Hustle Culture: Arbeiten bis zum Umfallen

Autor*innen
Lisa Kuner
Mann telefoniert mit einem Schnurtelefon, während er ein Bein nach oben streckt. Er ist umgeben von geometrischen Formen und den Buchstaben "A a a"

Work-Life-Balance und Viertagewoche sind im Trend. Eigentlich. Denn noch immer gibt es Menschen, die so viel arbeiten, dass es ungesund wird. Und die das auch noch gut finden.

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Wenn Antonia Pohlmann im Homeoffice arbeitet, macht sie keine Mittagspause. Sie arbeitet einfach durch. Oft elf Stunden oder mehr, am Wochenende im Schnitt noch einmal einen halben Tag, selten weniger als 60 Stunden die Woche. "Ich arbeite einfach sehr gern", sagt die 27-Jährige. Sie hat eine halbe Stelle bei einer Strategieberatung in Hamburg und schreibt mit einer weiteren halben Stelle ihre Doktorarbeit in Graz. Sie lebt hauptsächlich in Hamburg, pendelt aber auch regelmäßig nach Graz – 14 Stunden mit dem Zug, auch die nutzt sie dann für die Arbeit.

"Mir ist bewusst, dass ich sehr viel Zeit mit der Arbeit verbringe und mich auch darüber definiere", erzählt sie. Ihre Arbeit fordere und erfülle sie, da störe es sie auch nicht, ein paar Stunden mehr damit zu verbringen. Ihr sei all das, was sie tue, einfach sehr wichtig: ihr Job, ihre Doktorandenstelle, ihr Ehrenamt, in das sie obendrein rund fünf Stunden die Woche investiert, und auch ihr selbständiges Engagement in einem Frauennetzwerk. "Eigentlich mache ich immer irgendetwas Produktives", sagt Pohlmann.

Während gerade in Pohlmanns Alter viele Erwerbstätige ihre Work-Life-Balance hochhalten und sich eine Viertagewoche wünschen, gibt es auch das genaue Gegenteil: Arbeitnehmer, die fast all ihre Zeit und Anstrengung in ihre Karriere stecken. Nach Daten der Allensbacher Markt- und Werbeträgeranalyse schätzen sich mehr als 18 Millionen Menschen in Deutschland als Workaholics ein. Aber nicht nur das: Laut einer aktuellen Studie der Hans-Böckler-Stiftung arbeitet jeder Zehnte in Deutschland suchthaft. Das heißt, die Menschen haben exzessive Arbeitszeiten, Schwierigkeiten, sich von der Arbeit zu lösen, und sind schnell frustriert, wenn ihre Arbeit verhindert wird.

Sport morgens um 5 Uhr

Auf Social Media wird genau dieser Arbeitsstil als "Hustle Culture" gefeiert. Dort kann man sich anschauen, wie Menschen es regelrecht zelebrieren, etwa morgens um 5 oder abends um 23 Uhr noch Sport zu machen, um etwas Bewegung an den Rand ihres vollen Arbeitstags zu stopfen. Man kann auch Videos dazu ansehen, mit welcher Trink- und Essroutine man über viele Stunden besonders produktiv sein kann. Das Ideal: Immer "busy" und effizient sein. Die Devise: Harte Arbeit zahlt sich aus, im Zweifelsfall mehr als Talent.

Einer der auf Social Media häufig über harte Arbeit spricht, ist David Döbele. Viele seiner Follower möchten ebenfalls am liebsten Arbeitsstellen mit 60-80-Stunden-Wochen haben und sich darüber definieren. Döbele selbst kann sich nur begrenzt mit dem Begriff Hustle Culture identifizieren. Es sei gar nicht so, dass er jede Woche 80 Stunden oder mehr arbeite. Döbele ist 26 Jahre alt und Mitgründer der Karriereberatung Pumpkincareers. Die berät Studierende zum Weg in Unternehmensberatungen und ins Investmentbanking – Branchen, in denen traditionell besonders viele Überstunden gemacht werden. Nebenher teilt Döbele auf verschiedenen Plattformen noch Infos und Memes zum Thema BWL.

Gerade in den ersten beiden Jahren nachdem er sein eigenes Unternehmen gegründet hat, habe er auch oft sehr lange und sehr intensiv gearbeitet. "Arbeit hatte einfach eine hohe Priorität für mich", sagt er. Es sei ihm dabei immer darum gegangen, das eigene Projekt nach vorne zu bringen, die vielen anstehenden Aufgaben zu realisieren. Er habe mit "Laserfokus" versucht sich seinen Traum zu erfüllen. "Wer viel arbeitet, kann auch überproportional erfolgreich werden", denkt er. Wenn er ins Bett ging, wollte er stolz auf sich sein können.

