Sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz: Er war Chef, sie Praktikantin
- Katharina Meyer zu Eppendorf, Martina Kix, Cathrin Schmiegel, Theresa Tröndle und Paul Hildebrandt

Lustre – stock.adobe.com
Fast jede zweite Frau unter 30 hat schon einmal sexistische Übergriffe am Arbeitsplatz erlebt. Das zeigt eine Studie des Bundesfamilienministeriums. Wir haben zu dem Thema einen Leseraufruf gemacht, mehr als 400 Frauen haben sich gemeldet. Mit elf von ihnen haben wir gesprochen. Das sind ihre Geschichten.
"Nach einer OP schrieb er mir: Ich habe heute Nacht von deinem Körper, deinen Brüsten, geträumt"
"Sexismus war ich eigentlich gewohnt, erst als Rettungssanitäterin, dann im Medizinstudium, später als Assistenzärztin. In Mainz, wo ich studiert habe, bat der Professor im Anatomiekurs einmal eine Kommilitonin an die Tafel, auf die er vorher zwei Kreise gemalt hatte. Er fragte: 'Was ist das?' Sie zuckte mit den Schultern. Er antwortete: 'Das sind die Herdplatten, an die Sie gehören.' Gelächter. Ein Chefarzt sagte einmal offen, dass er eigentlich keine Frauen mehr einstellen wolle, weil diese schwanger werden könnten: 'Denen sollte man es verbieten, Kinder zu werfen.' Aber dass es mal so schlimm werden würde wie in meinem Lehrkrankenhaus in Rheinland-Pfalz, hätte ich nicht gedacht.
Ich hatte gerade als Assistenzärztin in der Unfallchirurgie angefangen. Dort arbeiteten etwa zwanzig Leute. Mir wurde schnell viel Verantwortung übertragen, ich arbeitete 24-Stunden-Schichten und assistierte bei Blinddarm-, Gallenblasen-, Sprunggelenk-OPs. Die Pläne dafür machten die Oberärzte, bei uns gab es vier, unter anderem Dr. Thomas*, der Sektionsleiter, und Dr. Konrad*, der neu dazugekommen war. Gemeinsam hatten sie aus unserer Station ein gut funktionierendes Team gemacht, auch Dr. Konrad war zu allen freundlich.
Ich hatte mit ihm ein paarmal über Facebook geschrieben. Er wusste, dass ich Katzen hatte, und fragte mich, was ich einem frischen Katzenhalter raten würde. Ich erklärte ihm, welche Katzenstreu am besten ist, flirty war das überhaupt nicht. Dann aber kam einmal eine Studentin zu mir. Sie erzählte mir, dass Dr. Konrad auf Facebook viele ihrer Posts gelikt und sie auch angeschrieben habe. Ich sagte, sie solle das bei der Klinikleitung melden. Sie würde sich das nicht trauen, sagt sie, sie sei ja nur die Praktikantin.
Dann kam das städtische Oktoberfest, das wir als Belegschaft besuchten. Ich trug ein Dirndl, trank Maßbiere und tanzte auf dem Tisch – Dr. Konrad neben mir. Auf einmal spürte ich, wie er seine Hand unter meinen Rock schob. Ich war schockiert, sprang vom Tisch und ging nach Hause. Auf dem Heimweg weinte ich. Ich fand das schlimm, verdrängte es aber schnell. Ich dachte mir: Er war halt betrunken. Dr. Konrad sprach mich auch nicht darauf an.
Ich ging ihm danach erst mal aus dem Weg. Ich fand es deswegen okay, ein paar Monate später wieder mit ihm im OP zu stehen. Danach schrieb er mir auf WhatsApp: 'Das war eine tolle OP.' Darüber habe ich mich gefreut, Lob gibt es ja selten in unserem Job. Aber dann ging es weiter: 'Ich hab heute Nacht von dir geträumt, deinem Körper, deinen Brüsten.' Ich antwortete: 'Ich will das nicht hören.' Ich löschte die Nachricht und versuchte, ihn zu meiden. Auch für OPs mit ihm meldete ich mich nicht.
