Führungskultur: Wie sichtbar sollte ein Chef im Berufsalltag sein?

Autor*innen
Ursula Kals und Uwe Marx
Ein Mann steht auf geometrischen Formen und hat eine Lupe in der Hand, mit der kritisch ein drei Menschen von oben aus beobachtet.

Der eine Vorgesetzte ist kaum greifbar, andere hingegen sind zu präsent. Das richtige Maß an An- und Abwesenheit ist wichtig für eine gute Führungskultur. Warum das so ist und wie man dieses gute Mittelmaß findet.

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"Wenn der mir über die Schulter schaut und mitliest, obwohl ich noch ins Unreine formuliere, könnte ich verrückt werden", schimpft die Juristin einer Hochschulverwaltung über ihren Chef, der sein Team gerne engmaschig überwacht. "Wenn ich mich in ein Projekt reinhänge, eine Überstunde nach der nächsten kloppe und dann das Gefühl habe, das interessiert meinen Vorgesetzten überhaupt nicht, das frustriert mich total", kritisiert ein Ingenieur, der in der gleichen westdeutschen Unistadt arbeitet.

Zwei Meinungen, zwei konträre Wahrnehmungen. Und zwei sehr unterschiedlich agierende Chefs zwischen Mikromanagement und ständiger Abwesenheit. Aber wie präsent sollen gute Chefs eigentlich sein? Wie halten sie die Balance zwischen als übergriffig empfundener Kontrolle und großzügiger Zurückhaltung, die als Desinteresse gedeutet werden kann?

"So wenig wie möglich, so viel wie nötig. Es geht darum, zu sehen, was die Leute brauchen", sagt Thordis Bethlehem, Präsidentin des Berufsverbands Deutscher Psychologinnen und Psychologen. Vertrauen zu haben, ein offenes Ohr, echtes Interesse an den Leuten, all das motiviert. Gegenwärtig zu sein, "also greifbar, sichtbar, ansprechbar", könne unterschiedlich erfolgen: "Durch eine offene Tür. Oder ich gehe mal mit jemandem allein essen, geselle mich zu Mitarbeitern, spontan oder geplant."

Das Homeoffice erweist sich hier als Brandbeschleuniger. Die intrinsisch Motivierten, die am liebsten allein vor sich hin werkeln und nur Ergebnisse vorlegen möchten, sind unproblematisch. Die brauchen wenig äußere Motivation, im Gegenteil: Durch interessiertes Rückfragen fühlen sie sich eher belästigt und "sinnlos kontrolliert", wie es die Beraterin Bethlehem formuliert. Deren Motto: Läuft schon, lass mich mal machen. Um solche Mitarbeiter müssen sich Führungskräfte kaum Gedanken machen, wenn sie daheim am Schreibtisch sitzen.

Im Gespräch bleiben, Gespür beweisen

Ganz anders jene, die mit Einsamkeit kämpfen, Zuspruch und hier und da eine Durchhalteparole brauchen, um ihre Arbeit gut zu erledigen. Meldet sich bei ihnen niemand regelmäßig, wirft sie das zurück. Ihre Anstrengungsbereitschaft erlahmt. Bethlehem sagt: "Wenn man Leute selten sieht, weil die viel auf Reisen sind oder zu Hause arbeiten, sollte man darauf achten, mit ihnen im Gespräch zu bleiben. Dieses 'Ach, auch heute haben wir es doch wieder nicht geschafft, uns zu sprechen' ist nicht gut. Das muss man planen, verlässlich und verbindlich sein und Termine einhalten."

Mathias Schäfer findet das auch. Er ist geschäftsführender Gesellschafter des hessischen Fertighausherstellers Fingerhaus mit mehr als 900 Beschäftigten und sagt: Gute Chefs müssen greifbar und sichtbar sein. Schon Kleinigkeiten sind wichtig: "Dass das Fahrzeug da ist, die Bürotür offen, das Sekretariat besetzt." Auch Schäfer ist Jurist, und er gibt zu, dass er solche Führungsfragen nicht gelernt, sondern sich weitergebildet hat. Er findet situatives Führen gut, aber dazu gehöre Erfahrung und Gespür. "Interesse an Menschen ist wichtig", sagt er. Wer es hat, merkt, was Beschäftigte brauchen.

Er ist Teil einer Doppelspitze und hat unter sich einige mittlere Führungskräfte, die wiederum ihr eigenes Maß an physischer und inhaltlicher Präsenz finden müssen. "Viele übertragen Aufgaben, aber nicht die Kompetenzen", sagt er. Deshalb sei die Weiterentwicklung von Führungskräften zentral. Ist Vertrauen vorhanden, spielten An- und Abwesenheiten keine große Rolle mehr. Sie würden in seinem Unternehmen "völlig flexibel" gehandhabt.

