Juraprofessor im Interview: Das Examen sollte mehrfach wiederholt werden dürfen

Autor*innen
Uwe Ebbinghaus
Person, deren Kopf durch ein freigestelltes Auge ersetzt wurde. Sie liest Unterlagen.

Die Rechtswissenschaft hat Nachwuchssorgen. Trotzdem leistet sich das Fach eine Notenskala und Prüfungsregeln, die frustrieren und Studienabbrüche befördern. Juraprofessor Roland Schimmel macht im Interview Reformvorschläge.

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Warum ist das Jurastudium so aufgebaut, wie es sich heute darstellt – mit der eigenen Notenskala und der großen Fallhöhe bei den Examina?

Das Juraexamen, wie wir ihm heute gegenüberstehen, ist ein historisches Produkt, das ungefähr 150 Jahre alt ist. Seither gab es wenige Veränderungen. Schauen wir uns die beiden Examina an, mit denen das Studium idealerweise abschließt, so dienten sie der Rekrutierung einer bestimmten Funktionselite im Kaiserreich. Das System wurde ausgedacht, um zu vermeiden, dass sich der Funke der Revolution in den eigenen Funktionseliten ausbreitet. Also suchte der Staat eine Gruppe von Menschen aus, die dies nicht erwarten ließ, im Blick waren überwiegend männliche Beamtenkinder aus eher katholischem Milieu. Bis in die Fünfzigerjahre hinein blieb das so. Auch wenn die Studentenschaft in Jura heute ein wenig bunter geworden ist, merkt man den Prüfungen heute noch diesen historischen Kern an. Sie sind eine Reproduktionsmaschine von Leuten, die diesen Job schon immer gemacht haben. Damals wurden sie in erster Linie für das Richteramt ausgesucht. Und dieses Phänomen hat bis in die heutige Zeit überdauert: Der Zugang zu fast allen halbwegs attraktiven juristischen Berufen, ob dem des Rechtsanwalts, des Notars, des Staatsanwalts oder eben des Richters, ist an die Befähigung zum Richteramt gebunden. Das heißt: Man muss eine Ausbildung für Richter durchlaufen.

Warum gibt es in Jura auf der Notenskala eigentlich, anders als irgendwo sonst, 16, 17 und 18 Punkte, die aber höchst selten erreicht werden?

Diese Notenskala ist vor Jahrzehnten gesetzlich festgelegt worden, und wie so oft ist das Argument gegen eine Veränderung, dass man die Vergleichbarkeit mit früheren Abschlüssen wahren möchte. Hinzu kommt: Eigentlich entspricht die Notenskala ja der in der Schule, die durchaus eine differenzierte Aussage über Leistungsniveaus ermöglicht. Doch es gibt in Jura die verheerende Tradition, nur die untere Hälfte der Skala zu benutzen. Das wirkt dann auf junge Menschen, die das System erst kennenlernen, in der Schule gute Noten hatten, jetzt aber gerade so die Bestehensgrenze erreichen, naheliegenderweise frustrierend. Im gesamten Studium und im Referendariat haben sie fast nie ein Erfolgserlebnis.

Welche Mentalität steckt dahinter? Gibt es ein bestimmtes Selbstverständnis des Berufsstands, bei dem die Praxis des Abhärtens eine besondere Rolle spielt?

Es ist, glaube ich, nicht so, dass man als jemand, der das alles hinter sich gebracht hat, denkt: Weil ich da durch musste, müssen es die anderen auch. Aber solang kein Gesetzgeber neue Vorgaben macht und das System glatt zieht, solang wird schlicht ein Strom von Kontinuität produziert. Mit der Folge, dass wir eine große Zahl von Studenten haben, die sehr vorzeigbare Leistungen erbringen, aber bei Noten wie "ausreichend" herumkrauchen. Wobei: Wenn der Arbeitsmarkt günstig ist, bekommt man auch mit einem ausreichenden Examen eine anständige Anstellung, darin liegt viel Trost. Frustrierend und unnötig ist es trotzdem.

Warum sind die Prüfungsergebnisse eines Studentenjahrgangs so intransparent? Sie haben in einem Beitrag mit Jörn Griebel in dem Onlinemagazin JURios darauf hingewiesen, welch einen Ausnahmefall es darstellt, dass das Justizprüfungsamt Berlin/Brandenburg detailliertere Ergebnisse bekannt gibt.