Wenn Arbeit zum Anker im Leben wird

Gerade in der Start-up-Welt werde Hustle Culture hochgehalten, erzählt Alice Greschkow. Sie ist im Beratungsunternehmen Prognos AG Spezialistin für die Transformation der Arbeitswelt. "Zeit, Energie, Konzentration – in der Hustle Culture wird das alles in das Projekt Arbeit gegeben", erklärt sie. Dahinter stehe der feste Glaubenssatz, wenn man sich nur genug anstrenge, nur genug Engagement zeige – dann komme auf jeden Fall der Erfolg. Hustle Culture sei dabei aber nicht einfach, viele Stunden zu arbeiten, dahinter stehe eine besondere Haltung zur Arbeit. "Menschen, die Hustle Culture leben, ziehen viel Wertschätzung und Identifikation aus der vielen Arbeit", sagt Greschkow. Der US-amerikanische Journalist Derek Thompson ist sogar der Meinung, dass für viele Menschen Arbeit irgendwann zur Ersatzreligion werde. "Workism" nennt er das dann. Auch Greschkow beobachtet, dass in einer Zeit, in der Religion immer unwichtiger werde, Arbeit plötzlich zum Anker im Leben wird. "Die Menschen priorisieren und glorifizieren das viele Arbeiten", fügt Kimberly Breuer hinzu. Sie ist Psychologin und Gründerin des Unternehmens Likeminded, das sich mit mentaler Gesundheit am Arbeitsplatz beschäftigt. Grundlage dafür seien das gesellschaftliche Ideal von Leistung und die Annahme, dass Schwäche zeigen gerade in der Berufswelt nicht in Ordnung ist.

Auf Dauer funktioniert ein solcher Arbeitsstil aber nicht unbedingt. Das weiß auch David Döbele. "Ich finde das nicht besonders erstrebenswert, und möchte das nicht die nächsten 20 Jahre so machen", sagt er. Gleichzeitig betont er, dass es für karriereorientierte Menschen schon Sinn ergeben könne, einige Jahre lang sehr viel Fleiß und Leidensbereitschaft zu zeigen. "Wenn ich mich nicht so reingehängt und einschlägige Erfahrungen gemacht hätte, wäre ich jetzt vielleicht nicht hier", sagt er. In einigen Branchen werde viel Arbeit einfach erwartet. Wenn man dort Erfolg haben wolle, müsse man das in Kauf nehmen. In vielen Arbeitsstunden könne man zudem viel Erfahrung sammeln und mehr lernen. "Talent kommt erst mit Arbeit an die Oberfläche", sagt er. Und: Wer in jungen Jahren viel arbeite, komme früher in höhere Positionen und habe darum später bessere Möglichkeiten, die Arbeit flexibler zu gestalten, müsse sich also weniger Sorgen um die Zukunft machen. Außerdem sieht Döbele lange Arbeitszeiten nicht unbedingt als Last: Wenn man auf etwas hinarbeite, mache das auch Spaß – selbst wenn man dafür Freizeit opfere. "Solange man damit nicht unglücklich ist, sehe ich kein Problem", sagt er.

Es gibt Grenzen

Antonia Pohlmann erzählt, dass sie schon immer sehr ehrgeizig gewesen ist – während der Schule, im Studium. Jetzt im Beruf habe sie auch noch deutlich mehr Verantwortung und wolle allen gerecht werden. Das sporne zusätzlich an. Sie sagt: "Ich will mir schon ein bisschen selbst beweisen, dass ich das alles schaffen kann." Und fügt hinzu: "Ich bin nicht unglücklich." Abschalten falle ihr schwer: Im Urlaub mit ihren Eltern hat sie oft vor dem Frühstück noch ein, zwei Stunden gearbeitet. "Ich glaube nicht, dass die das mitbekommen haben", sagt sie. Sie sei nicht stolz auf das viele Arbeiten. Sie wisse, dass sie selbst und vor allem ihr Schlaf oft viel zu kurz kommen.

"Viel Arbeit ist per se nicht unbedingt ein Problem", sagt Transformationsfachfrau Greschkow. Die Arbeitswelt sei sehr heterogen, da gebe es nicht das eine richtige Arbeitspensum für alle. Trotzdem gibt es Grenzen, zu viel Arbeit macht krank: Eine Studie der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung hat in diesem Jahr beispielsweise Arbeitssucht, also extensives und zwanghaftes Arbeiten, untersucht. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass Workaholics häufiger psychisch oder körperlich erkranken als andere Beschäftigte. Besonders häufig leiden sie an Müdigkeit, körperlicher und psychischer Erschöpfung, Schlafstörungen sowie Nacken- und Rückenschmerzen. Trotz dieser Beschwerden melden sich extensiv Arbeitende nur selten krank.

