Selbstverwirklichung im Beruf: Zu viel Sinn macht krank

Autor*innen
Katrin Wilkens
Ein Mann sitzt auf Papier, das mehrere Kurven und Abzweigungen macht

Die Arbeit ist erfüllend, der Job ein Ort für Selbstverwirklichung? Wer das glaubt, erwartet von seinem Beruf meist mehr, als dieser liefern kann.

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Dieser Artikel ist Teil von ZEIT am Wochenende, Ausgabe 09/2024.

Die Suche nach dem Sinn der Arbeit beginnt oft mit Tränen. Bei vielen meiner Klienten ist das so, wenn sie mir ihr Leid schildern. Ein Lehrer aus Hamburg etwa sieht keinen Sinn mehr darin, "Kindern etwas beizubringen, was morgen schon wieder veraltet ist". Eine Hausärztin verzweifelt am Krankenkassensystem und damit an ihrer zwölfjährigen Ausbildung: "Vielleicht sollte ich lieber Coach werden? Da mache ich wenigstens etwas Wertvolles!" Ein Vertriebler, der sein Jahreseinkommen von 300.000 Euro mit einem Burn-out bezahlt hat, sucht nun das Weiche, Nahbare, eine Unverletzlichkeitsgarantie für die Zukunft: "Ich will kein Geld, ich will Sinn", fleht er. "Vielleicht hält mich das künftig gesund."

Vor zwölf Jahren habe ich eine Beratungsfirma gegründet. Mein Job ist es, für andere neue Jobs zu suchen. Anfangs kamen vor allem Mütter nach der Babypause, inzwischen sind es auch viele Männer. Mit mehr als 2.500 Menschen habe ich intensive Gespräche über ihr Berufsleben geführt. Erschreckend: Jedes Jahr muss ich eine ständig wachsende Zahl von ihnen direkt zur psychiatrischen Akutambulanz schicken. Manchmal telefoniere ich mit ihren Hausärzten, weil ich fürchte, sie könnten sich etwas antun. Ratlos, niedergeschlagen, oft genug weinend sitzen sie vor mir, weil sie von ihrem alten (oder dem erhofften neuen) Job etwas erwarten, was er ihnen kaum geben kann: Sinn.

Sinn ist das große Versprechen von New Work, der dominierenden Arbeitsplatzideologie der jüngeren Vergangenheit. Ihre Fans verwenden lieber die englische Bezeichnung, purpose. Das Große und Ganze in der kleinen Welt des Einzelnen, formuliert in jeder Stellenausschreibung: Arbeit als Erfüllung. Als Mittel zur Selbstverwirklichung. Du willst die Welt verändern oder zumindest ein kleines bisschen besser machen? Dann komm zu uns! Wir sind eine große Familie. Hier kannst du etwas Sinnvolles tun.

Vergiss es! Die simple Wahrheit ist: Zu viel Sinn macht krank.

Sinn ist zu einem Tchibo-Themenwochen-Wert verkommen. Geht immer. Braucht jeder. Hinterfragt keiner. Schon in der Schule. In der "Aktion Schulstunde" des RBB wird Material für den Online-Unterricht der Klassenstufen drei bis sechs angeboten. "Arbeit und Sinn" heißt eine Einheit. "Nicht immer arbeiten Menschen nur, um Geld zu verdienen. Es gibt unterschiedliche Lebensentwürfe: Viele wollen mit ihrer Arbeit etwas Sinnvolles tun. Was also macht Arbeit schön?" Bereits in der Grundschule lernen Kinder, dass Arbeit ohne Sinn "nicht schön" ist. Kann man die Vorstellung, nicht nur für Geld, sondern auch für Sinn zu arbeiten, subversiver einimpfen?

Als Erwachsene werden sich diese Menschen die passenden Sprüchlein an die Wand pappen. Oder auf ihre Profile bei LinkedIn, der Plattform für "berufliche Identität":

"Liebe, als ob du niemals verletzt worden wärst. Tanze, als ob niemand zusieht. Arbeite, als ob du kein Geld brauchst." (Satchel Paige)

"Der einzige Weg, großartige Arbeit zu leisten, besteht darin, zu lieben, was du tust." (Steve Jobs)

"Wähle einen Beruf, den du liebst, und du brauchst keinen Tag in deinem Leben mehr zu arbeiten." (Konfuzius)

Wenn ich solche Sprüche auf shabby chic-abgewetzten, weiß gebeizten Holzbrettchen an Küchenwänden oder auf Instagram-Kacheln sehe, weiß ich: Hier wird Arbeit als Amalgam aus Religion, New Work und Bullshit verstanden. Hier muss man vorsichtig sein mit Sätzen wie "Ich arbeite, um Geld zu verdienen" oder "Einer muss es ja machen". Hier herrscht akuter purpose-Alarm mit Burn-out-Garantie.

Die krankheitsbedingten Fehlzeiten im vergangenen Herbst haben das ohnehin schon hohe Niveau des Vorjahresquartals noch übertroffen, teilt die Krankenkasse DAK mit. Verantwortlich dafür sei "vor allem ein erneuter Anstieg bei den psychischen Erkrankungen".

