Perfektionismus: "To-do Listen können wie eine Bedrohung sein"
- Alisa Schellenberg

Lustre – stock.adobe.com
Wer Aufgaben verschleppt, prokrastiniert nicht immer. Dahinter könnte Task Paralysis stecken. Besonders Perfektionisten leiden, sagt die Psychologin Ellen Hendriksen.
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Egal, wie organisiert das Leben ist. Es gibt immer Aufgaben auf der To-do-Liste, die man einfach nicht angeht. Und wenn man sich doch dransetzt, dann geht plötzlich gar nichts mehr. Der Kopf streikt, das Herz schlägt schneller. Woran liegt das wirklich? Und wie kommt man da raus? Als Psychotherapeutin und Professorin hilft Ellen Hendriksen Menschen, die oft große Angst haben, ihre Aufgaben zu erledigen.
Ellen Hendriksen, Sie sagen, dass Angst oft der Grund ist, wenn wir es einfach nicht schaffen, die Aufgaben auf unserer To-do-Liste endlich anzugehen. Wovor haben wir Angst?
Meist davor, jemanden zu enttäuschen oder von anderen als unfähig wahrgenommen zu werden. Im Grunde sind wir überfordert und haben Angst, für einen möglichen Fehler beim Erledigen unserer Aufgaben verurteilt zu werden. Deshalb empfinden wir die To-do-Liste selbst als Bedrohung. Unsere Gehirne machen keinen Unterschied zwischen körperlichen Gefahren und sozialen Bedrohungen.
Vor der eigenen To-do-Liste kann man ja nur metaphorisch wegrennen. Was tun Menschen stattdessen?
Oft werden die Aufgaben gar nicht angefangen, weil man sich durch die Überforderung handlungsunfähig, also wie paralysiert, fühlt. Task Paralysis entsteht, wenn wir glauben, den ersten Schritt zur Lösung einer Aufgabe nicht zu kennen. Aber auch, wenn wir so viel zu erledigen haben, dass wir gar nicht mehr wissen, wo wir anfangen sollen.
Wie beschreiben Ihre Patient:innen dieses Gefühl?
Eine Patientin hat mir gesagt, dass sie zu Beginn ihres Arbeitstages so überwältigt war, dass sie ohne Ende auf einem Kugelschreiberkopf rumgeklickt hat. Durch diese nervöse Bewegung hat sie versucht, sich selbst zu beruhigen. Aber sie konnte nicht damit aufhören und anfangen, zu arbeiten. Andere Patient:innen beschreiben, wie ihre Gedanken rasen – sie aber keinen davon einfangen können, um ihn in die Tat umzusetzen.
Tritt Task Paralysis erst ein, wenn die To-do-Liste zu voll ist oder ist es eher die Wichtigkeit der Aufgaben auf der Liste?
Beides ist möglich. Es muss nicht immer gleich um eine Aufgabe gehen, die über die eigene Karriere entscheidet. Manchmal passiert das schon, wenn man vor einem vollen Postfach ungelesener E-Mails sitzt. Auch vermeintlich unwichtige Aufgaben können in der Masse überwältigend wirken. Zum Beispiel, wenn man seine Wohnung aufräumt oder den Kleiderschrank ausmistet. Ausmisten, das klingt nach einer großen Aufgabe, aber eigentlich sind es sehr viele verschiedene kleine. Da weiß man oft auch nicht, wo man anfangen soll.
Worin liegt der Unterschied zwischen Prokrastination, also extremem Aufschieben, und Task Paralysis?
Prokrastination ist ein weit gefasster Begriff. Wir prokrastinieren meist, wenn wir keine Lust haben, weil eine Aufgabe langweilig oder müßig ist und nicht, weil wir damit überfordert sind. Überforderung kann auch ein Teil von Prokrastination sein, aber nicht notwendigerweise. Task Paralysis hingegen hat immer das Element der Überforderung.
Was kann man tun, um sich selbst aus der Angstreaktion zu holen?
Die altbewährte Technik, große Aufgaben in kleine Arbeitsschritte einzuteilen, hilft vielen Leuten. Ich empfehle, die Aufgabe sogar in lächerlich kleine Einheiten zu unterteilen. Die Messlatte dabei ist, alles so runterzubrechen, dass man keinen inneren Widerstand mehr spürt. Wer studiert und einen 20-seitigen Aufsatz schreiben muss, könnte versuchen, die Arbeit daran in kleine Zeiteinheiten zu teilen. Erst mal nur eine Stunde. Wenn das immer noch überfordernd ist, dann könnte die erste lächerlich kleine Einheit sein, die Datei zu öffnen. Oder nur einen Satz zu schreiben und dann nur einen Absatz Literatur zu lesen.
Haben Sie weitere Tipps?
Task Paralysis betrifft oft Menschen, die perfektionistisch sind. Die Definition von pathologischem Perfektionismus nach Roz Shafran besagt, dass perfektionistische Menschen zu starker Selbstkritik neigen und zur Überidentifikation mit ihren Aufgaben. Wenn eine perfektionistische Studentin Schwierigkeiten hat, für eine Klausur zu lernen, geht es oft darum, ihr bewusst zu machen, dass das Ergebnis der Prüfung nicht sie als Person definieren wird. Wichtig ist auch, Selbstmitgefühl zu üben. Meine Erfahrung ist aber, dass viele meiner Patient:innen Mitgefühl gegenüber sich selbst schwierig finden.
Warum?