Vertrauen und sozialer Austausch

Seit Corona und dem Aufschwung des Homeoffice sind Ratgeber wie Pilze aus dem Boden geschossen, die erläutern, wie gute Führung aus der Ferne funktioniert. Aber auch aus der Nähe kann das ein Problem werden. Was erwartbar ist: Den idealen Grad der Anwesenheit gibt es nicht. "Wir neigen in der Psychologie dazu, zu sagen, das kommt darauf an", sagt Ivon Ames, Psychologin und Unternehmensberaterin aus Königstein im Taunus. Nämlich nicht nur auf den jeweiligen Mitarbeitertyp, sondern auch auf die Art der Arbeit. "Da spielt ein Arbeitsbedingungsfaktor rein, der Handlungsspielraum", sagt sie. Ist dieser gering, wirkt sich das negativ auf Gesundheit, Arbeitsengagement und Mitarbeiterbindung aus; ist er groß, kann das im anderen Extrem zur Überforderung führen. Nämlich dann, "wenn ich nicht weiß, wo meine Grenzen sind, meine Entscheidungsbefugnisse enden", sagt Ames. Hierin deutet sich ein Problem flacher Hierarchien an. "Wenn im Team hohe Rollenambiguität herrscht, also unklare Prioritäten, die Führung eher im Hintergrund bleibt und das Team das alleine regeln muss, ist die Gefahr für Konflikte höher." In jedem Kontext komme es auf "gegenseitiges Vertrauen und sozialen Austausch" an. Auch mit Chefs.

Lange hat sich ein idealisiertes Chefbild gehalten: Als Erster da, als Letzter weg, die Tür steht offen, er oder sie ist allzeit ansprechbar. Mitarbeiter, die so jemanden mal erlebt haben, geraten darüber ins Schwärmen, vorausgesetzt, es ist ein ausgeglichener, fairer Chef. "Es geht nicht um die physische Anwesenheit von Führungskräften, sondern um die wahrgenommene Verfügbarkeit. Ist also die offene Tür da, wenn ich sie aktiv brauche", sagt Ames.

Rituale und Kreativität

Thordis Bethlehem bestätigt das, findet etwas anderes aber wichtiger: "Ein Chef muss nicht ständig da sein. Es geht um Gesprächsbereitschaft und Rituale." Denn sonst sind viele verunsichert: "Kann man den anrufen? Wie schnell reagiert der auf Mails? Wenn es dafür keine Vereinbarung gibt, dann türmt sich das auf zu einem großen Berg des Ungeklärten, und es schwingt mit: Der ist nicht da für uns."

Abwesende Chefs oder solche, die sich in gar nichts einmischen hält auch Michaela Moser regelrecht für schlechte Chefs. Moser ist Professorin für Personalwesen an der IU Internationalen Hochschule und forscht rund um das Thema "gute Führung". Im F.A.Z.-Podcast "Beruf & Chance" sagt sie über solche "Laissez-faire"-Führungskräfte, sie seien "extrem schwierig". Weil von oben keine Entscheidungen getroffen werden, müssten Mitarbeiter "tagtäglich ihre Kompetenzen ausprobieren und immer wieder Kompetenzgrenzen auch überschreiten, damit sie überhaupt ihre Arbeit machen können".

So bleibt womöglich auch Kreativität auf der Strecke. "Wenn ich eine neue Idee habe, die ich teilen will oder wissen möchte, kann ich das so machen, dann muss ich die Möglichkeit haben, das zu besprechen", sagt Ivon Ames. Dafür ist die offene Tür ein positives Symbol. Sie zeige: Ich bin für dich da, bin verfügbar. Die Tür müsse aber auch mal geschlossen sein. "So wie bei allen anderen auch. Eine Führungskraft hat Vorbildfunktion und darf Phasen haben, in denen sie konzentriert arbeitet und nicht gestört werden möchte. Das muss für beide Seiten gelten, wir haben eine partnerschaftliche Beziehung, und auch die Mitarbeitenden müssen das praktizieren dürfen: Hey, jetzt will ich nicht gestört werden, auch nicht von der Führungskraft."

