Reichtum: "Die Gruppe der Reichen ist größer, als viele denken"
- Rebekka Wiese

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Die Ökonomin Irene Becker erforscht die Verteilung von Vermögen in einer Gesellschaft. Sie weiß, was man vermeiden sollte, wenn man reich werden möchte.

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Wann ist man reich? Um das zu beantworten, schauen sich Expertinnen und Experten meist Einkommen oder Vermögen an. Die Ökonomin Irene Becker hat für eine Studie der Hans-Böckler-Stiftung auch ausgewertet, wie viel Menschen ausgeben und was sie zurücklegen können. So konnte sie herausfinden, was reiche von wohlhabenden Menschen unterscheidet und wie sie ihr Geld vermehren.
Frau Becker, etliche Menschen wollen gerne reich sein. Was genau ist es, was sie da wollen?
Reich sein bedeutet, mehr finanzielle Mittel zu haben, als man täglich braucht. Es heißt, dass man alle materiellen Wünsche umsetzen kann, auch die nach einem luxuriösen Lebensstil, ohne dafür an anderer Stelle sparen zu müssen. Das ist der erste wichtige Aspekt. Beim zweiten geht es darum, dass man zudem nicht fürchten muss, seinen Lebensstil ändern zu müssen, wenn die Preise steigen oder man seinen Job verliert – weil man ausreichend Geld zurückgelegt hat.
Ist das nicht einfach Wohlstand?
Irene Becker
Irene Becker ist Volkswirtin und beschäftigt sich mit der Einkommens- und Vermögensverteilung, mit Armut, Reichtum und politischen Reformmodellen.
Die meisten Menschen denken bei reichen Leuten vermutlich an einen Topmanager, der eine Million Euro oder mehr im Jahr verdient. Den gibt es, aber Reichtum fängt früher an. Ich habe mit anderen Forscherinnen versucht, klare Kriterien für Reichtum festzulegen, nämlich Schichten generell nach Teilhabemöglichkeiten abzugrenzen. Wir haben uns an der Frage orientiert: Inwiefern hat jemand die finanziellen Ressourcen, um in dieser Gesellschaft so zu leben, wie er es will, und darüber hinaus auch noch Vermögen aufzubauen? So haben wir sechs Stufen entwickelt, in die wir die Bevölkerung eingeteilt haben: Armut, Prekariat, knappe Teilhabe, gute Teilhabe, sehr gute Teilhabe und Reichtum. Und ja, die letzte Gruppe ist größer, als viele denken: neun Prozent der Deutschen.
"16 Prozent der Bevölkerung zählen zu den armen Haushalten."
Lassen Sie uns zunächst über die anderen Gruppen sprechen. Wer zählt dazu?
Als arm bezeichnen wir Haushalte, deren Geld kaum reicht, um die Kosten für ganz Grundsätzliches zu decken, insbesondere für Lebensmittel. Dort kann nicht gespart werden und es gibt auch kein Vermögen. Solche Haushalte haben ein Einkommen von weniger als 65 Prozent des mittleren Jahreseinkommens. Bei den armen Haushalten wären das maximal 17.000 Euro im Jahr. 16 Prozent der Bevölkerung zählen zu dieser Gruppe. Darüber kommt dann der Bereich des Prekariats. Das sind Menschen, die ihren Ernährungsbedarf zwar einigermaßen befriedigen können, aber zum Beispiel bei der Bekleidung sparen müssen oder sich einen Cafébesuch nur ganz selten leisten können. Diese Menschen haben bis zu 80 Prozent des mittleren Einkommens, also als Single maximal etwa 21.300 Euro im Jahr 2021. Dazu zählen etwa 14 Prozent der Deutschen. Wer darüber liegt, gehört zu den Gruppen der knappen, guten oder sehr guten Teilhabe – das ist das, was man oft als Mittelschicht bezeichnet – oder eben zur reichen Bevölkerung.
Das mittlere Jahreseinkommen
Das mittlere Jahreseinkommen lag 2021 bei knapp 27.000 Euro, pro Monat bei etwa 2.200 Euro – wobei es sich dabei um das Nettoäquivalenzeinkommen handelt. Das bedeutet, dass die Steuern und Sozialversicherungsbeiträge bereits abgezogen sind und dass der von der Haushaltsgröße abhängende Bedarf berücksichtigt wird: Die genannten Beträge beziehen sich auf einen Singlehaushalt. Ein Paar mit zwei Kindern unter 14 Jahren müsste pro Monat etwa 4.700 Euro zur Verfügung haben, um auf diesem mittleren Wohlstandsniveau zu leben.
