Arbeiten im Grünen Bereich: Studieren auf 10 Quadratmetern

Autor*innen
Ole Kaiser
Eine Hand überreicht der anderen Hand einen Hausschlüssel [© BillionPhotos.com – stock.adobe.com]

Niklas Ihsen studiert dual und lebt an seinem Arbeitsort im Wohnmobil. So ist er immer auf der grünen Wiese – und spart dadurch eine Menge Geld.

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Wenn er duschen will, muss er zehn Minuten warten, bis das Wasser warm ist. Auch sollte Niklas Ihsen das Wasser nicht zu lange laufen lassen, denn nach 110 Litern ist der Tank leer. Von seinem Bett aus geht er gerade zwei Schritte bis zur Küche, drei bis ins Bad. Nach sechs Schritten und zwei Stufen steht er auf einer Wiese mit Blick ins Feld. Um ihn herum ist nichts, außer einem Acker, Bäumen und zwei Straßen, aus deren Richtung der Verkehr zu hören ist. Sechs Monate im Jahr ist dieser Parkplatz sein Zuhause. Und Ihsen ist zufrieden.

Er lernt und isst am selben Tisch. Sein Bett ist auch sein Sofa. Der 21 Jahre alte Student wohnt seit knapp drei Jahren die Hälfte des Jahres in einem Wohnmobil. Er studiert dual und muss alle drei Monate seinen Lebensmittelpunkt zwischen dem Betrieb im Sassenberg bei Münster und der Uni in Hannover wechseln. Diese Situation könnte sich jedoch bald ändern. Das betriebliche Abschlussgespräch seines Studiums steht an. Davon hängt ab, wie es für ihn weitergeht.

Sein Zuhause auf vier Rädern steht am Rande des Städtchens Warendorf, einem Nachbarort von Sassenberg, auf einer Wiese. Der ständige Verkehr störe ihn nicht, sagt Ihsen, "den höre ich kaum". Dabei ist er deutlich zu hören.

"Ein praktischer, pragmatischer Typ"

Von innen sieht das Wohnmobil aus wie frisch aus dem Katalog: Keine Bilder oder Fotos an der Wand, keine Pflanzen schmücken die knapp 10 Quadratmeter. Nirgends persönliche Gegenstände, die auf den Bewohner hinweisen. Nur eine Plastikpflanze steht oben rechts im Schrank versteckt. "Das ist meine Ambienteblume", sagt Ihsen und lacht. Er brauche "außer der Blume keine Deko", sei eher ein "praktischer, pragmatischer Typ". Ihsen trägt weiße Sneaker, Jeans, ein Poloshirt, darüber eine schwarze Softshell-Jacke gegen die Kälte.

Statt an der Dekoration erfreut sich Ihsen an den nützlichen Details seines kleinen Zuhauses. Die Dusche sei durch eine harte Stellwand vom restlichen Bad getrennt, weil ein Duschvorhang "ständig am Körper klebt". Das Bett sei mit wenigen Handgriffen erweiterbar, sodass bequem zwei Menschen darauf schlafen könnten. Die Küche sei so gebaut, dass man viel Platz habe. Er zieht die Schultern hoch und presst die Arme an den Körper. "In meinem alten Camper konnte ich nur so zum Bett laufen. Das ist hier schon echt komfortabel."

Das Leben im Camper war nicht immer der Plan

Entscheidend seien auch die Unterschiede zu einer Mietwohnung. "Hier gehört alles mir. Mein Bett, meine Küche, mein Wagen. Hier fühle ich mich wohler als in einer Wohnung, in der alles irgendeinem Vermieter gehört." Ihsen präsentiert jedes Detail. Hinten das Doppelbett, davor ein Gang, von dem aus rechts das Bad mit Dusche, Waschbecken und WC liegt, links die Küche. Neben der Küche steht der Esstisch mit Sitzbank. Über Bett, Küche und Sitzecke sind Schränke angebracht, in denen er alles verstaut, was er braucht: Konserven, Nudeln, Getränke, aber auch seine Kleidung, Geschirr und Besteck. Zwischen Eingangstür und Bad findet ein großer Kühlschrank Platz. Hinten im Camper sei außerdem noch eine "große Garage", sagt Ihsen.

