Ernährungsmythen: "Vitamin- und Eiweißpräparate können Sie sich sparen"

Autor*innen
Katrin Hummel
Schüssel mit Obstsalat die von zwei Händen gehalten werden

Der britische Wissenschaftsautor Tim Spector sagt: Vieles, was lange als gesichertes Wissen über Ernährung galt, ist falsch. Aber er hat auch gute Nachrichten.

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Mr. Spector, Sie sind Epidemiologe und Wissenschaftsautor – und Sie erklären, was die meisten Menschen unter gesunder Ernährung verstehen, sei oft falsch. Wie kommen Sie darauf?

In der Vergangenheit hatte die Ernährungswissenschaft einen schlechten Ruf. Forschungsgeld ist eher in Forschungsvorhaben der Chemie oder Physik investiert worden. Weil seriöse Studien zum Thema Ernährung teuer und schwer durchzuführen sind, hat man früher auch meist an Tieren geforscht. Und das sagt nicht allzu viel darüber aus, was die Ergebnisse für den Menschen bedeuten. Flankiert wird dieses Nichtwissen durch Falschinformationen, gestreut von der Lebensmittelindustrie. Was ich als Wissenschaftler in den letzten zehn Jahren entdeckt habe und immer noch entdecke, hat mich schockiert. Inzwischen habe ich meine auf konventionelle Weise erworbenen Ansichten zu Ernährung und Gesundheit fast vollständig revidiert.

Was haben Sie denn so Schockierendes entdeckt?

Allein im vergangenen Jahr sind einige weitverbreitete medizinische Ansichten, die seit Jahren galten, durch neue Daten widerlegt worden, beispielsweise dass eine salzarme Ernährung Herzversagen vorbeugt oder dass Omega-3-Kapseln gegen Diabetes helfen. Und es gibt auch immer mehr groß angelegte Langzeitstudien, die darauf hindeuten, dass eine fettreduzierte Ernährung ungünstiger ist als eine mit höherem Fettanteil, wie sie etwa in den Mittelmeerländern verbreitet ist. Wie viel Fett man verzehrt, spielt offenbar weniger eine Rolle als das, was sonst noch auf dem Teller liegt. Und es gibt viele Menschen, für die wäre es sogar besser, viel Fett zu essen als wenig.

Welche Menschen sind das?

Wenn man sicher wissen will, ob man so ein Mensch ist, muss man einen persönlichen Glukose- und einen Blutfetttest machen. Man kann aber auch einfach auf seinen Körper hören und mal was anderes als sonst zum Frühstück essen: mehr oder weniger Kohlenhydrate oder Fett. Und dann gucken, wie es einem drei Stunden später geht. Ob man satt ist oder hungrig oder müde. Das hängt alles vom Glukosewert im Blut ab.

Sie raten auch dazu, nicht auf die Kalorien zu achten, die wir zu uns nehmen. Warum?

Weil nicht alle Menschen die aufgenommene Energie gleich gut verbrennen. So wirken sich beispielsweise die Gesamtmuskelmasse und die körperliche Fitness auf den Grundumsatz aus. Inzwischen wissen wir auch, dass Lebensmittel ihren Energiegehalt verändern, je nachdem wie man sie zubereitet. Rohes Rindfleisch-Tatar liefert dem Körper zum Beispiel weniger Kalorien als ein noch blutiger, medium rare gebratener Burger und dieser wiederum weniger als ein gut durchgebratener. Und bei stark verarbeiteten Fertiggerichten wird meist die komplexe Struktur der pflanzlichen und tierischen Zellen zerstört. Das Ergebnis ist ein nährstoffleerer Brei, den unser Körper unnatürlich schnell verarbeiten kann, sodass wir schnell wieder Hunger haben.

Ihr Sohn hat sich mal zehn Tage lang ausschließlich von Fast Food ernährt.

Ja, nur Burger und Chicken Nuggets, also gar keine Ballaststoffe. Danach war seine Darmflora beschädigt, und sie ist es noch jetzt, sechs Jahre später. Ganze 40 Prozent der nachweisbaren Mikrobenarten waren verschwunden. Er ist jetzt 28 und gehört zu den zehn Prozent seiner Altersklasse mit der schlechtesten Darmflora. Es wird aber langsam besser. Die Mikrobenarten, die sich von Ballaststoffen ernähren, werden durch die Zufuhr von Obst und Gemüse langsam wieder aufgebaut.

Wirft er Ihnen vor, dass Sie ihn für den Versuch eingespannt haben?

Ja, aber nur, wenn er sich Geld von mir leihen will (lacht).

