Bafög: Warum junge Menschen Tausende Euro an Förderung verschenken
- Celine Schäfer

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So wenige BAföG-Empfänger gab es zuletzt vor 25 Jahren. Viele Förderberechtigte rufen das Geld nicht ab. Höchste Zeit also, den Antrag zu stellen! So schwer ist es nicht.

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Ein Studentenleben lässt sich leicht romantisieren. Zu viert auf 60 Quadratmetern leben, über einer Bar, in der bis nachts um drei Uhr laute Musik läuft? Macht Spaß, wenn man die richtigen Mitbewohner hat. Jeden Tag Nudeln mit Pesto? Irgendwie auch ganz lecker. Den neuen Wintermantel auf dem Flohmarkt shoppen? Ist eh nachhaltiger.
Die Realität ist jedoch oft ganz anders, sorgenvoller, und das heute noch viel mehr als vor einigen Jahren. Selbst verranzte WG-Zimmer sind rar und unbezahlbar, nicht nur in Berlin, München und Hamburg, sondern auch in Tübingen, Münster und Heidelberg. Nudeln und Pesto werden, wie alle Lebensmittel, immer teurer. Und Secondhand heißt heute Vintage und kostet oft genauso viel wie neue Kleidung. Mehr als ein Drittel aller Studierenden ist hierzulande armutsgefährdet, hat also weniger als 60 Prozent des Einkommensdurchschnitts zum Leben, zeigt eine aktuelle Studie der EU.
Umso verwunderlicher ist deshalb eine Zahl, die das Statistische Bundesamt gerade veröffentlicht hat: Im vergangenen Jahr haben so wenige Menschen die staatliche Bafög-Förderung bekommen wie seit 25 Jahren nicht mehr. Nur 612.800 junge Leute nahmen in dieser Zeit Bafög in Anspruch. Und das bei fast drei Millionen Studierenden und noch dazu einem Teil der Auszubildenden und Schülern, denen bis zu fast 1.000 Euro im Monat zustünden.
Das sogenannte Bundesausbildungsförderungsgesetz wurde vor mehr als 50 Jahren eingeführt, von einer sozialliberalen Regierung unter Willy Brandt. Der Staat wollte damals und will auch heute noch mit Bafög Studierende, aber auch Auszubildende und Schüler bei ihrer Ausbildung finanziell unterstützen. Die Förderung setzt sich zusammen aus einem staatlichen Zuschuss und einem zinslosen Darlehen, das in kleinen Raten abbezahlt werden kann.
Wie funktioniert das Bafög?
- Variabler Bedarfssatz: Der Grundbetrag, der fürs Leben und Studium gebraucht wird. Er setzt sich unter anderem aus Miete, Krankenversicherung und einem Grundbedarf zum Beispiel für Lebensmittel zusammen.
- Freibeträge: Es gibt Freibeträge für das Einkommen der Eltern (2.540 Euro für verheiratete, 1.690 Euro für nicht verheiratete beziehungsweise getrennt lebende Eltern pro Elternteil). Und es gibt Freibeträge für das Vermögen der Studierenden (je nach Alter 15.000 oder 45.000 Euro) sowie deren Einkommen (538 Euro). Der Freibetrag pro Geschwisterkind, das kein Bafög bezieht, liegt bei 770 Euro.
- Förderbetrag: Ergibt sich aus dem Bedarfssatz minus Einkommen und Vermögen (beides abzüglich der Freibeträge). Die Hälfte des Förderbetrags besteht aus einem Zuschuss, die andere Hälfte muss via zinsfreiem Darlehen zurückgezahlt werden.
Wer wie viel Geld bekommt, hängt vor allem vom Einkommen der Eltern ab. Zur groben Einschätzung: Maximal zahlt der Staat aktuell 992 Euro Bafög pro Monat. Erst im Oktober 2024 hat er die Summen um fünf Prozent erhöht, um Folgen der Inflation abzumildern. Gleichzeitig dürfen Studierende jetzt mehr mit Nebenjobs verdienen, auch das Einkommen der Eltern darf höher liegen.