Problematisch sei, dass viele Menschen, die aus Überzeugung viel arbeiten, ihre Grenzen nicht erkennen, sagt Kimberly Breuer von Likeminded. "Sie sind sich gegenüber nicht ehrlich, handeln dann zu spät und manövrieren sich im schlimmsten Fall ins Burnout." David Döbele hat das schon am eigenen Leib erfahren: "Manchmal habe ich meine eigenen Grenzen vernachlässigt", sagt er. Das habe auch kurzfristig negative Auswirkungen auf seine Gesundheit gehabt. "Wenn man krank ist und weiter powert, dann wird alles noch schlimmer." Inzwischen sei er besser darin, zu erkennen, wann sein Körper eine Pause brauche.

Eigentlich findet auch Antonia Pohlmann, dass ihr Lebens- und Arbeitsmodell nicht auf Dauer funktionieren kann. Wenn sie in einer besonders stressigen Phase ist, macht sie sich noch vor dem Schlafengehen eine To-do-Liste, in der sie den nächsten Tag im 15-Minuten-Rhythmus durchplant. Meistens könne sie diese Taktung dann nicht einhalten, und das verursache noch mehr Stress. Pohlmann merkt auch, dass sie in solchen Phasen dünnhäutiger wird. "Letztens wurde mir mein Fahrrad geklaut", erzählt sie. "Das hat mich dann völlig fertiggemacht." Sie habe einfach keine Ressourcen mehr übrig gehabt, das zu verarbeiten.

Über sich selbst reflektieren

Immer wieder nehme sie sich vor, weniger zu machen. "Aber ich mache alles, was ich mache, so gerne, dass ich nichts davon aufgeben wollen würde", sagt sie. Manchmal hat Pohlmann einen Albtraum. Darin läuft sie einen Tunnel entlang. Es gibt keine Türen, keine Abzweigungen. Ihr Leben fühle sich auch manchmal so an, als gebe es keinen Ausweg, erzählt sie.

Seit einer Weile lässt sie sich coachen, will ein bisschen mehr Balance finden. Aber schon winzige Entspannungsaufgaben, wie eine Stunde allein spazieren zu gehen, seien für sie richtig schwer umzusetzen. Sie scheue sich regelrecht ein wenig davor, zur Ruhe zu kommen und sich dann zu hinterfragen.

Für Kimberly Breuer fängt ein gesunder Umgang mit viel Arbeit genau damit an, über sich selbst und sein Bild von Arbeit zu reflektieren. Man solle beispielsweise überlegen, ob man sich selbst nur auf die eigene Arbeit reduziere. Als Nächstes rät sie dazu, Pausen bewusst positiv zu besetzen. "Auf sich selbst aufpassen heißt auch, dass man selbst langfristiger und nachhaltig leistungsfähig bleibt", erklärt sie. Außerdem könne es Sinn ergeben, über den eigenen Stress nachzudenken. Stress komme nicht nur aus der Umwelt, sondern auch durch innere Stressfaktoren. Es sei wichtig, diese zu identifizieren und somit den eigenen Stress zu reduzieren.

Kein Selbstzweck

Unternehmer und Influencer David Döbele erklärt, dass es für ihn trotz der vielen Arbeit wichtig ist, davon Abstand zu bekommen. Er findet, dass Arbeit kein Selbstzweck ist und man sich selbst nicht darauf reduzieren sollte. "Man sollte sich schon überlegen, warum man eigentlich so viel arbeitet", sagt er.

Aus Sicht von Alice Greschkow gibt es neben den Aspekten von mentaler Gesundheit noch andere Kritikpunkte. "Hustle Culture schließt auch viele Menschen aus." Nicht jeder könne Hustle Culture leben. So sei es beispielsweise für Menschen, die Sorgearbeit machen oder gesundheitlich eingeschränkt sind, unmöglich, unzählige Überstunden zu schieben. Für Greschkow ist zudem die Prämisse problematisch, dass sich viel Arbeit immer auszahle. Das sei kein Selbstläufer. In vielen Bereichen, beispielsweise im Gesundheitswesen, könne man bis zur maximalen Erschöpfung arbeiten, ohne dass man dadurch besonders erfolgreich werde. Genau genommen sei es nur eine sehr kleine Gruppe an privilegierten Wissensarbeitern, die darauf hoffen können, dass durch mehr Anstrengung auch finanzieller Erfolg komme.

Antonia Pohlmann kennt die Gefahren von zu viel Arbeit. Ihr fällt es trotzdem schwer, ihre Arbeitszeit zu reduzieren. Sie will in diesem Jahr zumindest mal auf den Pausenknopf drücken: Im Herbst fährt sie fünf Wochen ohne ihren Computer in den Urlaub. Da habe sie dann keine Möglichkeit zu arbeiten. In 1,5 Jahren will sie außerdem mit ihrem Doktor fertig sein. Dann werde alles automatisch ruhiger, hofft sie.

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