Noch mal zurück zu den Omega-3-Kapseln: Die wirken gar nicht, haben Sie gesagt?

Jahrelang war ich – wie viele andere - der Meinung, Fischölkapseln mit Omega-3-Fettsäuren, die als Allheilmittel gegen Arthritis, Herzkrankheiten und Demenz vermarktet werden, seien gesund. Eine groß angelegte Untersuchung mit 25.000 Amerikanern erbrachte aber 2019 keinen Nachweis dafür, dass sich mit der Einnahme von Fischöl Herzerkrankungen oder Krebs verhindern lassen. Andere umfangreiche Studien haben inzwischen gezeigt, dass diese Präparate auch nicht vor Erblindung, Alzheimer oder Prostatakrebs schützen.

Und dass eine salzarme Ernährung Herzversagen verhindern kann, stimmt ebenfalls nicht?

Auch wenn es einige klar definierte Ausnahmen gibt, sollten die meisten Menschen im Rahmen einer qualitativ hochwertigen, ausgewogenen Ernährung Salz genießen dürfen. Wer nicht täglich Junkfood verzehrt, muss sich wahrscheinlich keine Sorgen machen, wenn er Salz ins Nudelwasser gibt oder es verwendet, um Fleisch zarter zu machen oder den Tomatensalat zu verfeinern. Stillt man den Appetit auf Salziges mit Bäckerbrot, Räucherschinken oder Käse, dann ist das allemal besser als mit industriell hergestellten Burgern, Burritos, Pizzas und Kartoffelchips.

Wie sieht es denn mit Vitaminpräparaten aus?

Die haben nicht nur keinen Nutzen, sondern sind in vielen Fällen sogar schädlich. Vitamine sind bloß chemische Stoffe, auch wenn man das nicht gleich am Namen erkennen kann. Und sie sind mikroskopisch klein, deswegen müssen die meisten Tabletten und Kapseln mit Füllstoffen und Konservierungsstoffen aufgefüllt werden, die kaum überprüft sind. Multivitaminpräparate enthalten häufig auch noch versteckte Zusatzstoffe. In einigen wurden schon Viagra oder Anabolika in Pulverform entdeckt. Mehrere Studien mit insgesamt über einer halben Million Teilnehmern haben die Einnahme solcher ungeprüften Multivitaminpräparate mit einem erhöhten Risiko für Herz- und Krebserkrankungen in Verbindung gebracht. Wären diese chemischen Stoffe nicht unter dem Begriff Nahrungsergänzungsmittel gesetzlich geschützt, dann hätte man sie schon längst verboten.

Gilt das auch für Vitamin C?

Der Mythos, Vitamin C stärke das Immunsystem, geht wahrscheinlich auf den Nobelpreisträger Linus Pauling zurück, der in den 1960er-Jahren die Hypothese aufgestellt hat, die Einnahme von Vitamin C wirke vorbeugend gegen Erkältungskrankheiten. Obwohl viele verlässliche Studien seine Theorie widerlegt haben. In einigen wenigen Untersuchungen hat sich gezeigt, dass durch die Gabe von Vitamin C in Kombination mit Zink die Dauer einer Erkältung um etwa sechs bis zwölf Stunden verkürzt werden konnte. Derselbe Effekt ließe sich aber vermutlich auch mit einem Glas Orangensaft oder einer Kiwi erreichen, nur dass dazu bislang noch keine Studien finanziert wurden.

Und was ist mit Eiweißpräparaten?

Die können Sie sich auch sparen. Tatsächlich ist der Eiweißbedarf bei Kraftsportlern gegenüber dem bewegungsfaulen Durchschnittsmenschen etwas erhöht; die Differenz ist jedoch minimal und beträgt nur etwa 50 Gramm am Tag, was sich ohne Weiteres durch den Verzehr einer Hähnchenbrust oder einer Dose Bohnen decken lässt. Sie können sich also die teuren Präparate sparen und denselben Nutzen aus einem Glas Milch und einer Handvoll Nüsse vor oder nach dem Gang ins Fitnessstudio ziehen. Zwar gilt es inzwischen nicht mehr als schädlich für die Nieren, zu große Mengen Eiweiß zu sich zu nehmen; die meistverkauften Präparate enthalten aber eine lange Liste chemischer Zusatz- und Aromastoffe, die nicht ausreichend getestet wurden.

Ist rotes Fleisch – Lamm, Schwein, Rind – besser als Eiweißpräparate?

