Die Karrierefrage: Können Chefs zu lieb sein?

Autor*innen
Nadine Bös
Weiße Papierflieger fliegen einem roten Papierflieger hinterher

Autoritäre Führungsstile sind aus der Mode. Aber kumpelhafte Vorgesetzte kommen schnell als konfliktscheue Softies daher. Was ist das richtige Mittelmaß?

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Etwa jeder dritte Arbeitnehmer in Deutschland findet es wahrscheinlich, seine Stelle in den kommenden drei bis sechs Monaten zu kündigen. Einer der wichtigsten Gründe: Unzufriedenheit mit Führungskräften. Das jedenfalls besagt eine aktuelle Studie der Unternehmensberatung McKinsey, für die mehr als 1.200 Beschäftigte in Deutschland befragt worden sind. Während sich die meisten unter schlechten oder unfähigen Führungskräften narzisstische, kontrollwütige oder autoritäre Chefs vorstellen, gibt es aber auch noch eine andere Art schlechter Führungskräfte: zu liebe Chefs!

Wer jetzt erst einmal skeptisch aufhorcht, hat natürlich recht: Zu lieb – das geht eigentlich kaum, wenn man aktuellen Erzählungen aus der Führungskräftetrainer-Ecke lauscht. Der Chef oder die Chefin von heute soll empathisch sein und nahbar. Eher ein Coach oder Mentor, bloß kein Diktator. Moderne Führungskräfte, so predigt es die neuere Managementliteratur, haben visionär zu sein: Ihre Rolle ist es, gemeinsam mit ihrem Team Ziele in den Blick zu nehmen und die Mitarbeiter dabei zu begleiten, sie zu erreichen. Die Stunde der weiblichen Chefs sei deshalb gekommen, liest man in diesem Zusammenhang auch oft, jedenfalls dann, wenn man Frauen eine höhere emotionale Intelligenz unterstellt.

Keine Leitplanken, kein konstruktives Feedback

Dass eher kumpelhafte Führungsstile im Trend sind, ist zwar unbestritten. Es wirft aber die Frage auf, ob die neuen, lieben Chefs auch zu lieb sein können – unentschlossene Softies, windelweich. Menschen, die es allen recht machen wollen und es am Ende keinem recht machen. Michaela Moser, Professorin für Personalmanagement an der IU Internationalen Hochschule, hat dazu eine klare Meinung: Mit dem Liebsein kann man es als Führungskraft durchaus übertreiben. Menschen möchten sich im Beruf gern weiterentwickeln, ist Moser überzeugt. "Wenn Sie dann jemanden haben, der zu allem ja und Amen sagt, und wo Sie keine Leitplanken bekommen, dann haben sie ja überhaupt keine Möglichkeiten, ein konstruktives Feedback zu erhalten", sagt sie.

Zu nett zu allen zu sein, davor sollten sich Führungskräfte also hüten. "Das kann wirklich so weit gehen, dass die Mitarbeiter so einem Chef auf dem Kopf herumtrampeln." Mindestens entstünde eine Art "Vakuum", in dem Mitarbeiter jeden Tag aufs Neue austesten müssen, wo ihre Grenzen sind. Besonders ungünstig seien "superliebe" Chefs dann, wenn jemand in der Abteilung ist, der oder die selbst auf die Führungsposition aus ist, sagt Moser. "Dann haben Sie ganz schnell ein Konkurrenzdenken, weil diese Person den Chef kein bisschen ernst nehmen wird. Er oder sie wird schnell versuchen, die ganze Abteilung hinter sich zu scharen und den schwachen Chef zu entmachten."

Zu empathische Führungskräfte sind aber noch aus einem weiteren Argument heraus ein Problem: Ihre mitfühlende Art ist manchmal schlecht für sie selbst. "Wenn Sie in einer Führungsposition sind, haben Sie ja nicht nur schöne Sachen und können die Mitarbeiter die ganze Zeit mit Gehalt und Boni überschütten", sagt Moser. "Sie müssen ja auch mal umgekehrte Wege gehen und sparen, Mitarbeitern die Gehaltserhöhung streichen oder den Laden umstrukturieren. Und wenn Sie sich das alles voll zu Herzen nehmen, dann können Sie ja schon wochenlang vorher nicht mehr schlafen!" Das könne eine Führungskraft in ihrer Rolle behindern, ineffizient machen, ja sogar in den Burnout treiben. Besonders haarig werde es, wenn die Führungskraft selbst nur begrenzten Einfluss hat, weil sie Entscheidungen des Top-Managements umsetzen, die negativen Folgen aber dem eigenen Team verkaufen muss. Führungskräfte befinden sich häufig in dieser Sandwich-Position und brauchen daher ein ziemlich dickes Fell.