Er läuft um das Wohnmobil herum über die Wiese und öffnet eine große Klappe am Heck des Wagens. Dahinter ein Raum, in dem sein Fahrrad, je zwei Wasser- und Colakisten, ein Klapptisch und Stühle stehen. Sogar ein kleines 50-Kubik-Motorrad könnte er hier verstauen, sagt er. Mit diesem Lebensstil sei er aktuell glücklich und spare viel Geld. Doch das Leben im Camper war nicht immer der Plan.

Schon als kleiner Junge interessiert sich Ihsen für Wohnmobile. Sein Vater arbeite bei Thule, einem Hersteller von Transportsystemen für die Camperbranche. "Die produzieren so was hier", sagt er und zeigt auf die ausdrehbare Markise, die außen am Wohnmobil angebracht ist. Durch seinen Vater sei er früh mit dieser Szene in Kontakt gekommen. Sein Vater habe viel auf Messen gearbeitet, und er sei oft mitgegangen. "Ich habe Kunden vollgelabert, seitdem ich elf bin", sagt er und lacht. Früh sei klar gewesen, dass er in der Camperbranche im Vertrieb arbeiten möchte. Nach seinem Abitur im Raum Hannover schaute er sich zunächst Unternehmen in der Region an. "Ich habe mehrere Vorstellungsgespräche geführt, mich aber nie wohlgefühlt."

Eine finanzierbare und praktikable Lösung

Nach mehreren Versuchen lud ihn schließlich der Wohnmobil-, Wohnwagen- und Campervan-Hersteller LMC Caravan in Sassenberg zum Gespräch ein. "Da war ich mir erst nicht sicher. Ich habe mich auf etwas beworben, das es eigentlich gar nicht gibt." Zu diesem Zeitpunkt, im Sommer 2020, habe LMC offiziell gar kein duales Studium angeboten. Schließlich habe man sich geeinigt. Ihsen konnte sein duales Studium an der Uni Hannover beginnen: Business Administration mit dem Fokus auf Automotive. In der niedersächsischen Landeshauptstadt habe er studieren wollen, weil er hier verwurzelt sei: Partnerin, Freunde und Familie lebten im nahe gelegenen Völksen, wo auch er aufgewachsen ist. Als dann klar war, dass er in seinem Studium alle drei Monate zwischen Hannover und Sassenberg wechseln würde, musste eine Lösung her, die finanzierbar und praktikabel sein würde. In eine WG in Völksen mit Freunden zu ziehen, das wollte er direkt, sagt er. Wie und wo jedoch die Nächte in Sassenberg verbringen?

"Ich habe hier keine Wohnung gefunden. Die Preise für die Wohnungen sind nicht wesentlich günstiger als im Raum Hannover." Zwar wären zwei Wohnungen mithilfe der Eltern finanziell irgendwie zu stemmen gewesen. Für Ihsen drängte sich aber schnell ein anderer Weg auf. Im August 2020 begann das duale Studium, und Ihsen hatte keine Wohnung. Er fuhr mit dem alten Wohnmobil seines Vaters nach Sassenberg, vorübergehend, wie er damals dachte.

Nun wohnt er schon seit knapp drei Jahren etwa zur Hälfte auf vier Rädern, zur anderen Hälfte in der WG. Inzwischen nutzt er ein anderes Wohnmobil, das ebenfalls seinem Vater gehört. Die Abmachung: Während der drei Monate, die er in der Wohnung in Völksen wohnt, vermietet er das Wohnmobil, sooft es geht, über Onlineplattformen für rund 120 Euro am Tag. Das Geld dafür bekommt sein Vater. Dafür darf er mietfrei im Wohnmobil wohnen. Knapp 10.000 Euro habe sein Vater durch die Vermietung in den vergangenen 18 Monaten bekommen, sagt Ihsen. Nur Sprit, Strom und Gas muss Ihsen selbst zahlen. Dafür reichen ihm seine 1.000 Euro, die er als dualer Student bekommt.

