Gaming an Unis: Zocken statt Jazz Dance
- Mina Marschall

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Immer mehr Unis bieten Computerspiele als Hochschulsport an. Aber ist das Drücken von Maustasten und das Töten von virtuellen Gegnern überhaupt Sport?
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Senem Gülal trainiert mit ihrer Mannschaft während der Saison zweimal die Woche. Dann übt sie mit ihren fünf Teamkollegen Strategie und Spielzüge, zwei Stunden lang. "Ich bin dafür zuständig, dass ich dem Team mit Utility helfe und den Damage dabei unterstütze, mehr Schaden zu machen." Wörter, die für viele wohl wie Kauderwelsch klingen, nutzen viele Gamer ganz selbstverständlich in ihrem Alltag: "Utility", das ist der zusätzliche Effekt einer Attacke im Spiel. Der "Damage" ist die Figur im Team, die dafür verantwortlich ist, Schaden beim Gegner anzurichten. Senem ist Teil der E-Sport-Hochschulgruppe der Goethe-Universität in Frankfurt. Ihre Spezialität ist das Spiel Overwatch, ein sogenannter Multiplayer-Ego-Shooter, der in einer weit fortgeschrittenen Zukunftsvision der Erde spielt. Gespielt wird immer sechs gegen sechs. Jedes Teammitglied hat eine Rolle. Es gibt klare Strategien, Spielzüge, Spielpositionen, die probeweise getauscht werden. Wie im Fußball. Nur heißt der Stürmer nicht "Stürmer", sondern im Fall von Overwatch "Damage", die "Verteidiger" sind "Supporter" und der "Tank" ist mit einem Torwart vergleichbar. Senem spielt den ersten Supporter – das Rückgrat ihrer Mannschaft.
"Der soziale Aspekt von Gaming"
Senem studiert American Studies und Geschichte an der Goethe-Universität in Frankfurt. Videogames spielt sie, solange sie denken kann. Uncool war das als Mädchen auf dem Schulhof für sie nicht, im Gegenteil – ihre beste Freundin hat auch "gezockt", erzählt sie. Heute leben die beiden drei Stunden voneinander entfernt. Über das Gaming halten sie Kontakt. "Der soziale Aspekt von Gaming wird oft vergessen. Es geht mir nicht nur um das Spiel, sondern darum, eine gemeinsame Zeit zu verbringen", sagt Senem. Die Hochschulgruppe habe ihr eine Nähe zu Menschen gegeben, die während Social Distancing, Isolation und Ausgangssperren eigentlich nicht möglich war. Einen Mannschaftssport.
Bei Hochschulsport mag manch einer noch vorrangig an Jazz-Dance, Karate und Beachvolleyball denken. Doch im Angebot einiger Universitäten oder Fachhochschulen, wie zum Beispiel in Bayreuth oder Karlsruhe, ist auch "Elektronischer Sport". Gespielt werden Teamplayer wie League of Legends, das wohl bekannteste Strategiespiel in der Gamerszene, aber auch Sportsimulationen wie FIFA und Formel 1.
Die Gruppe in Frankfurt hat Jan Köhler gegründet. Er hat mit 15 angefangen zu zocken, direkt, als er seinen ersten PC bekommen hat. Aufgewachsen ist er in einem kleinen Dorf. Weniger als 300 Einwohner, schlechte Infrastruktur, kaum Wege raus. Gaming wurde auch für ihn ein sozialer Austausch und die Möglichkeit, nach der Schule noch Zeit mit seinen Freunden zu verbringen.
Sie wollen "oben" mitspielen
Der Kontakt zu Menschen steht auch im Vordergrund, als Köhler 2017 die Hochschulgruppe gründet. "Ich kam nach Frankfurt und habe Anschluss gesucht, Menschen mit dem gleichen Hobby." Das Interesse ist groß, 175 Mitglieder hat der 1. EC Frankfurt mittlerweile. Hier zocken Studierende aller Studiengänge: Juristen, Chemiker, Politikwissenschaftler, Informatiker. Aus der Hochschulgruppe heraus gründen Köhler und Adam Husseini 2018 einen eingetragenen Verein. Auch, um Menschen, die nicht studieren, eine Mitgliedschaft zu ermöglichen. Der 1. EC ist ein Breitensportverein – organisiert also E-Sport auf Amateur-Ebene.
Doch für einige der Gamer ist E-Sport mehr als ein Hobby, sie wollen "oben" mitspielen. Das geht auch im universitären Umfeld: In der Uniliga treten sie in den direkten Wettkampf mit anderen Studierenden. Hier treten unterschiedliche Hochschulgruppen in verschiedenen Games gegeneinander an. Heute geht das nicht nur auf nationaler Ebene, sondern auch bei den europaweiten "Amazon European Masters". Die Spiele werden live gestreamt.
Als Student in die Profiliga?
Auch die Aussichten auf die Profiliga mag für einige Studenten verlockend sein: Gespielt wird teils in riesigen Arenen, Gewinnsummen erreichen den siebenstelligen Bereich, und für talentierte Spieler wird in der Branche viel Geld ausgegeben: Erst vor wenigen Monaten wechselte der 17 Jahre alte Counterstrike-Spieler Ilya "m0NESY" Osipov für 600.000 Dollar aus der ukrainischen Jugendmannschaft von Natus Vincere zu einer der führenden E-Sport-Organisationen "G2 E-Sports".