Was kennzeichnet diese Menschen in der Mittelschicht?
In diesem Bereich sind die Grundbedürfnisse gedeckt, auch Kosten für Restaurants, Museen oder Kino sind drin, wenn auch in verschiedenem, teilweise sehr begrenztem Ausmaß. Wer zur knappen Teilhabe gehört, hat als Single ein Einkommen zwischen etwa 18.700 bis 28.000 Euro im Jahr zur Verfügung. Das überschneidet sich zum Teil mit dem Prekariat. Wenn man in diesem unteren Einkommensbereich allerdings ein gewisses Vermögen hat – mindestens drei Jahresmedianeinkommen –, zählt man zur knappen Teilhabe, nicht zum Prekariat. So ähnlich ist es bei der guten und der sehr guten Teilhabe. Mit 95 Prozent des Medianeinkommens, also gut 25.000 Euro, kann man zur knappen oder zur guten Teilhabe gehören, je nachdem, wie hoch das Vermögen ist. Zur guten Teilhabe gehören Rücklagen in Höhe von mindestens drei Jahreseinkommen. Von sehr guter Teilhabe kann man sprechen, wenn das Nettoäquivalenzeinkommen mehr als 150 Prozent des Medians beträgt. Das sind für einen Single mehr als 40.000 Euro im Jahr.
Und ab wann ist man reich?
Wir ziehen die Reichtumsgrenze bei 175 Prozent des Nettoäquivalenzeinkommens, knapp 47.000 Euro. Aber so einfach ist es nicht. Denn es geht ja, wie gesagt, um das Nettoäquivalenzeinkommen – die Grenze fällt bei Familien viel höher aus, sie liegt bei einem Paar mit zwei Kindern unter 14 Jahren bei knapp 100.000 Euro. Zudem müsste der Single neben einem Nettojahreseinkommen von 47.000 Euro über ein Vermögen von mindestens 80.000 Euro verfügen, um als reich eingestuft zu werden; die beispielhaft genannte Familie müsste ein Nettovermögen von mindestens 170.000 Euro haben. Darüber hinaus gibt es auch regionale Unterschiede, von denen hier abgesehen wurde. Die schwierige Frage, ab wann man als reich gilt, also was den Unterschied zwischen sehr Wohlhabenden und Reichen ausmacht, haben wir wieder an den Ausgaben festgemacht. Beide Gruppen geben sehr viel Geld aus und können zudem noch Rücklagen aufbauen. Aber in unseren Daten konnten wir sehen, dass es einen Punkt gibt, wo die Ausgaben und das Sparen noch mal sprunghaft steigen: Das ist Luxuskonsum bei gleichzeitigem starkem Vermögensaufbau. Man sieht, dass es sich um eine Gruppe handelt, die überhaupt kein Budgetlimit kennt. Ab dann sprechen wir von Reichtum.
"Manche gönnen sich teure Reisen oder eine große Villa."
Wie sieht dieser Luxuskonsum aus?
Für Lebensmittel, Bekleidung und Wohnen geben diese Leute im Schnitt etwa 50 Prozent mehr Geld aus als in der gesellschaftlichen Mitte. Für andere Bereiche wie Mobilität, Freizeit und Kultur ist es deutlich mehr – nämlich doppelt so viel wie in der Mitte. Wie genau konsumiert wird, lässt sich nicht verallgemeinern. Manche gönnen sich teure Autos und Reisen, andere hochwertige Ernährung oder eine große Villa mit extravaganter Ausstattung. In jedem Fall wäre es falsch zu sagen: Wer reich ist, hat einen Porsche vor der Tür. Dazu ist die Gruppe zu divers, die Lebensstile sind sehr ausdifferenziert.
"Vermögen ist der einfachste Weg, um Geld zu vermehren"
Sie sagten vorhin, dass neun Prozent der Bevölkerung reich seien. Waren es in den Jahren zuvor mehr oder weniger?
Das ist relativ unverändert geblieben.
Man liest oft, dass es in Deutschland zunehmend mehr arme und mehr reiche Menschen gibt. Wie passt das zusammen?
Unsere Studie zeigt weitgehend übereinstimmend mit anderen Analysen, dass im letzten Jahrzehnt die Armuts- und Reichtumsquoten recht stabil waren, nachdem sie davor erheblich gestiegen sind. Wir zeigen aber auch, dass in Deutschland mehr Menschen reich sind als bislang angenommen. Außerdem ist die Gruppe der Reichen zwar nicht größer geworden, doch ihr Einkommen und Vermögen schon. Mit anderen Worten: Es gibt zwar nicht mehr Reiche, aber sie sind noch reicher geworden.