Vielleicht hat der massive Anstieg der seelischen Belastungen auch damit zu tun, dass viele Betroffene es in ihrem Kopf einfach nicht zusammenkriegen: dass die stumpfsinnige Alltagsroutine ihres Jobs im Büro, an der Werkbank oder im Lager angeblich Sinn stiften soll. Oder sie erfüllt. Schlimmstenfalls: sie als Menschen überhaupt erst definiert.

Ich bin 1971 geboren, meine Eltern haben den Zweiten Weltkrieg noch erlebt. Sie haben mich mit den typischen Durchhalteparolen der Nachkriegszeit erzogen: "Im Sitzen verliert die Arbeit ihren Charakter", "Schnauze, weiterschwimmen, in Amerika wird gehalten" oder "Hilf dir selbst, so hilft dir Gott". Mein Vater ging morgens um 8 Uhr zur Arbeit, kam mittags heim, ging nach dem Essen bis 17 Uhr weiterarbeiten. Danach: Feierabend. Wenn ich ihn am Wochenende jemals gefragt hätte, was der Sinn seiner Arbeit gewesen ist, hätte er ratlos geschaut oder stumm auf die Thüringer Klöße gezeigt, die es jeden Sonntag bei uns gab. Man arbeitet, um zu essen. Punkt. Hast du deine Hausaufgaben schon gemacht?

Weil "purpose" Glanz verleiht, wird er ökonomisch verwertbar

Diese Generation hätte es brutal verspottet, wenn ich mit 20 nach einem purpose gesucht hätte. Viel zu tief saß bei ihnen der Wiederaufbauwille. Statt an Sinn hielt man sich an Pflicht. Unsere Elterngeneration hat nach dem Krieg vor allem eins: funktioniert. Heute werden wir aber nicht mehr zum Funktionieren erzogen, sondern zu kreativen Individuen. (Motto: "Jedes Kind ist einzigartig.")

Klingt erst einmal gut. Aber führt das auch zu etwas Gutem?

"In diesem totalitären System der Einzigartigkeit gilt nur das Besondere", schreibt der Professor für Wirtschaftspsychologie Ingo Hamm in seinem Buch Sinnlos glücklich. "Eine Durchschnittsbiografie oder -karriere reicht nicht mehr. Und da wir nur zu gut wissen, dass wir selbst meist nichts Besonderes sind, leihen wir uns nach guter Praxis des Komplementärnarzissmus etwas vom Glanz wahrhaft großer Größen – zum Beispiel vom Glanz des noble purpose unseres Unternehmens."

Die Frage, was der Sinn des Lebens sei, konnte noch niemand überzeugend beantworten. Die Frage, was der Sinn der Arbeit sei, wird seltsamerweise ständig beantwortet: Kaum ein Unternehmen, das seinen purpose nicht in einem mission statement niedergeschrieben hat.

Die Wirtschaftsprüfer von Deloitte wollen "eine Wirkung erzielen, die zählt". Was immer da zählt und in welcher Einheit, allein diesem "Purpose" diene ihre ganze "Existenz". "First move the world" heißt es bei Mercedes – als Erstes die Welt bewegen. Das sei nicht nur "Purpose", sondern auch "Teil der DNA". Dabei bauen sie dort Autos.

Starbucks wähnt sich auf einer Mission, so wie früher die Kirchen. Die Mission von Starbucks lautet natürlich nicht, in möglichst hoher Taktung teuren Kaffee in Einwegbechern zu verkaufen, sondern "die unbegrenzten Möglichkeiten der menschlichen Verbindung" zu fördern.

"Wer einem höheren Zweck dient, fühlt sich nicht so leicht ersetzbar, austauschbar, als Wegwerfware des Turbokapitalismus", schreibt Hamm. Also geht es nicht so sehr um den Sinn für andere, sondern um den eigenen. Damit hört das Edle aber auch schnell auf: Meist helfen wir anderen, weil wir uns selbst helfen wollen. So einfach, so egoistisch.

Weil purpose strahlt und seinerseits Glanz verleiht, wird er ökonomisch verwertbar. Denn purpose zu behaupten, kostet Unternehmen nichts. Wenn sich Beschäftigte aber davon überzeugen lassen, stärker für einen vermeintlich höheren Zweck zu arbeiten als (in erster Linie) für Geld, dann braucht man ihnen von Letzterem vielleicht auch nicht so viel zu geben. Kurz: Wenn Sinn und Geld erst einmal gleichberechtigt nebeneinanderstehen, kann man seine Leute eben auch in Sinn bezahlen. Eine Zeit lang werden sie das mitmachen. Bis sie irgendwann erkennen, dass sie den versprochenen Sinn nicht finden – und dann an ihrer Tätigkeit oder gleich an sich selbst verzweifeln.

Gerade Unternehmen, die grüne Energie oder die Erziehung der Weltbürger von morgen anbieten, bezahlen oft deutlich schlechter. Ist es Zufall, dass gerade solche vermeintlich "sinnvollen", aber eher schlecht bezahlten Jobs eher von Frauen erledigt werden?