Die WHO hat rotes Fleisch als genauso schädlich eingestuft wie Tabak. Das ist absurd. Um das Krebsrisiko von einem Gewohnheitsraucher zu erreichen, müsste man hundert Scheiben Speck am Tag vertilgen. Das Krebsrisiko eines durchschnittlichen italienischen Fleischessers ist mit dem von jemandem zu vergleichen, der ganze drei Zigaretten im Jahr raucht. Der Bericht der WHO unterscheidet auch nicht hinsichtlich Fleischsorte und Qualität. Dabei ist beispielsweise der massenhafte Verzehr von "Hamburgern Royal", die jede Menge Salz, gesättigte Fette und Zusatzstoffe enthalten, nicht mit dem Genuss eines kleinen Steaks vom Bio-Weiderind zu vergleichen. Die Schlagzeile "Speck verursacht Krebs" ist daher mit großer Skepsis zu betrachten.

Und wie gesund ist Fisch?

Fische werden heute meist in Aquakulturen gezüchtet. Sie werden dort vor allem mit Fischmehl gefüttert, das außerdem meist Fischöl enthält, Soja, genmanipulierte Hefen, Hühnerfett und manchmal auch zermahlene Federn. Bei Zuchtlachs wird dem Futter auch noch ein Farbstoff beigemengt, Astaxanthin, um dem blassgrauen Fleisch eine rosige Farbe zu verleihen. Zudem werden auf Aquafarmen routinemäßig große Mengen Antibiotika verwendet, um das Wachstum der Fische zu fördern und Krankheiten zu vermeiden. So werden nicht nur viele Fische immun dagegen, sondern durch den Eintrag in die menschliche Nahrungskette verstärkt sich auch die menschliche Antibiotikaresistenz. Verstehen Sie mich nicht falsch: Es spricht nichts dagegen, Fisch zu genießen, aber geben Sie ruhig etwas mehr Geld aus, und kaufen Sie qualitativ hochwertige Ware, und betrachten Sie Fisch als Delikatesse und nicht als Alltagsgericht.

Was halten Sie denn von dem neuen "Nutri-Score", also den Farbcodes auf Lebensmittelverpackungen?

Das ist ein höchst mangelhaftes System. Griechischer Joghurt, Käse, Olivenöl-Dressing oder Nüsse fallen in die gelbe oder rote Kategorie, die man nur gelegentlich oder möglichst überhaupt nicht verzehren soll. Dabei sind sie erwiesenermaßen gesund und gehören zu den Grundlagen der sogenannten Mittelmeerkost, die international als eine der gesündesten Ernährungsweisen gilt.

Woran kann man sich orientieren, wenn man gesund einkaufen will?

Das ist gar nicht so leicht. Um den Anschein zu erwecken, sie seien um die Gesundheit der Menschen besorgt, reduzieren Hersteller den Zucker-, Salz- und Fettanteil ihrer Erzeugnisse immer mehr. Aber stattdessen fügen sie künstliche Zusatzstoffe hinzu. Die Annahme, die Qualität eines Nahrungsmittels ließe sich an der Menge des enthaltenen Zuckers, Fetts und Salzes bemessen, ist überholt und zudem völliger Unsinn.

Haben Sie eigentlich auch irgendwelche guten Nachrichten?

Ja. Nicht alle billigen Lebensmittel sind ungesund. Man kann Dosenfrüchte und Dosengemüse durchaus als gesund bezeichnen. Die werden meistens gleich nach der Ernte eingedost, wobei die Nährstoffe fast vollständig erhalten bleiben. Unser Misstrauen gegenüber Obst in Dosen speist sich hauptsächlich aus der Tatsache, dass beim Erhitzen der Dosen aus Gründen der Haltbarmachung etwa ein Drittel des enthaltenen Vitamin C verloren geht. Der Gehalt an Polyphenolen – bestimmte gesundheitsfördernde Stoffe, die in allen Pflanzen enthalten sind – ist dagegen erhöht, selbst noch nach Monaten in der Dose.

Was ist mit Tiefkühlprodukten?

Tiefkühlbeeren sind um etwa 70 Prozent preiswerter als frische. Der Mikronährstoffgehalt tiefgefrorenen Obsts und Gemüses ist aber mit dem der frischen Varianten vergleichbar. Friert man Erbsen nach der Ernte schnell ein, ist ihr Vitamin-C-Gehalt sogar höher. Und die meisten Sorten vorgekochter Hülsenfrüchte aus der Dose, etwa Bohnen, sind nährstoffreicher als getrocknete, die unter Umständen viel zu lange gelagert wurden.

Tim Spector

Tim Spector ist Professor für genetische Epidemiologie King's College London und mehrfach preisgekrönter Experte für personalisierte Medizin und das Darmmikrobiom.

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