Dann habe ich mitbekommen, dass ich nicht die einzige war: Da war die Studentin, aber ich hörte auch Geschichten von mehreren Pflegerinnen und von einer Kollegin, der er in der Umkleide der Klinik mal an den Po gefasst und sogar Fotos von seinem Penis geschickt hatte. Da wurde mir klar, wie viele es betraf. Und ich wollte etwas tun.
Mit einer Kollegin schrieb ich einen Brief an die Geschäftsleitung des Krankenhauses. Erst anonym, dann mit Namen. Die Geschäftsleitung schaltete sofort eine Anwaltskanzlei ein, die alle Nachrichten und Penisbilder sichtete. Sie kamen zu der Einschätzung, dass man Dr. Konrad sofort kündigen sollte, was die Geschäftsleitung auch tat. Außerdem zeigte sie ihn an. Weiter wurde das von der Klinikleitung aber nicht aufgearbeitet.
Und auch der andere Sektionsleiter, Dr. Thomas, schien ein Problem mit der Kündigung seines Kollegen zu haben. In meinem Abschlussgespräch ein paar Monate später sagte er mir: 'Ich halte nichts davon, dass Sie dagegen vorgegangen sind.' Ich bin mir immer noch sicher: Es war richtig, etwas zu tun, auch wenn es mich viel Kraft gekostet hat. Was aus Dr. Konrad geworden ist, habe ich auf LinkedIn gelesen: Seit vier Monaten arbeitet er in einem neuen Krankenhaus als Oberarzt. Dort bildet er wieder Assistenzärzt:innen aus."
Anonym, 35, Assistenzärztin.
"Mein Chef fragte mich: Wenn er mir mir Sex haben würde, wäre das dann Kinderfickerei?"
"Ich war 16, als ich nach meiner Mittleren Reife eine Ausbildung zur Industriekauffrau anfing. In dem mittelständischen Familienunternehmen arbeiteten fast nur Männer in Führungspositionen, Frauen waren meist Sachbearbeiterinnen. Mein Chef, Anfang 60, ließ fast jeden Tag einen dummen Spruch ab, kommentierte lackierte Fingernägel oder Kleidung. Einmal hatte ich ein längeres Oberteil an, mit einer Leggins darunter. Da meinte er, die könnte ich das nächste Mal doch weglassen.
Mit der Zeit wurden die Kommentare heftiger. Ich war ein paar Monate da, als er mich fragte: Wenn er mit mir Sex haben würde, wäre das dann Kinderfickerei? Der zweite Geschäftsführer stand daneben und lachte. Diese Szene hat sich bei mir richtig eingebrannt. Ab dem Moment war es für mich nur noch schrecklich. Ein weiteres Problem: Dadurch, dass mein Chef dieses Verhalten vorlebte, gingen viele Männer ähnlich mit uns Frauen um. Als ich am Kopierer stand, haben mich mal zwei Kollegen aus der IT auf einer Skala von eins bis zehn bewertet.
Als ich mir ein neues Auto kaufte, fragte mich ein Kollege, ob ich das denn mit meinem Freund ordentlich eingeweiht hätte, und machte dazu die typische Handbewegung. Auf die Sprüche reagiert habe ich nie, ich war oft überfordert, und mir war das alles unglaublich peinlich. Nach der Ausbildung bin ich noch zwei Jahre geblieben, ich dachte, ich müsste das durchziehen und stark sein. Irgendwann habe ich dann aber gekündigt, mein Abi nachgeholt, Soziale Arbeit studiert und eine Ausbildung zur Erzieherin gemacht. Während dieser Zeit ist mir erst so richtig klar geworden, was damals eigentlich passiert war: dass mich niemand geschützt hat und sich die anderen Männer und Frauen zu Mittäter:innen gemacht haben."
Kim, 31, Sozialpädagogin.