Die permanente Gleichzeitigkeit von Dingen ist ein Problem

Zumindest scheinen Frauen anfälliger dafür zu sein als Männer, sich auf einen Tausch Sinn gegen Geld einzulassen. Sie arbeiten öfter als Männer in sozialen Jobs, die zwar sinnvoller erscheinen, aber schlechter bezahlt werden. Kranken- und Altenpflegerinnen, Alltagshelferinnen, Schulbegleiterinnen verdienen weniger als Therapeuten, Lehrer, Vertriebler. Selbst Psychotherapeutinnen (64 Prozent Frauenanteil) verdienen weniger als Chirurgen (Frauenanteil 13 Prozent.).

Kein Wunder, dass viele Frauen gesamtgesellschaftlich noch immer das größere Problem damit haben, einfach nur gutes Geld zu verdienen. Ihre Midlife-Crisis lässt sich nicht durch einen Sportwagen oder XL-Grill wegkaufen. Sind Frauen nicht schon vorher auf Sinnsuche gewesen, darf es für viele spätestens nach der Megaveränderung durch ein Kind ein Jobwechsel in dieser Richtung sein. Sinn, gern auch mit etwas Kreativität. Oder Selbstentfaltung. Irgendetwas, das anderen hilft. Für viele der sichere Weg in die Sackgasse.

Irgendwann wird der Dissens zur Realität des Arbeitsalltags nämlich unübersehbar. Einer Untersuchung des Instituts der Deutschen Wirtschaft lässt sich entnehmen: "Beschäftigte, die ihre Arbeit nicht als sinnstiftend erleben, denken deutlich häufiger über einen Arbeitgeberwechsel nach. Mehr als jeder Vierte nach eigenen Angaben sogar täglich, nur rund vier Prozent kommt der Gedanke, das Unternehmen zu verlassen, nie."

Sinn finden Beschäftigte an ihrem aktuellen Arbeitsplatz offenbar so gut wie nie, aller Bekenntnisse zum Trotz. Nur: Finden sie ihn woanders? Oder sollten sie besser aufhören, danach zu suchen? Vermutlich Letzteres.

"Ich wünschte mir, meine Fußnägel würden nicht so schnell wachsen", sagte neulich eine Kundin zu mir, "denn sonst habe ich auch noch Fußnägelschneiden auf meiner To-do-Liste." Wenn einen Fußnägelwachstum gedanklich anstrengt, ist man schon sehr im Epizentrum des Stresses. Deswegen sagen viele meiner Klienten, wenn ich sie nach Orten frage, die ihnen sinnvoll erscheinen: Bauernhöfe, Coachingräume, Yoga-Retreats. Nicht weil Futtermaisanbau oder eine Fasten-Basen-Kur übermäßig sinnvoller wäre als jede andere Tätigkeit, sondern weil mit diesen Orten die Hoffnung verbunden ist, dass man nur eine Sache zur selben Zeit tun möge. Viele meiner Klientinnen auf Sinnsuche verwenden Sinn als eine Metapher für sequenzielle Verarbeitung. Auf Deutsch: eins nach dem anderen.

Wenn meine Mutter früher kochte, kochte sie. Wenn ich heute den Thermomix programmiere, dann frage ich parallel dazu die Lernwörter meiner Kinder ab, checke berufliche E-Mails und beantworte sie in dringenden Fällen sogar. Die permanente Gleichzeitigkeit von Dingen, die in vielen Jobs heute zu erledigen sind, ist ein Problem. Eins nach dem anderen zu tun, ist ein Teil der Lösung.

Ein anderer Teil ist: Freude. Wenn ich es schaffe, bei einer Berufsberatung das scheinbar altruistische Wort purpose gegen das scheinbar egoistische Wort Freude zu tauschen – dann schaffe ich damit eine Grundlage. Macht mir etwas Freude oder gar Spaß, will ich mehr darüber wissen, ohne dass es mich anstrengt. Ich bin bereit, mich anzustrengen, um Erfolg zu haben. Kleine Niederlagen, Frusttage, Leerlauf nehme ich leichter hin. Ich tue es für mich, nicht für irgendeine abstrakte New-Work-Sprechblase. Das ist gut für mich. Wenn es darüber hinaus anderen hilft, schön.

Kürzlich saß eine Frau vor mir, die in der Compliance-Abteilung eines Konzerns arbeitete und unglücklich war. Dabei hatte sie auf den ersten Blick eine sinnvolle Tätigkeit, die dazu beitrug, dass sich alle in der Firma an Regeln und Gesetze hielten. Gemeinsam fanden wir etwas Neues. Sie wurde Krankenhaus-Clown. "Endlich ist der moralische Druck weg, und ich kann mich auf das konzentrieren, was ich eigentlich will: einen machbaren Job ohne Gedöns", sagte sie und gab eine Mini-Vorstellung ihres Könnens. Es war vielleicht nicht die sinnvollste Beratung des Jahres. Aber die lustigste.

Katrin Wilkens

Die Autorin ist Journalistin, berät mit ihrer Hamburger Agentur i.do aber hauptberuflich Menschen, die an ihrem Job verzweifeln.

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