Viele Chefinnen und Chefs in Sandwich-Positionen reagieren allerdings auf unfaires Verhalten des Top Managements gegenüber Untergebenen noch ganz anders: Sie versuchen, die Gerechtigkeit im Rahmen ihres Einflussbereichs wiederherzustellen. Der kanadische Wirtschaftsforscher Daniel Skarlicki von der University of British Columbia in Vancouver hat dafür den Begriff "Robin Hoodismus" geprägt. "Robin Hoodismus bezeichnet eine Situation, in der Manager Ungerechtigkeiten des Unternehmens selbst in die Hand nehmen, indem sie die Opfer auf die eine oder andere Art kompensieren", sagt Skarlicki. Wie eben Robin Hood es tat, indem er von den Reichen stahl, um den Armen zu geben. "Mit Kompensation ist gemeint: Dem Opfer etwas außer der Reihe zukommen zu lassen, etwa freie Tage oder einen kleinen Bonus, ohne, dass das Top-Management zugestimmt hat oder auch nur davon weiß", sagt Skarlicki. Manchmal sind es auch nur kleine Gesten: ein gutes Wort oder eine Einladung zu Kaffee und Kuchen.

Skarlicki hat zusammen mit mehreren anderen Forschern in einem Multi-Methoden-Ansatz rund um das Phänomen Manager und Angestellte befragt und in Experimenten ihren moralischen Kompass getestet. Robin Hoodismus sei "ziemlich verbreitet", resümiert Skarlicki. "In unserem ersten Studienteil antwortete die Hälfte der interviewten Manager, dass sie sich so verhalten." Allerdings bestand dieser Teil der Studie aus einer qualitativen Befragung von nur 35 Personen. Trotzdem deuteten auch die weiteren Studienteile, in denen mehrere Hundert Angestellte und Chefs untersucht wurden darauf hin, dass das Phänomen in der Praxis durchaus existiert. Ob härtere oder weichere Chefs eher Robin Hood spielen – das war nicht Teil der Untersuchungen. Skarlicki sagt aber, dass es zumindest möglich wäre, dass sehr liebe Manager Robin Hoodismus betreiben, um Konflikten aus dem Weg zu gehen. Dafür gebe es aber keine Beweise. Möglich sei auch der umgekehrte Effekt: Dass die Führungskräfte versuchen Konflikte mit anderen Mitteln zu lösen, wenn sie mit herkömmlichen Konfliktlösungstechniken nicht weiterkommen.

Wie inspiriere ich eine Person?

Ähnlich wie Michaela Moser sieht er es kritisch, wenn Chefs sich generell zu lieb verhalten. "Manager sollten vermeiden, sich allzu sehr in die Herausforderungen ihrer Mitarbeiter hineinziehen zu lassen und sich persönlich dafür verantwortlich zu fühlen, die Herausforderung zu bewältigen", sagt er. "Das kann extrem anstrengend sein und den Manager emotional auslaugen." Statt dessen sei es vorteilhafter, den Klagen der Mitarbeiter zuzuhören und sie dabei zu unterstützen, selbst eine Lösung für ihre Probleme zu finden, rät er. Michaela Moser weist zudem darauf hin, dass Führungskräfte in manchen Kontexten kaum noch hierarchische Machtquellen besitzen, mit denen sie Untergebene einfach anweisen können, bestimmte Dinge zu tun. In modernen, auf Agilität setzenden Unternehmen seien Führungskräfte zuweilen allein auf ihre personalen Machtquellen angewiesen. "Natürlich muss man dann ein gutes Gespür für Menschen haben", sagt sie. "Sie müssen sich einfühlen können, im Sinne von: Wie inspiriere ich eine Person, wie kann ich sie intellektuell stimulieren?" Chefs, denen das gelingt, werden oft als "liebe Chefs" empfunden. Solch moderne Führungskräfte sind aber durchaus keine willensschwachen Softies. Daniel Skarlicki sagt: "Wissenschaftliche Ergebnisse deuten darauf hin, dass Manager mit einer hohen emotionalen Intelligenz, die sich ihrer Werte und Emotionen und der Emotionen anderer bewusst sind, signifikant effektiver führen als Manager mit geringer emotionaler Intelligenz."

Und lassen sich solche Qualitäten lernen? "Ja", ist Michaela Moser überzeugt. "Sonst bräuchten wir überhaupt keine Führungskräfteentwicklung mehr." Natürlich seien Charisma und Empathie Persönlichkeitseigenschaften, aber das heiße nicht, dass man alles davon einfach in die Wiege gelegt bekomme. "Es gibt durchaus Methoden, um Erwartungen und Bedürfnisse von Mitarbeitern abzufragen und auf dieser Basis in die Interaktion zu gehen. Man kann sehr wohl an der Fähigkeit arbeiten, die Mitarbeiter zu begeistern und mitzunehmen."

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