Doch der Weg zu den Profis ist nicht einfach. E-Sports sind aus der Leidenschaft in heimischen Kinderzimmern entstanden. Feste Strukturen, wie die im traditionellen Sport, fehlen. "Gamer klettern in Ranglisten innerhalb der Games selbst nach oben und werden dann von semiprofessionellen Teams entdeckt", sagt Maximilian Brömel, E-Sports-Leiter bei der Eintracht Frankfurt. Der Verein hat eine eigene E-Sport-Abteilung. "Zufall spielt dabei noch immer eine große Rolle."
Dazu kommt eine Grundsatzfrage, die es auch manchen Studenten schwer macht, von der Universität als Hochschulgruppe anerkannt zu werden: Ist Gaming überhaupt ein Sport? Der Wettkampf mit Computerspielen wird in Deutschland zumindest grundsätzlich nicht als Sport anerkannt, die Debatte um den offiziellen Sportbegriff wird aber kontrovers geführt. Den einen fehlt die körperliche Anstrengung, die anderen entgegnen, dass 200 bis 300 Anschläge auf der Maustaste pro Minute Gamer durchaus ins Schwitzen bringen. "In der Profiliga weisen E-Sportler teilweise den Puls auf dem Belastungsniveau eines Rennfahrers auf", meint Brömel. Auch die Messungen der Deutschen Sporthochschule Köln bestätigen das. Im Rahmen ihres E-Sport-Projekts hat sich die Hochschule mit der körperlichen Belastung von Profi-E-Sportlern auseinandergesetzt. Beim Spielen stieg der Puls der Gamer auf bis zu 180 Schläge pro Minute an.
Bislang hat sich auch der Deutsche Olympische Sportbund dagegen entschieden, den E-Sport zu fördern: Die Darstellung des Tötens von virtuellen Gegnern sei nicht mit den ethischen Werten vereinbar, die der Bund im Sport vertritt. Auch mit der Frage, ob es sich bei E-Sports prinzipiell um einen Sport handelt oder nicht, hat sich der DOSB in seiner Positionierung 2019 nicht beschäftigt.
Dabei wächst die Relevanz des Gamings hierzulande. Deutschland bietet den größten europäischen E-Sports-Markt: 113,2 Millionen Euro Umsatz im Jahr 2021. Im Vorjahr lag das Marktvolumen noch bei etwa 89 Millionen, 2017 bei 50 Millionen Euro. Laut Experten wird der Markt in Zukunft weiter wachsen. Zudem gibt es etwa drei Millionen E-Sportler. "Nicht nur der Breitensport wächst, sondern auch die Zahl der Leistungssportler. Menschen, die vom kompetitiven Spielen leben können", sagt Brömel. Für Universitäten kann es auch deshalb von Vorteil sein, ihr Sportprogramm um das Gaming zu erweitern. Denn E-Sports sind nicht nur ein wachsender Markt, sondern ein globales Phänomen. Für immer mehr Studierende werden Streams von Videospielen fester Bestandteil ihres Lebens sein – die sie auch gerne im Hochschulsport ausüben wollen.
"Geh zurück in die Küche"
Senem fände die Anerkennung von E-Sport als Sport "nur fair". Doch die Studentin hat noch ganz andere Probleme. Denn sie kämpft nicht nur auf dem virtuellen Schlachtfeld gegen ihre Gegner. Senem zeigt ein Video. Es ist ein Ausschnitt aus einem ihrer Gaming-Streams. Als sie sich mit ihrem Team abspricht, ertönt eine männliche Stimme aus dem Hintergrund: "Shut up, Bitch." Als Senem weiterspricht, fängt der Gamer an, sie zu beleidigen. "Geh zurück in die Küche, du dreckige Hure." In ihren eigenen Streams redet Senem selbst nicht mehr, sondern hört nur noch zu. Mit Sexismus wird sie beim Streaming dauerhaft konfrontiert. Sobald sie als Frau erkannt wird, komme es nicht mehr darauf an, wie sie spielt. Beleidigungen, sexistische Sprüche und Fragen wie "Can you call me daddy?" stehen dann im Vordergrund. "Das ist eine Branche von Männern für Männer", sagt Senem. Nur 10 Prozent aller E-Sportler sind Frauen. Und das, obwohl 47 Prozent aller Menschen in Deutschland, die zumindest gelegentlich zocken, weiblich sind. Einige ihrer Freundinnen hätten wegen sexistischer und LGBTQ-feindlicher Beleidigungen mit dem Gaming aufgehört. Auch sie habe schon darüber nachgedacht. "Ich habe das Game ausmachen müssen, saß da und habe geweint. Es geht an die Substanz. Es ist erniedrigend."
Gaming hat im Internet ein anonymes Umfeld. Auch deshalb ist Sexismus auf Streamingplattformen wie Twitch kein neues Phänomen. Schon 2016 haben Forscher der Indiana University die Chats in Gaming-Streams untersucht. Während Nutzer im Chat mit männlichen Streamern meist über das Spiel selbst sprechen, beziehen sich die Chats bei weiblichen Gamerinnen allzu oft auf deren Geschlecht. "Dabei ist E-Sport eine der wenigen Sportarten, bei denen es völlig egal ist, welches Geschlecht eine Person hat. Alle starten mit den gleichen Bedingungen", sagt Brömel von der Eintracht. Es brauche Vorbilder und Strukturen, in denen man sich als Frau sicher bewegen kann. Gerade im Gaming-Umfeld ist das aber noch ein weiter Weg.
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