern

Viel zu arbeiten gilt als tugendhaft und hat einen guten Ruf. Dabei kann Arbeit auch zur Sucht werden – fast wie Alkohol oder Drogen. Wo die Grenzen verlaufen.

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Vor sechs Jahren hat Melanie Bartsch noch Gehölze im Labor gezüchtet, Vorlesungen gehalten, ein Graduiertenkolleg betreut. "Ich hatte eine feste Stelle, was als Wissenschaftler ja fast wie ein Sechser im Lotto ist", sagt die promovierte Molekularbiologin. Eingelöst hat sie den Lottoschein allerdings nicht. Heute veröffentlicht sie selbst gezeichnete Kacheln mit floralen Mustern oder geometrischen Formen auf Instagram: Bartsch hat sich als Achtsamkeitstrainerin für Leistungsträger selbständig gemacht, das meditative Zeichnen ist ihr Markenkern. Und das hat auch mit ihrer eigenen Geschichte zu tun. Denn was in der Promotion noch "in Ordnung" war, 90 Stunden zu arbeiten und sich mit Hingabe einem Thema zu widmen, passte in der Familienphase mit zwei kleinen Kindern nicht mehr.

"Irgendwann entsteht Raubbau", sagt Bartsch. Die Wissenschaftlerin merkte, wie der eigene Energiehaushalt und die Lebensfreude bröckelten und dass weder Schlaf noch Yoga oder Meditation halfen. Schließlich buchte sie ein Coaching. Dort sagte man ihr, dass sich ihre Symptome erst einmal verschlimmern würden, bevor Besserung eintreten würde. Und so kam es auch: wenig später war der Burnout da. "Wenn man sich mental öffnet, passiert eine Kettenreaktion, erst im Körper, dann im Leben – und dann ist das eine Zäsur", sagt Bartsch. Als arbeitssüchtig möchte sie sich nicht bezeichnen. "Aber es ist spannend, durch diesen Begriff über das Thema des gesunden Maßes nachzudenken", findet sie.

Abhängig zu sein gilt als Schwäche, selbst wenn es sich nicht um Alkohol, sondern um Arbeit handelt. Aber wo genau verläuft die Grenze zwischen Last und Lust, Überforderung und Erfüllung, zwischen Leiden und Leidenschaft? Die Dosis macht bekanntlich das Gift, aber die 90-Stunden-Woche allein noch nicht arbeitssüchtig. "Solange man aus der Arbeit Energie zieht und anderen Lebensbereichen Raum geben kann, arbeitet man nicht suchthaft", sagt Soziologin Beatrice van Berk. Erst wenn exzessiv und gleichzeitig zwanghaft gearbeitet wird, entstehe eine Arbeitssucht. Zehn Prozent aller Erwerbstätigen in Deutschland könnten davon betroffen sein, hat eine Befragung ergeben, die van Berk im Auftrag ihres Arbeitgebers, des Bundesinstituts für Berufsbildung (BIBB), auswertet.

Landwirte, Selbständige, Führungskräfte

Die wissenschaftliche Mitarbeiterin beschäftigt sich mit der Frage, welche Gruppen besonders anfällig sind und zählt Landwirte (19 Prozent), Selbständige (knapp 14 Prozent) und Führungskräfte (12,3 Prozent) auf. Das überrascht auf den ersten Blick nicht, denn je mehr die eigene Existenz von der Arbeit abhängt, umso schwerer fällt es, sich kognitiv davon freizumachen. Die Zahlen allerdings rechtfertigen den Begriff "Managerkrankheit" nicht, der vor 20 Jahren noch ein Synonym für die Arbeitssucht war. "Dauerhaft im Wettlauf mit der Zeit zu sein, sich verpflichtet fühlen, hart zu arbeiten und das schlechte Gewissen, wenn man sich frei nimmt – das betrifft eben nicht nur Führungskräfte", zählt van Berk typische Suchtmerkmale auf.

Die Alarmglocken sollten spätestens schrillen, wenn nicht nur die Schaffenslust, sondern die Lebensfreude insgesamt schwindet, man aber gleichzeitig vom Job nicht loskommt. Nicht mal bei Krankheit, im Urlaub oder nachts, weil sich dann Herzrasen, Schlafstörungen oder stark schwankende Emotionen bemerkbar machen: Entzugserscheinungen, die zusammen mit dem Kontrollverlust Kennzeichen einer Sucht sind. Im Fall der Workaholics ist die Behandlung aber schwieriger als etwa bei einer Spiel- oder Onlinesucht, weil es sich noch nicht um ein anerkanntes Krankheitsbild handelt und man die Süchtigen nicht dauerhaft auf Entzug setzen möchte.