"Eines Tages streichelte er mir beim Händeschütteln mit dem Daumen über die Hand"
"Ich war 22 und machte gerade ein Praktikum in einer Behörde, die zum Innenministerium gehört. Als Praktikant:innen hatten wir zwar nicht mal eigene Arbeitsplätze, trotzdem freute ich mich über die Chance, dort arbeiten zu dürfen. Ich hatte Spaß an meinem Projekt und konnte mich auch ein wenig vernetzen. Da war zum Beispiel der Leiter einer anderen Abteilung. Sein Büro lag auf dem Weg zum Drucker, und da die Behörde eine 'open door policy' pflegte, um die Kommunikation im Haus zu stärken, quatschten wir ab und an. Am Anfang stellte er nette Fragen wie: 'Was studierst du?' Ich gab gern Auskunft.
Das wurde dann leider bald unangenehm: Wenn jemand von uns Praktikantinnen einen Rock trug, schaute er an ihnen herunter und sagte: 'Der Rock steht Ihnen aber hervorragend.' Einmal sagte er zu mir: 'Sportlich, sportlich heute, chic, chic.' Klar, das waren Komplimente. Aber es waren die Betonungen und seine Blicke, an denen man merkte, was er sich vermutlich dabei dachte. Am Anfang sagte ich nichts. Als er mir aber eines Tages bei einem Gespräch auf dem Flur wieder einmal die Hand schüttelte und mit dem Daumen über die Hand streichelte, hielt ich es nicht länger aus. Ich schnauzte ihn an und sagte, dass ich seine blöden Kommentare unangebracht fände und er meine Hand gefälligst loslassen solle. Dann ging ich zurück an meinen Schreibtisch.
Als ich wieder vor meinem Computer saß, hatte ich zwei E-Mails von anderen Mitarbeiter:innen in meinem Posteingang, die alles mitbekommen hatten. 'Endlich sagt das mal jemand!', schrieben sie und: 'Wow, toll gemacht.'
Diese Reaktion hat mich bestärkt. Ich bin danach zur Gleichstellungsbeauftragten gegangen. Sie sagte mir, dass der Kollege schon einmal eine Anzeige wegen sexueller Belästigung bekommen hatte, und bot mir ein Dreiergespräch an. Das lehnte ich allerdings ab.
Mein Praktikum ging da nur noch ein paar Wochen, und ich wollte die Sache möglichst schnell vergessen. Geprägt hat mich das Ereignis aber bis heute. Ich frage mich, ob es okay ist, auf der Arbeit offen gegenüber Männern zu sein. Schlimm, oder?"
Anonym, 34, Unternehmensberaterin.
"Und dann hat mich mein Chef gefragt, was ich davon hielte, wenn wir uns jetzt küssen würden"
"Während meines BWL-Bachelors habe ich als Werkstudentin in der Personalabteilung eines Fotovoltaik-Unternehmens gearbeitet. Dort waren fast nur Männer beschäftigt, an deren Büros ich oft vorbeimusste. Einer hat mich immer so lüstern angeschaut, dass ich irgendwann nur noch weite Klamotten trug. Leider hörte es bei den Blicken nicht auf.
Auf einer Weihnachtsfeier machten sich meine Chefs, beide Mitte 30, an mich ran. Der eine meinte, er finde mich süß und würde sich in der Schlange anstellen, wenn er in meinem Alter wäre. Der andere kam mir auf der Tanzfläche immer näher und meinte, ich könne mich so gut bewegen. Später in der Nacht teilte ich mir ein Taxi mit ihm, weil wir beide im selben Bezirk wohnten.
Wir saßen nebeneinander auf der Rückbank. Er fragte mich nach meinem Studium und was ich sonst noch so mache. Eine normale Unterhaltung, dachte ich. Bis er wissen wollte, was ich davon hielte, wenn wir uns jetzt küssen würden. Das sei keine gute Idee, meinte ich und war froh, dass ich gleich aussteigen konnte. Besonders schlimm fand ich im Nachhinein aber, dass er verheiratet war und ein Baby hatte. Trotz allem bin ich im Unternehmen geblieben, weil ich schon beim Bewerbungsgespräch ausgehandelt hatte, dass ich während einer längeren Reise remote arbeiten könnte. Heute würde ich nach so einem Vorfall direkt kündigen."