Die Arbeit anderer engmaschig zu kontrollieren ist der eine Aspekt. Solche Mikromanager, also Chefs, die anderen nichts zutrauen, sich in alles einmischen, die haben den Sinn von Arbeitsteilung und ihre eigene Rolle nicht begriffen. Am liebsten hätten sie die Stechuhr zurück, und vor lauter Kontrolle kommen sie nicht zu ihren eigentlichen Aufgaben. "Wird durch ständiges Kontrollieren der Handlungsspielraum von Mitarbeitern stark eingeschränkt, führt das eher zu einer reinen Austauschbeziehung, Arbeitszeit gegen Bezahlung", umschreibt Ivon Ames das, was als Dienst nach Vorschrift verpönt ist.

Moderieren mit Strategie

Wie erreichbar, ansprechbar und nahbar die Chefin oder der Chef ist, das hat auch etwas mit Architektur zu tun. Liegt das Chefbüro am Ende eines langen Flurs, abgeschirmt vom Vorzimmer? Oder irgendwo in der Mitte der anderen Büros mit Glasfronten, die signalisieren: Bei Gesprächsbedarf bitte eintreten, allenfalls kurz fragen, ob es gerade passt? Junge Chefs, die vieles anders und besser machen wollen, setzen sich gleich mitten ins Großraumbüro und separieren sich nur ab und zu.

In Führung gehen bedeutet, das Arbeitsgeschehen zu moderieren, zu zeigen, dass man eine Strategie hat. Sich weitgehend aus dem Tagesgeschäft herauszuziehen, lieber einen Großteil der Zeit auf Dienstreise zu sein und nur sporadisch als Schönwetter-Kapitän aufzutauchen, das ist für viele Mitarbeiter eine unbefriedigende Situation. Sie fühlen sich und ihre Arbeit nicht gesehen und als Störenfriede, wenn sie immer wieder das Gespräch suchen. Ein oft abwesender oder abweisender Chef, der Mitarbeiterkontakte auf notwendigste Begegnungen und ein Jahresgespräch reduziert, ist kein guter Chef.

Das steht auch offiziell seit zehn Jahren im Arbeitsschutzgesetz. Da geht es um Gefährdungsbeurteilung. Unternehmen müssen Mitarbeiter nicht nur vor Lärm und Hitze, sondern auch vor psychischen Belastungen schützen und entsprechende Bedingungen schaffen, sagt Ivon Ames: "Evaluiert werden hierbei auch Feedback und Anerkennung und Unterstützung von Vorgesetzten. Sie müssen bereit sein, sich Probleme anzuhören, und dafür sorgen, dass die gelöst werden. Eine Führungskraft, die nicht präsent ist, kann das nicht erfüllen."

Motivation und Feedback

Eine Aufgabe besteht in der Motivation. Selbstverständlich sollten Vorgesetzte keine aufgekratzten Animateure sein, die mit notorisch guter Laune die anderen überfluten, sondern Menschen, die im Blick haben, wer an welcher Aufgabe sitzt, wer wie tickt und arbeitet. Auch wichtig ist es, Feedback zu geben. Nicht getadelt ist genug gelobt, das hat sich überholt – spätestens wenn diese Haltung auf die selbstbewusste Generation Z trifft, dann wird es explosiv.

Ein provokantes, wenig zeitgemäßes Führungsverhalten ist mangelnde Transparenz. Ein Herrschaftswissen, das die Säulen der Macht dokumentiert und zementiert, ist Geheimniskrämerei. Thordis Bethlehem sieht das entspannt. "Das wäre mir egal, Hauptsache, er sorgt gut fürs Team." Sie sagt aber auch, dass es andere Effekte haben könne, womöglich "Missverständnisse, Misstrauen und Probleme in der Zusammenarbeit" auslöse. Sie wundert sich, wenn Führungskräfte sichtlich verunsichert in Coachings gehen, dann aber verneinen, Mitarbeiter mal direkt gefragt zu haben: "Was braucht Herr X? Was benötigt Frau Y? Denn damit zeigen sie, dass sie ihre Kollegen ernst nehmen." Für die andere Seite gilt das aber auch, betont die Psychologin und entlässt unzufriedene Mitarbeiter nicht aus der Verantwortung: "Menschen sind auch am Arbeitsplatz für sich selbst zuständig und müssen Gespräche mit dem Chef auch einfordern." Zeitgemäß ist die Politik der kurzen Dienstwege. Beidseitig.

Mathias Schäfer hätte gerade einen guten Grund, seine Präsenz herunterzufahren, abzutauchen, weniger greifbar zu sein: Er ist vor Kurzem zum ersten Mal Vater geworden. Aber der Fertighaus-Geschäftsführer bleibt auch vom Homeoffice aus am Ball. So gut es eben geht und mit so viel Vertrauen von beiden Seiten wie möglich.

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