"Es sollte anerkannt werden, dass auch das Arbeitsverhalten einen pathologischen Charakter bekommen kann", fordert Stefan Poppelreuter, Arbeitssuchtexperte beim TÜV Rheinland. Als der Psychologe vor knapp 30 Jahren über das Thema promovierte, betrat er Neuland. Inzwischen bekommt er Anfragen von Betroffenen, aus ihrem Umfeld oder sogar von Unternehmen, die nicht nur für stoffliche Abhängigkeiten sensibilisieren, sondern auch explizit Arbeitssüchtige unterstützen wollen. Insgesamt sei das aber noch nicht die Regel: "Die Problematik wird nach wie vor unterschätzt und das Thema belächelt", so Poppelreuter. Ähnlich wie beim Alkoholismus in den Sechzigerjahren gelte es als Charakterschwäche: Man muss nur wollen, dann komme man schon davon los.

Irgendwann bröckelt die Fassade

Dabei ist die Einsicht in das Problem gering, solange sich extrem belastete Menschen an die Fassade der Normalität klammern. Diese fängt an zu bröckeln, sobald körperliche Beschwerden und der Druck von außen zunehmen. "Das ist jetzt schon die zweite Ehe, die wegen meines Arbeitsverhaltens in die Brüche gegangen ist, ich muss etwas ändern", zitiert Poppelreuter Betroffene. Auf dem Weg zur Verhaltensänderung unterstützten Selbstreflexion, ambulante Therapien und Selbsthilfegruppen: "Analog zu den Anonymen Alkoholikern haben diese aber bisweilen einen spirituellen Charakter und sprechen nur eine bestimmte Klientel an", sagt der Psychologe.

Bei einem Burnout geht oft nichts mehr. Schon gar nicht die Verhandlung mit der Krankenkasse um Hilfen und Privatleistungen. Im Fall von Melanie Bartsch war es der Ehemann, der einen stationären Aufenthalt in einer Privatklinik durchboxte. "Es war eine andere Welt und dieser Ort hat mir unglaublich gut getan", erzählt sie. Umgeben von Natur und jeder Menge Kraftquellen, fand Bartsch zum meditativen Zeichnen, "Zentangle" genannt. Die Muster aus Punkten, Linien und Kreisen weckten das Interesse der Mitpatienten und Bartsch bot noch in der Klinik Workshops an. Damit war der Keim für ihre Kündigung an der Uni und Selbstständigkeit gesät, auch wenn das viel Geduld und Mut brauchte. "Ich wollte eine echte Veränderung", sagt die Gründerin von "Anstifter".

Egal, ob Führungskräfte oder Mitarbeiter, das Stresslevel sei bei allen hoch, berichtet Bartsch aus ihren Workshops. Denn auch wenn in der Öffentlichkeit Themen wie Work-Life-Balance, Vier-Tage-Woche und das Ende der Überstunden dominieren, sprechen Beschäftigte von Zeitdruck und Arbeitsverdichtung. "Wer arbeitet zu viel im Homeoffice, das ist ein größeres Thema als die Frage, wer zu wenig arbeitet", sagt Stefan Poppelreuter. Dazu komme der Fachkräftemangel etwa in der Pflege, Gastronomie oder bei der Polizei: "Es gibt jede Menge Branchen, die zu wenig Personal haben und dennoch ihre Leistungen bringen: Das geht nur über Mehrarbeit derer, die noch da sind." Der Wirtschaftspsychologe erwartet, dass psychische Erkrankungen am Arbeitsplatz zunehmen.

Berufseinsteiger sind eher betroffen als alte Hasen

"Ein gutes soziales Umfeld kann ebenso schützen wie eine Betriebskultur, die auf Regeneration achtet", sagt Beatrice van Bark. In kleineren Betrieben seien Arbeitssüchtige häufiger anzutreffen als in großen Firmen mit Betriebsrat und Regularien für Urlaubsvertretungen und Überstunden. Berufseinsteiger eher betroffen als die alten Hasen: "Mit dem Alter sinkt die Tendenz, suchthaft zu arbeiten, das haben auch andere Studien bestätigt", so die 30-Jährige. Über die Gründe kursierten Vermutungen. Die positive: 55-Jährige hätten schon Karriereziele erreicht und müssten sich nicht mehr verpflichtet fühlen, hart zu arbeiten. Die negative: Wer in jungen Jahren suchthaft gearbeitet hat, steht dem Arbeitsmarkt später nicht mehr zur Verfügung. "Das ist nicht unplausibel", so van Bark, "der schlechtere Gesundheitszustand suchthaft Arbeitender ist wissenschaftlich belegt."

Eine Onlinestudie hat die Generationen X und Y miteinander verglichen und festgestellt, dass der Wunsch nach Selbstverwirklichung und Individualisierung bei den Jüngeren nicht vor Arbeitssucht schützt. Mitautor Poppelreuter würde das auch auf die nächste Generation übertragen: "Sinnorientierung ist auch Arbeit, es gibt auch Workaholics in der Generation Z." Ihn selbst hat das Promotionsthema darin unterstützt, Arbeitsethos und Perfektionismus zu hinterfragen und sich zuzugestehen: "Jetzt ist mal genug!"

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