Luzie, 23, studiert Internationale Entwicklung.
"Er sagte: Du löst ganz besondere Gefühle in mir aus"
"Ich hatte bei einem Online-Versandhandel als Werkstudentin angefangen und wurde von meinem Abteilungsleiter eingearbeitet. Da ich anfangs noch kein Arbeitshandy hatte, gab ich ihm meine private Nummer. Ein großer Fehler. Vom ersten Tag an schrieb er mir, wie schwierig es bei ihm zu Hause sei, wie problematisch die Ehe. Ich versuchte, nicht darauf einzugehen, blieb aber freundlich. Immerhin, dachte ich damals, würde ich ja nicht lange mit ihm zusammenarbeiten müssen.
Zwei Wochen nach unserem ersten Treffen fragte er, ob er mich anrufen könne. Es war Sonntagabend. Mir war das unangenehm, aber ich willigte ein. Er sagte dann, ich sei sein rettender Engel. Er sagte: 'Du löst ganz besondere Gefühle bei mir aus.' Mich hat das total überrumpelt. Ich sagte: 'Danke für deine Ehrlichkeit. Aber: Was soll ich damit anfangen?'
In den folgenden Wochen schrieb er mir auf sämtlichen Kanälen: Privat-, Diensthandy, Firmenchat. Irgendwann schrieb er: 'Ich komme im Urlaub nach Berlin, dann können wir uns dort treffen.' Da wurde es mir endgültig zu viel. Ich bat ihn, mir nicht mehr zu schreiben. Er hat sich zunächst entschuldigt und dann trotzdem weitergemacht. Es war ein Drahtseilakt, mit ihm zu arbeiten. Mich hat das sehr belastet.
Im Herbst bekamen wir eine neue Chefin. Ihr habe ich davon erzählt. Sie hat mir angeboten, gemeinsam zur Firmenleitung zu gehen, um das zu melden. Aber ich habe der Geschäftsleitung nicht vertraut, weil alle Chefs Männer sind. Ich habe den Mann stattdessen auf allen privaten Kanälen geblockt, und im Dezember wurde ihm wegen etwas anderem gekündigt. Heute würde ich die Grenze viel klarer ziehen und Kollegen nicht mehr meine private Nummer geben."
Anonym, 25, Texterin.
"Er drohte, dass er unsere Nacht auf Video aufgenommen habe"
"'Never fuck the company', das war eine Regel für mich. Dann quatschte mich auf einer Faschingsparty ein Kollege an, zehn Jahre älter als ich, er rauchte viel, ich fand ihn cool. An dem Abend gingen wir noch allein nach Hause, ein paar Wochen später landeten wir im Bett. Das war okay, aber ich fühlte mich unwohl. Für mich war klar: Das bleibt ein One-Night-Stand. Er sah das anders und schrieb mir weiter, auch bei der Arbeit: 'Deinen Rock würde ich jetzt gern hochklappen.'
Ich fand das unangenehm und reagierte abweisend, nach ein paar Wochen drohte er mir, dass er die Nacht aufgenommen habe und das Video rumschicken werde. Ich dachte sofort, dummes Gerede, aber auch: Was, wenn? Zum Glück hat er dann das Unternehmen gewechselt. Wie sehr mich die Situation belastet hatte, merkte ich erst an meiner Erleichterung darüber. Heute denke ich mir: Er hätte verantwortungsvoller handeln müssen und sich nicht auf eine Azubine einlassen sollen. Vor ein paar Jahren hat er mir bei LinkedIn ein Job-Angebot gemacht, das fand ich krass."
Anonym, 26, Consultant.
"Als ich den Kollegen an der Bushaltestelle sah, fing ich an zu weinen"
"Mit dreißig wollte ich mich beruflich noch einmal neu orientieren. Also machte ich eine Ausbildung zur Erzieherin an einer Berliner Grundschule. Dort unterstützte ich vormittags die Lehrkräfte im Unterricht und betreute nachmittags die Kinder. Unser Team bestand aus rund zwanzig Erzieher:innen, etwa die Hälfte Männer. Die neue Arbeit machte mir viel Spaß. Bis wir einen neuen Kollegen bekamen, Ende zwanzig, Typ Berliner Hipster.