"Bin auch mal froh, meine Ruhe zu haben"

Im Sommer bezieht er seine Energie durch die Solaranlage auf dem Dach. Diese liefere 300 Watt, das reiche komplett. Auch ohne Sonne könne er eineinhalb Wochen stehen, wegen einer großen 300-Ah-Lithiumbatterie. Im Winter verbrauche er circa eine Gasflasche, das koste rund 88 Euro im Monat. "Wenn ich noch eine zweite Wohnung zahlen müsste, wären das bestimmt 350 Euro im Monat. Mit dem Camper zahle ich nur den Sprit und im Winter knapp 90 Euro für Gas. Das war's." Hinzu kommen noch knapp 320 Euro für das WG-Zimmer in Völksen.

Vom Camper aus radelt er täglich die rund sechs Kilometer bis zu seinem Arbeitsplatz. Zwar arbeitet Ihsen viel am Schreibtisch und bei Kunden. In den Produktionshallen angekommen, kann er dennoch viel über die Produktionsschritte erklären: Die Autos, als große Lieferwagen angeliefert, werden vor Ort komplett entkernt. Nur das Führerhaus und das Fahrgestell blieben erhalten. Die neuen Seitenwände, der millimetergenau gefräste Boden, die Elektrik, Kühlschränke, Küche und die Wassertanks kommen als fertige Teile in den Hallen an. Vor Ort bauen Mitarbeiter die einzelnen Teile Schritt für Schritt zusammen. Bohrmaschinen und Tischlerei sorgen für eine laute Geräuschkulisse. Es riecht nach Sägespänen.

Einsam gefühlt habe er sich im Camper auf der grünen Wiese nie, sagt Ihsen. Mehrmals in der Woche fragten ihn seine Kollegen, ob er mit ihnen ein Bier trinken gehe. "Ich bin auch mal froh, meine Ruhe zu haben." Er habe eine Playstation im Wohnmobil, mit der er sich seine Abende vertreiben könne.

Kurz vor dem Abschlussgespräch ist Ihsen nur wenig nervös. Er hofft, dass ihn der Betrieb übernimmt und dass er im Außendienst arbeiten kann. Es sei eine Stelle als Junior-Gebietsverkaufsleiter für Nord- und Ostdeutschland vakant, sagt er. Das wäre für seine Situation optimal. Er könne mehr Zeit in Hannover bei Partnerin, Freunden und Familie verbringen. Für die Zeit in Sassenberg will er sich dann einen Wohnwagen kaufen. "Den stelle ich auf einen Dauercampingplatz. Ich hoffe, ich bekomme einen Firmenwagen. Dann fahre ich nur mit dem Auto hin und her."

Um kurz nach 13 Uhr beginnt das Gespräch. Nach einer halben Stunde ist klar: Es klappt, unbefristeter Anschlussvertrag, gewünschte Position, Firmenwagen. "Ich bin superglücklich und dankbar für die Möglichkeit", sagt er. Spätestens von Oktober an will er unter der Woche im Wohnwagen auf einem Campingplatz wohnen, auch wenn er sich nun eine kleine Zweitwohnung leisten könnte. In seinen eigenen vier Wänden auf Rädern fühle er sich einfach wohler als in einer Wohnung, sagt er. In der künftigen Verkäuferrolle wird es ihm wohl kaum schaden, von sich sagen zu können, dass er seit Langem selbst in Campingfahrzeugen lebt.

Folge 4 unserer Sommerserie "Arbeiten im grünen Bereich", in der wir Menschen porträtieren, die in umwelt- oder naturnahen oder sozial nachhaltigen Tätigkeiten arbeiten.

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