Saundra Dalton-Smith: "Die meisten Menschen setzen Erholung zu Unrecht mit Nichtstun gleich"

Autor*innen
Anna Sophie Kühne
Eine Frau meditiert auf einer Wolke, ihr Gesicht ist durch eine Sonne ersetzt [© Porechenskaya – stock.adobe.com]

Wer erschöpft ist, verbringt den Abend auf der Couch, geht früh ins Bett – und fühlt sich am nächsten Morgen oft noch genauso ausgelaugt. Was wirklich hilft. Von Anna Sophie Kühne

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Warum Schlaf und Ruhe allein nicht der Schlüssel zur Erholung sind, zeigen die Untersuchungen der Ärztin Saundra Dalton-Smith: Sie hat für ihr Buch sieben verschiedene Arten von Erholung identifiziert. Dieser Artikel ist Teil von ZEIT am Wochenende, Ausgabe 08/2023.

Frau Dalton-Smith, wer sieben Arten der Erholung unterscheidet, hat vermutlich ein anstrengendes Leben?

Ich war total ausgebrannt – und konnte mir nicht erklären, weshalb. Damals, vor etwa 15 Jahren, arbeitete ich als Internistin mindestens 60 Stunden pro Woche. Aber kürzerzutreten, habe ich eigentlich gar nicht in Erwägung gezogen. Ich dachte: Wenn ich nur ausreichend schlafe, reicht das, um mich gut zu fühlen. Doch obwohl ich immer einen guten Schlaf hatte – ich habe das sogar in einem Schlaflabor überprüfen lassen –, bin ich jeden Morgen erschöpft aufgewacht. Da dämmerte es mir: Irgendetwas fehlt mir.

Was war das?

Ich bin gedanklich meinen Tag durchgegangen, vom Weckerklingeln bis zum abendlichen Ausschalten der Nachttischlampe, und habe mich gefragt: Welche Aktivitäten strengen mich besonders an? Ist es das stressige Frühstück mit meinen kleinen Kindern, bevor ich sie in den Kindergarten bringe? Ist es der Stau auf dem Weg zur Arbeit? Welche Stressfaktoren gibt es am Arbeitsplatz selbst? Genauso bin ich dann auch mit meinen Patienten vorgegangen, die mit Erschöpfungssymptomen zu mir kamen. Egal, ob sie reich oder arm, jung oder alt waren – es haben sich immer wieder ähnliche Muster gezeigt: zum Beispiel extreme Müdigkeit durch zu viel Social-Media-Nutzung, Schlafprobleme bei Stress oder Erschöpfung in emotional anstrengenden Lebensphasen. So habe ich schließlich sieben Arten von Erholung definiert, die in verschiedenen Situationen von Stress und Anspannung Abhilfe schaffen können.

Dr. Saundra Dalton-Smith

ist eine US-amerikanische Fachärztin für Innere Medizin und forscht zum Thema Work-Life-Balance. 2017 erschien ihr Buch Sacred Rest, in dem sie sich dem Thema aus medizinischer und spiritueller Perspektive nähert und sieben Arten von Erholung bestimmt. Mit ihrer Agentur Restorasis berät sie Unternehmen und Führungskräfte rund um das betriebliche Gesundheitsmanagement.

Wie müssen wir unseren Blick auf das Zusammenspiel von Arbeit und Erholung als Gesellschaft verändern?

Bislang denken wir beim Wohlbefinden hauptsächlich an den gesundheitlichen Aspekt des Ganzen: die richtige Ernährung mit Obst und Gemüse, ausreichend Sport, sieben Stunden Schlaf. Und natürlich ist ein gesunder Körper eine wichtige Basis. Aber wir dürfen den Aspekt von regelmäßiger, ganzheitlicher Erholung nicht vernachlässigen. Hier wünsche ich mir, dass Menschen ihr Leben stärker auf die Aktivitäten und Menschen ausrichten würden, die ihnen Kraft geben. Wir brauchen Fürsprecher für eine Kultur, in der es in Ordnung ist, Nein zu sagen.

Wie definieren Sie denn Erholung, ganz abgesehen von der Art?

Bei der Erholung geht es darum, jene Teile unseres Körpers und unserer Psyche zu regenerieren, die im Alltag besonders beansprucht werden. Es geht nicht nur darum, sich bei einem Urlaub oder auf der Couch zu entspannen, sondern darum, gezielt auf der Ebene anzusetzen, auf der wir ein Erholungsdefizit haben.