Tatsächlich stellt dieses Prüfungsamt als Einziges die Noten anonymisiert online. Die Prüfungsämter sind nicht dazu verpflichtet, daher tun es die meisten nicht. Durch die Ausnahmestellung Berlin/Brandenburgs konnten wir uns die konkreten Notensätze bezogen auf 528 Kandidaten einer Kampagne des Jahres 2022 anschauen. Und da man sagen kann, dass Berlin/Brandenburg im Mittelfeld der allgemeinen Examensstatistik liegen, haben wir es also mit aussagekräftigen Zahlen zu tun. Da die Ergebnisse der einzelnen anonymisierten Kandidaten identifizierbar sind, stößt man nun auf ganz ungewöhnliche, aber erhellende Phänomene. So gibt es Kandidaten, die zwei von ihren sieben Klausuren außerordentlich gut abschließen und zeigen, was sie draufhaben. Die übrigen Klausuren aber setzen sie vollkommen in den Sand. Was fatal ist, denn es gibt in den Ausbildungs- und Prüfungsgesetzen der Landesjustiz eine Regel, die besagt: Wenn man in dem ersten Prüfungsteil, der aus den Klausuren besteht, insgesamt zu schwach ist, kommt man in die weiteren Examensteile gar nicht erst hinein und hat nicht die Chance, das Ergebnis durch einen souveränen mündlichen Vortrag zu verbessern. Man kann also ein sehr guter Jurist sein, was man mit zwei exorbitant guten Klausuren unter Beweis gestellt hat, fällt aber trotzdem wegen dieser sehr strengen landesrechtlichen Regel durch sein Examen.

Haben sich die Ergebnisse in den letzten Jahren eigentlich insgesamt verschlechtert, gibt es eine Corona-Delle?

Nein, gar nicht. Die Statistik, die wir uns näher angeschaut haben, liegt auch im Vergleich zu früheren Jahren im Durchschnitt. Wobei die Durchschnittsnote selbst bei 5,3 Punkten liegt, in unserer Terminologie ist das ein "Ausreichend". Wirklich schlimm dabei ist, wie knapp entfernt diese Durchschnittsnote von der Bestehensgrenze, also 4 Punkten, liegt. Daran kann man dann auch die hohen Durchfallzahlen ermessen.

Der Widerstand in der Studentenschaft scheint in letzter Zeit zugenommen zu haben. Es gab jüngst Demonstrationen, Petitionen und Reformvorschläge. Wie kommt es aus Ihrer Sicht zu dieser Bewegung?

Ich denke, das Bewusstsein hat zugenommen, dass es im Lauf des Studiums einen Schwund fähiger Leute gibt, den wir uns gesamtgesellschaftlich nicht mehr leisten können. Zudem wird die Lebenszeit junger Menschen verschwendet, wenn sie, im zweiten Anlauf durchs Examen gefallen, nicht mal mit einer Urkunde dastehen. Die Unzufriedenheit der Studenten steigt auch, weil sie wissen, dass sie irgendwann auf dem Markt einen Wert haben werden. Von etwa 2030 an wird es ja zu einer Ruhestandswelle in den geburtenstarken Jahrgängen kommen, die die Funktionsfähigkeit der Justiz infrage stellen könnte. Die Studenten fragen sich, warum sie sich die als überhart empfundene Ausbildung antun müssen, es ginge doch alles auch mit weniger Stress. Warum besteht das juristische Examen überwiegend aus Klausuren von fünf Stunden Länge, die ohne Hilfsmittel außer dem Gesetz zu absolvieren sind? Das ist sehr oldschool und weit von der Realität eines Richters oder Rechtsberaters entfernt. Es wird nur ein Ausschnitt dessen abgerufen, was Juristen können sollten.

Sie waren selbst Prüfer im ersten juristischen Examen. Wo würden Sie ansetzen, um die Schieflage wieder gerade zu rücken – wie könnte eine Reform des Juraexamens aussehen?