Wir ahnten, dass er Probleme machen würde. Unserer FSJlerin sagte er, sie mache ihre Arbeit nicht richtig, zu mir sagte er: 'Du hast wohl PMS!' Insbesondere jüngere Frauen griff er oft persönlich an. Als ich ihn einmal bat, mir dabei zu helfen, meine Armbanduhr zu schließen, sagte er: 'Nicht dass du jetzt glaubst, ich will was von dir!' Oft rollte ich in solchen Situationen mit den Augen, manchmal blaffte ich auch zurück. Bis zu diesem Nachmittag, an dem alles eskalierte.
Unsere Praktikantin und ich hatten Pausenaufsicht auf dem Schulhof, eine Gruppe Kinder begann sich zu prügeln. Weil die Praktikantin erst 16 war, lief ich ins Büro des Kollegen, um ihn um Unterstützung zu bitten. Doch der brüllte mich nur an: Was mir denn einfalle, ihn um Hilfe zu bitten? Was ich überhaupt für eine sei? Jeder merke doch, dass ich dauergeil sei und jeden im Team vögeln wolle. Währenddessen schloss er hinter mir die Tür. Das machte mich so nervös, dass ich nur noch rief: 'Ich hoffe, dass du das nicht ernst meinst!' Doch er brüllte weiter. Nach etwa zehn Minuten reichte es mir, ich rief: 'Jetzt ist Schluss' und rannte aus dem Raum. Das machte ihn wütend. Auf dem Flur schrie er mir noch hinterher, dass er das unserer Chefin erzählen würde, wenn ich nicht zurückkäme. Ich sagte nur: 'Mach doch!'
Ich wandte mich dann an eine befreundete Kollegin, die sich in der Mitarbeiter:innenvertretung engagiert. Sie hörte mir zu und recherchierte, dass das Verhalten des Kollegen schon unter sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz falle und dass er mindestens eine Abmahnung, wenn nicht sogar eine Kündigung erwarten müsse. Dann aber war es meine Mentorin, die einen Rückzieher machte. So schlimm sei es doch auch nicht gewesen? Und: Ich solle vielleicht einfach mal mit ihm reden? Das konnte ich aber nicht.
Als ich den Kollegen einmal zufällig an der Bushaltestelle sah, musste ich weinen. Weil ich mir nicht anders zu helfen wusste, kündigte ich. Erst Jahre später erfuhr ich, dass man den Kollegen wegen weiterer Vorfälle entlassen hatte und dass man den Umgang mit mir in einem internen Workshop bereut habe. Ich finde das gut, auch wenn es spät kam.
Meinem nächsten Arbeitgeber legte ich deshalb sofort nahe, eine Mitarbeiter:innenvertretung zu gründen. Der war erst einmal skeptisch, sagte: ›So was passiert bei uns nicht.‹ Ich aber antwortete: ›So was kann überall passieren.‹ Vor ein paar Wochen wurde ich in das Amt der Mitarbeiter:innenvertreterin gewählt."
Anonym, 34, Erzieherin.
"Ich sagte nichts. Ich wollte nicht die 'MeToo' schreiende Praktikantin sein"
"Am Theater tun die Leute gern so, als gäbe es kein Machtgefälle. Aber in manchen Häusern geht es nur darum, wer wen engagiert, wer was spielt, wer wen kennt. Die Hierarchien werden vor allem in den Proben offensichtlich. Wenn da jemand eine Grenze überschreitet, heißt es: So sei das nun mal, nur so könne man kreativ arbeiten. So war es auch, als ich während meines Studiums in einem Theater in der Dramaturgie hospitierte.
Dramaturg:innen schreiben normalerweise Texte, lektorieren, beraten die Regie. Ich war eine billige Hilfskraft. Bei den Proben stand ich an der Seite, wartete auf das Kommando des Regisseurs und zog die Kulisse auf der Bühne im Kreis. Normalerweise tat ich das mit anderen Helfer:innen.