Warum ist das so?
Insbesondere weil die Gruppe sehr vermögend ist. Vermögen ist der einfachste Weg, um Geld zu vermehren. Man kann es anlegen, um neue Gewinne zu machen. Dazu kommt: Wer viel hat, kann es sich leisten, viel zu verlieren – und riskant zu investieren. Reiche Menschen haben mehr Aktien als andere Gruppen und verdienen gut damit. Sie brauchen nicht so genau darüber nachzudenken, was passiert, wenn sich ein Investment nicht auszahlen sollte. Sie haben ohnehin genug Geld. Dadurch wächst ihr Vermögen immer weiter.
"Viele Menschen scheinen nicht mehr zu wissen, was normal ist."
Inwiefern ist reichen Menschen bewusst, dass sie zu dieser Gruppe gehören?
Das haben wir nicht untersucht. Ich weiß allerdings, dass es Studien gibt, die zeigen, dass viele Menschen nicht einschätzen können, wie hoch ihr Einkommen im Vergleich mit der restlichen Bevölkerung ist. Wenn ich die Ergebnisse unserer Studie vorstelle, passiert es mir oft, dass Leute sich regelrecht erschrecken, wenn ihnen klar wird: Oh, ich gehöre ja zur obersten Stufe dieser Gesellschaft. Viele Menschen scheinen nicht mehr zu wissen, was normal ist – und wie weit ihr Lebensstandard von der gesellschaftlichen Mitte entfernt ist. Ich vermute, dass das auch daran liegt, wie Reichtum in den Medien dargestellt wird. Viele machen Reichtum an Statussymbolen fest, am Pool oder am Privatjet. Aber so einfach ist es nicht.
Was wissen Sie darüber, wie Menschen reich werden?
Viele von ihnen haben geerbt. Es gibt sogar Expertinnen, die sagen, dass man durch Arbeit nicht mehr reich werden könnte. So drastisch sehe ich das nicht. Es ist schon möglich, aber es ist schwer. Es funktioniert nur, wenn man Fähigkeiten hat, die auf dem Arbeitsmarkt gut entlohnt werden. Ein Pfleger wird durch seine Arbeit wahrscheinlich nie reich werden – obwohl sein Job so wichtig ist. Demgegenüber haben beispielsweise IT-Experten, Ärztinnen, Pilotinnen sowie Beschäftigte im Finanzmanagement gute Chancen, durch Arbeit reich zu werden. Letztlich kommt es aber nicht nur auf den Beruf an, sondern auch auf die Branche und die Unternehmensgröße. Übrigens gibt es auch in der Gruppe der Personen in Beamtenhaushalten viele Reiche. Nach unserer Studie sind es immerhin 16 Prozent und damit fast so viel wie in Selbstständigenhaushalten – hier sind es 18 Prozent, im Bevölkerungsdurchschnitt aber nur neun Prozent.
Was sollte man vermeiden, wenn man reich werden will?
Eine große Familie gründen. Das klingt zynisch, aber es ist das, was unsere Daten zeigen. Unter den reichen Menschen sind viele Haushalte mit Doppelverdienern, die keine Kinder haben. Einige haben zwar ein oder zwei Kinder, doch ab dem dritten wird es wirklich schwierig. Besonders Alleinerziehende haben schlechte Chancen, reich zu werden. Die findet man in der Gruppe der Wohlhabendsten praktisch nicht mehr.
Wäre es denn wünschenswert, mehr reiche Menschen in dieser Gesellschaft zu haben?
Nein. Wenn es mehr reiche Menschen gäbe, ohne dass andere Gruppen darunter leiden, wäre das kein Problem. Aber das passiert nicht. Reichtum geht meistens zulasten der Menschen, die in Armut oder im Prekariat leben. Das macht ihn so problematisch. Ich würde mir eine Gesellschaft wünschen, in der die meisten Menschen zu den mittleren Wohlstandsstufen zählen. Das müsste das Ziel sein.
Was ist mit Gesundheit oder Zufriedenheit, sollte das nicht auch das Ziel sein?
Selbstverständlich. Aber das Finanzielle ist wesentlich für alles andere. Wer nicht ausreichend Geld hat, hat viele Ängste. Die machen unglücklich und oft auch krank. Wer sich nicht sorgen muss, wie er seine Miete oder seine Einkäufe bezahlen kann, kann sich viel einfacher fragen: Was brauche ich, um ein glückliches Leben zu führen? Das Materielle schafft die Voraussetzungen, um sich gesund zu ernähren, Freundschaften zu pflegen oder Träume zu verwirklichen.
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