Vor einigen Wochen gab es ja ein fast 900 Seiten starkes Reformvorschlagspapier von jüngeren Kollegen, überwiegend Referendaren aus Berlin, die sehr systematisch aufgelistet haben, was man alles ändern könnte. Hauptsächlich betreffen die Vorschläge den ganz großen Maßstab: Die Konzeption des Studiums soll geändert werden. Ich würde Änderungen in einem kleineren Maßstab vorschlagen, im Bewusstsein, dass revolutionäre Vorschläge in diesem Land in der Regel scheitern. Wahrscheinlich würde es schon helfen, das Jurastudium, als passabel erfolgreiches Modell, nicht komplett zu revidieren, sondern an zwei, drei Stellen die Prüfungsregeln zu ändern. Ein Vorschlag wäre, im deutschen Richtergesetz die Regel abzuschaffen, dass die Examensprüfung nur einmal wiederholt werden kann. Diese Regel führt zu nichts Gutem. Warum soll man eine solche Prüfung nicht mehrfach wiederholen – beim Führerschein oder Jagdschein geht es ja auch? Entscheidend ist doch, dass man sie besteht. So eine strenge Regel wie beim Jurastudium wirkt ja zurück, sie setzt schon Studienanfänger unter Druck.

Wie hoch sind die Durchfallquoten beim ersten und zweiten Staatsexamen?

Mit leichten Schwankungen zwischen den Terminen und Bundesländern fällt ein knappes Drittel der Kandidaten im ersten Anlauf durch. Von diesem Drittel tritt ein Teil der Kandidaten nicht mehr an, die Zahl der Abbrecher scheint zuzunehmen. Jener Teil, der antritt, besteht dann überwiegend im zweiten Anlauf. Sodass die letztendliche Durchfallquote nicht so schlecht ist, sie beträgt knapp fünf Prozent.

Was wären weitere Verbesserungsvorschläge?

Wichtig fände ich auch eine Konzeption des Examens, die die Konzentration auf Klausuren und eine mündliche Prüfung, die mit fünf Kandidaten etwa vier Stunden dauert, aufhebt. Es müsste mehr Prüfungsformate geben. So sollten aus meiner Sicht unbedingt auch Teamleistungen erbracht werden. Zudem könnte ich mir vorstellen, dass Studienleistungen in die Abschlussnote mit einfließen, das gibt es ja in den Bachelor- und Masterstudiengängen auch. Das wäre kein Wechsel ins Bologna-System, sondern eine kleine Verbeugung vor der Tatsache, dass die Kandidaten zuvor fünf oder sechs Jahre studiert haben und dabei zum Teil sehr gute Leistungen erbracht haben. Im Schwerpunktstudium gibt es diese Berücksichtigung zum Teil schon, ich könnte mir aber einen größeren Anteil vorstellen. Außerdem fände ich gut, das Examen nicht einseitig auf die Richterperspektive abzustimmen (also: Entscheide einen Konflikt: Klagestattgabe, Klageabweisung, Anspruch besteht oder besteht nicht, Täter hat sich strafbar gemacht oder nicht), sondern auch Beratungssituationen einfließen zu lassen, da ein großer Teil der Absolventen in die Anwaltschaft geht und mit Beratung Geld verdient. Und ein Letztes: Ich würde gerne die Nadelöhrfunktion abschaffen, die besagt: Wenn der Klausurteil der Staatsprüfung nicht bestanden wurde, verfällt die Möglichkeit, den Durchschnitt in der mündlichen Prüfung zu heben. Diese Funktion verengt die Prüfung darauf, Wissen klausurförmig abwerfen zu können, und führt dazu, dass sich Studenten auf diese Fertigkeit konzentrieren. Sie verlieren so das Interesse an den wirklich spannenden Bestandteilen des Studiums. Ich habe auch ein wenig Zweifel, ob man mit einer derart durchgängig Klausurfixierung verantwortliche handelnde, vielleicht sogar kritisch denkenden Juristen hervorbringen kann.

Prof. Dr. Roland Schimmel

Prof. Dr. Roland Schimmel lehrt an der Frankfurt University of Applied Sciences Wirtschaftsprivatrecht und Bürgerliches Recht. Er hat eine Reihe von Publikationen zur juristischen Ausbildung verfasst und beschäftigt sich zudem mit der Qualität wissenschaftlicher Arbeiten.

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