In Ihrem Buch sprechen Sie dabei von sieben Arten der Erholung. Welche sind das?

Es gibt körperliche, mentale, spirituelle, emotionale, soziale, sensorische und kreative Erholung. Ich persönlich hatte ein Defizit an emotionaler Erholung: Durch meine Arbeit im Krankenhaus war ich täglich mit dem Tod konfrontiert, musste meine eigenen Gefühle allerdings permanent unter Kontrolle behalten. Auch kreative Erholung fehlte mir, weil ich die Diagnose von Krankheiten nicht als kreativen Prozess verstand, sondern dabei in immer gleichen Mustern blieb.

Wie äußert sich beispielsweise das mentale Erholungsdefizit?

Bei einem Mangel an mentaler Erholung können die Symptome Vergesslichkeit und Konzentrationsschwierigkeiten sein. Auch Schlafstörungen können darauf hinweisen: In der Regel haben Betroffene Schwierigkeiten, abends belastende Gedanken loszulassen, und können nicht einschlafen – und dieser Trend hat sich in der Pandemie noch verstärkt. Die Kontaktbeschränkungen haben viele Menschen einsam gemacht, hinzu kam eine große allgemeine Unsicherheit. Auf meiner Homepage gibt es einen Test zur Selbstdiagnose, anhand der Ergebnisse kann ich solche Entwicklungen ziemlich genau verfolgen – bisher haben dabei mehr als 250.000 Menschen mitgemacht. Auffällig ist, dass viele Menschen sensorisch überreizt sind. Das führe ich vor allem auf hybrides Arbeiten und Homeschooling zurück: Die Menschen saßen noch mehr vor dem Computer als sonst. Menschen mit einem sensorischen Erholungsdefizit sind häufig übellaunig und gereizt. Oft entlädt sich ihre Anspannung in spontanen Wutausbrüchen.

Weshalb ist es so schwer, diese Reize im Alltag zu reduzieren?

Weil wir oft überhaupt nicht merken, wie vielen akustischen und visuellen Stimuli wir nahezu dauerhaft ausgesetzt sind: Die Kinder im Zimmer nebenan spielen Videospiele, der Fahrstuhl bei der Arbeit öffnet und schließt sich ständig. Damit wir uns konzentrieren können, filtert unser Gehirn diese sensorischen Reize aus unserer Wahrnehmung heraus. Doch diese Kompensation benötigt Energie. Sie ist anstrengend.

Häufig kann man am Arbeitsplatz aber nicht allzu viel verändern – der Fahrstuhl lässt sich ja nicht einfach entfernen. Welchen Rat geben Sie in diesen Fällen Ihren Patientinnen?

Das ist ganz individuell. Ich versuche, mit ihnen praktikable Lösungen für ihren Alltag zu finden. Wenn Sie in einem Großraumbüro arbeiten, könnten Sie für eine halbe Stunde am Tag Ohrstöpsel tragen. Wenn Sie viel am Computer sitzen, könnten Sie zwischendurch für eine Minute die Augen schließen oder in einen abgedunkelten, stillen Raum gehen. Auf dem Heimweg könnten Sie sich im Auto gegen das Radio und das Telefonieren entscheiden.

Widmen wir uns als Nächstes dem emotionalen Erholungsdefizit. Was kann man sich darunter vorstellen?

Menschen, die einen Mangel an emotionaler Erholung aufweisen, kompensieren üblicherweise die Gefühle anderer. Nehmen wir das Beispiel eines Flugbegleiters: Er muss stets höflich bleiben, auch wenn die Fluggäste unfreundlich sind oder ihn provozieren. In diesem Moment ist er nicht er selbst – er darf seine wahren Gefühle nicht ausdrücken. Das ist belastend.

Aber seine wahren Gefühle zu zeigen, könnte ihn den Job kosten. Was sollte der Flugbegleiter also tun?

Um diesen emotionalen Stress wieder abzubauen, braucht er eine Person, bei der er seinen Ärger herauslassen kann, die ihm zuhört, wenn er sagt: "In dieser Situation habe ich mich herabgewürdigt gefühlt." Das kann die Freundin, ein Pastor oder ein Therapeut sein. Manchen hilft es auch, diese Gefühle aufzuschreiben, in die Saiten einer Gitarre zu hauen oder ein Bild zu malen. Emotionale Erholung bedeutet, sich nicht verstellen zu müssen, die eigenen Gefühle zum Ausdruck bringen und sich auch verletzlich zeigen zu können.

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