An einem Tag war ich allein mit einem Schauspieler, der etwa Mitte vierzig war. Ich trug ein bauchfreies Top. Er strich mir über den Rücken, packte mich an der Hüfte. Dann lief er auf die Bühne. Ich musste noch zwei Stunden warten, bis ich gehen konnte. Einer Freundin schrieb ich danach: 'Das war so unnötig', hinterließ ihr eine Sprachnachricht, in der ich atemlos sagte: 'Ich will das jetzt nicht aufblasen, das ist jetzt nicht so dramatisch, aber ich wurde in eineinhalb Jahren Theater noch nie angefasst.'
Danach traf ich meinen Freund und versuchte, es zu verdrängen. Den Schauspieler konfrontierte ich nicht, ich sagte auch dem Intendanten nichts. Ich wollte nicht die 'MeToo' schreiende Praktikantin sein. Schnell zweifelte ich an mir selbst, ich fragte mich: War das, was er getan hatte, überhaupt schlimm? Die letzten sechs Wochen meines Praktikums habe ich ihn gemieden. Wenn das Ensemble nach Feierabend noch Bier trinken ging, achtete ich darauf, dass ich nicht neben ihm stand.
Im Nachhinein wünschte ich mir, ich hätte etwas gesagt. Es ist nicht okay, was passierte. Immerhin merke ich: Es ist nicht mehr überall so. In dem Haus, in dem ich heute arbeite, machte ein Regisseur mal Witze über 'MeToo'. Ich ging zum Intendanten. Der wird ihn nie wieder engagieren."
Anonym, 25, Dramaturgin.
"Beim Feiern kuschelte er sich an mich"
"Schon bei meinem Bewerbungsgespräch machte er mir klar: 'Wir wollen dich! Du bist etwas Besonderes.' Das hat mir geschmeichelt, sonst ist es ja eher andersherum, man versucht, den Arbeitgeber von sich zu überzeugen. Ich war damals zwanzig, neu in Berlin und Werkstudentin im Customer-Service, er war 27, mein Teamleiter und von Anfang an ambivalent. Mal setzte er sich neben mich, mal weit weg; mal antwortete er auf Fragen, mal ignorierte er mich. Es dauerte keine Woche, bis mich eine Kollegin zu sich zum Abendessen einlud und sagte: 'Der ist doch in dich verliebt.' Das wurde im Team schnell zum Running Gag.
Ich habe versucht, das lässig zu nehmen und cool zu bleiben, beim Start-up gehören ja Fun & Work & Life auch irgendwie zusammen. Beim Feiern kuschelte er sich zwar mal an mich, aber er hat nie einen richtigen Move gemacht. Trotzdem habe ich mich immer gefragt: Was will der von mir? Über das Jahr, das ich dort beschäftigt war, führte das zu einer ziemlich destruktiven Grundstimmung; wenn ich gearbeitet habe, fühlte es sich oft an wie auf Eierschalen laufen. Als ich wochenlang auf meine Vertragsverlängerung warten musste, reichte es mir. Ich sagte ihm: 'Ich kündige.'
Er war total schockiert, es fühlte sich an wie ein Trennungsgespräch. Ich brauchte danach erst mal Abstand und bin nach Sri Lanka geflogen. Heute würde ich sagen, die Arbeitsatmosphäre war ungesund, weil vieles unausgesprochen blieb. Wenn heute jemand sagt, dies oder das ist toll, frage ich immer genau nach: Wie meinst du das? So kann man nichts falsch verstehen."
Anonym, 25, Studentin.
"Wenn ich heute in meinem Job mit einem Mann alleine bin, fühle ich mich unwohl"
"Eigentlich verstand ich mich gut mit meinem Chef, für den ich viele Jahre als Werkstudentin bei einer Versicherung arbeitete. Er war in seinen Dreißigern. Wir sprachen viel über meine Zukunftspläne. Ich kannte sogar seine Frau und seine Kinder, er meinen Freund. Außerhalb des Büros sahen wir uns aber nie, bis auf den Abend vor drei Jahren. Ich war quasi fertig mit meinem Studium und hatte meinen Job gekündigt. Da schrieb er mir eine WhatsApp: Ob ich Lust hätte, Essen zu gehen, er habe Neuigkeiten. Beim Italiener bot er mir einen Job an: als seine Assistentin.