Dieser klassische Ratschlag, zu sich selbst nur zu reden, wie man mit guten Freund:innen sprechen würde, ist nicht von jetzt auf gleich umzusetzen, wenn man das vorher nie gemacht hat. Aber es muss nicht kompliziert sein. Wenn man überfordert ist, reicht es oft schon, mal zu sich selbst zu sagen: 'Ja, das ist gerade nicht leicht.' Oder sich eine Hand auf das Herz und die Schulter zu legen oder auf den Bauch. Diese Berührungen können uns Wohlwollen mit uns selbst vermitteln. Es muss nicht immer die große Motivationsrede sein.
Kein Raum für Fehler
Wie kann man vermeiden, dass man überhaupt in so eine Situation kommt?
Viele Menschen sind innerlich davon überzeugt, dass es keinen Raum für Fehler gibt. Sie fahren eine Nulltoleranzpolitik gegenüber sich selbst. Es kann helfen, sich mal zu erlauben, etwas falsch zu machen oder eine Sache zweimal erledigen zu müssen, weil es beim ersten Mal nicht gut genug war. Ich hatte mal einen Patienten, der davon überzeugt war, er müsste Hausarbeiten grundsätzlich so angehen: Laptop aufklappen, sofort loslegen und Absatz für Absatz perfekte Gedanken aufschreiben. Ich habe ihn gebeten, eine kleine Umfrage unter seinen Freund:innen zu starten. Wie häufig müssen sie einen Absatz umformulieren? Sind ihre Gedanken sofort formvollendet? Nach dieser Übung konnte er sich erlauben, weniger perfekt zu sein. Die eigene Toleranz für Fehler und inneren Widerstand zu erhöhen, das ist befreiend.
Es gibt in jedem Uniseminar und in jedem Kollegium solche, die Zeitdruck brauchen, um überhaupt loszulegen und trotzdem rechtzeitig fertig werden. Leiden die auch unter Task Paralysis?
Nein, das ist eher eine Form von freiwilliger Prokrastination. Manche Menschen brauchen mehr Druck, um ins Handeln zu kommen. Sie bauen diesen Druck freiwillig auf, um dann richtig loszulegen. Aber Achtung: Andere reden sich ein, dass sie so ticken, dabei haben sie in Wahrheit einfach nur Panik. Und wenn sie dann nicht so gut sind, wie sie dachten, dann können sie das schlechtere Ergebnis auf die Prokrastination schieben und nicht auf sich selbst.
Das macht doch jede:r mal.
Ich verurteile das auch nicht. Als Verhaltenswissenschaftlerin weiß ich, dass wir Menschen uns grundsätzlich so verhalten, dass es zu unserem Vorteil ist. Wenn wir uns kurzfristig besser fühlen wollen, dann ergibt es Sinn, eine Aufgabe auf die lange Bank zu schieben. Damit schaden wir uns längerfristig, aber für den Moment fühlt es sich gut an.
Wir rechtfertigen aufgeschobenes vor uns selbst, indem wir uns glauben lassen, dass die Aufgabe, die wir nicht angehen, groß, gruselig und ein absolutes Worst-Case-Szenario ist.
Im Großen und Ganzen klingt es aber so, als wären die meisten Menschen schon einmal mit Task Paralysis in Berührung gekommen. Aber könnten bei manchen Menschen auch schwerwiegendere psychische Probleme dahinterstecken?
Angststörungen oder Depressionen können unsere Ressourcen, Aufgaben zu bewältigen, beeinträchtigen. Dann überfordern uns Dinge, die andere oder wir selbst von uns verlangen. Menschen, die eine generalisierte Angststörung haben, leiden manchmal auch unter Entscheidungslähmung. Die tritt ein, wenn man so überfordert davon ist, eine Entscheidung zu treffen, dass man am Ende gar nichts tut. Eine Patientin hatte mal die Aufgabe, einen Geburtstagskuchen für eine:n Kolleg:in zu kaufen. Sie hat es zerdacht: Wer könnte allergisch auf Schokolade sein? Wer mag keine Vanille? Sie hatte diese Horrorvorstellung, dass die Kolleg:innen sauer auf sie würden, wenn der Kuchen nicht perfekt wäre.
Wenn ich eine Aufgabe, die ich lange aufgeschoben habe, endlich abgeschlossen habe, stelle ich oft fest, dass sie eigentlich gar nicht so schlimm war. Woran liegt das?
Wir rechtfertigen Aufgeschobenes vor uns selbst, indem wir uns glauben lassen, dass die Aufgabe, die wir nicht angehen, groß, gruselig und ein absolutes Worst-Case-Szenario ist. Hat man sie dann doch erledigt, merkt man, dass das nicht stimmt.
Viele Menschen jonglieren in ihrem Alltag mehr als eine Verantwortung. Sie arbeiten, kümmern sich um Kinder oder Angehörige und sind ehrenamtlich aktiv. Jeder dieser Lebensbereiche könnte eine eigene To-do-Liste füllen. Was können sie tun, um sich von ihren Aufgaben nicht erschlagen zu fühlen?
Die meisten Aufgaben auf so einer Liste müssen nicht sofort vollständig abgearbeitet werden. Manchmal hilft es, eine Aufgabe nur zum Teil zu erledigen und sich so schnell über den kleinen Erfolg freuen zu können, überhaupt angefangen zu haben. Eine Kollegin von mir zeichnet sich Fortschrittsleisten neben die Aufgaben auf ihrer To-do-Liste und malt sie farbig aus, je nachdem, wie viel Prozent der Aufgabe sie ungefähr geschafft hat. Dadurch, dass man sich die kleinen Erfolge bewusst macht, kann man ein Momentum aufbauen, um mit den größeren Sachen weiterzumachen. Und wenn das nicht klappt, dann hat man zumindest etwas erledigt.
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