Auch wenn ich nicht vorhatte, anzunehmen, freute ich mich, dass er mich im Team haben wollte. Es war ein netter Abend, nicht flirty. Zwei, drei Stunden später verließen wir das Restaurant. Draußen schüttete es, wir drückten uns an den Hauswänden entlang zur nächsten Bushaltestelle. Plötzlich umarmte er mich von hinten, seine Hände waren überall. Irgendwie riss ich mich los und sprang in ein Taxi, das gerade vorbeifuhr. Ich weiß nur noch: Ich vergrub mein Gesicht in den Händen, konnte dem Fahrer zunächst nicht mal sagen, wohin ich musste.
Zu Hause setzte ich mich in die Küche, meine Mitbewohnerin kam rein. Was passiert war, erzählte ich ihr in Bruchstücken. Sie hat es trotzdem verstanden und war wütend. Ich war wie taub. Ich wollte ihn einfach nie wieder sehen. Er selbst hat mir nie wieder geschrieben, und ich habe ihn nie darauf angesprochen. Ich will nicht, dass seine Kinder erfahren, was für ein Mensch ihr Vater ist. Wenn ich heute in meinem neuen Job alleine mit einem Mann bin, fühle ich mich unwohl. Das ist seine Schuld."
Anonym, 34, Juristin.
"Er war damals 60, ich 26"
"Am Anfang lief es gut zwischen mir und meinem Chef, dem Leiter einer Psychiatrie in Brandenburg. Er nannte mich seinen Schützling und lobte mich oft. Das änderte sich abrupt, als ich anfing, ihn für seine fehlende Distanz zu den Patient:innen zu kritisieren. Er schrieb ihnen zum Beispiel SMS oder erzählte, dass er auf dem Sofa schlafe, weil er Stress mit seiner Ehefrau habe. Meine Kritik wollte er nicht hören.
Als ich das erste Mal etwas sagte, machte er mich runter, sagte, ich sei frigide, schlecht qualifiziert und ungeeignet für den Beruf. Und als es einmal um eine Personalentscheidung ging, die ich schwierig fand, ging es auch direkt wieder gegen mich. Mein Chef fragte mich vor zwei Kolleg:innen, was denn eigentlich mein Problem sei. Ich habe mich in dem Moment so unter Druck gesetzt gefühlt, dass ich anfing zu weinen.
Er sagte daraufhin, dass er sich freue, dass ich mich endlich öffne. Und dass er mich jetzt trösten wolle und mich dafür gerne anfassen würde. Ich weiß nicht mehr, was ich gesagt habe, aber ich war wohl nicht deutlich genug. Er hat meine Hand genommen, sie auf mein Knie gelegt und gestreichelt. Er war damals 60, ich 26. Ich fand das supereklig. Gleichzeitig fand ich es unprofessionell von mir, dass ich geweint habe. Leider half mir niemand: Als ich der Stationsärztin davon erzählte, meinte sie, das sei ein Problem zwischen meinem Chef und mir. Dem Chefarzt der Klinik habe ich nichts erzählt. Ich dachte, dass ihn das nicht interessieren würde. Ich war ja ganz unten in der Hierarchie.
Gekündigt habe ich erst nach anderthalb Jahren, denn Ausbildungsplätze für Psychotherapeut:innen sind begehrt. Außerdem zahlte mir die Klinik ein normales Gehalt, das ist eher ungewöhnlich. Noch heute habe ich wegen dieses Typen manchmal Probleme mit meinem Selbstvertrauen. Dann sitze ich da und frage mich, wie ich mir denn einbilden könne, anderen zu helfen."
Anonym, 30, Psychotherapeutin.
* Die Namen der Männer sind geändert. Sie sind der Redaktion bekannt.
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