Warum also nehmen es immer weniger Menschen in Anspruch?
Eine Erklärung: Viele Studierende lassen das staatliche Geld einfach liegen, obwohl sie theoretisch ein Recht darauf hätten. Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts zur Erforschung von Gemeinschaftsgütern und des Fraunhofer-Instituts für Angewandte Informationstechnik haben das in einer aktuellen Studie mit Daten von 22.222 Studierenden untersucht. Demnach beziehen deutschlandweit bis zu 70 Prozent aller Anspruchsberechtigten kein Bafög. Sie verzichten im Schnitt auf 492 Euro monatlich. Es geht dabei also nicht um ein Bier mehr oder weniger, sondern nach einem dreijährigen Bachelorstudium um ganze 17.712 Euro.
Das Bafög hat einen schlechten Ruf
Dass Studierende so viel Geld liegen lassen, hat im Kern mit zwei Punkten zu tun: Zum einen gibt es diejenigen, die wissen, dass sie Bafög-berechtigt wären – und trotzdem keinen Antrag stellen. Sie machen unter den Befragten rund 13 Prozent aus. "Fast die Hälfte von ihnen verzichtet, weil sie Angst vor Schulden hat", sagt Sebastian Riedmiller, Co-Autor der Studie, die Fehleinschätzungen beim Bafög untersucht. Denn die Hälfte des Geldes, höchstens aber 10.010 Euro, müssen die Studierenden später zurückzahlen. "Gleichzeitig überschätzen viele Studierende aber, wie viel Bafög tatsächlich zurückgezahlt werden muss", sagt Riedmiller. "Sie haben also Angst vor einem Schuldenberg, der in der Höhe nie eintreten würde."
Eine viel größere Gruppe Bafög-Berechtigter, in Riedmillers Studie mehr als 80 Prozent der Befragten, glaubt wiederum, kein Bafög bekommen zu können – die meisten von ihnen denken, das Einkommen ihrer Eltern sei zu hoch. "Viele Studierende wissen nicht, wie viel ihre Eltern verdienen dürfen, damit sie Bafög-berechtigt sind", sagt Riedmiller.
Dass so viele junge Menschen glauben, das Einkommen ihrer Eltern könnte ihnen die Chance auf Bafög nehmen, hat wohl auch mit dem Image des Förderprogramms zu tun. Früher waren die Grenzen beim Vermögen und Einkommen deutlich niedriger, schon in der unteren Mittelschicht konnte es schwierig werden. "Bafög ist historisch negativ konnotiert", sagt Riedmiller. Die Elterngeneration jener Studierender, die nun an Unis und Hochschulen gehen, kenne Bafög noch aus einer Zeit, in der es tatsächlich nur für einen kleineren, finanzschwächeren Teil von Menschen zugänglich war. Heute bleibt bei einem zusammenlebenden Elternpaar ein Einkommen von 2.540 Euro anrechnungsfrei. Pro Geschwisterkind, das kein Bafög bezieht, kommen noch mal 770 Euro hinzu.
Dass die Zahl der Bafög-Empfänger und -Empfängerinnen so stark gesunken ist, sei ein "dramatischer Trend", sagt Matthias Anbuhl. "Aber überrascht bin ich davon nicht." Anbuhl ist Vorstandsvorsitzender des Deutschen Studierendenwerks (DSW), des Dachverbands der lokalen Studierendenwerke, die wiederum die Bafög-Ämter organisieren und verwalten. Sie hätten Anbuhl früh signalisiert, dass die Zahlen sinken könnten.
Wenn immer weniger Studierende Bafög bekommen, obwohl sie eigentlich förderfähig sind, könnte das Auswirkungen auf die ohnehin schon große soziale Ungleichheit an deutschen Universitäten haben.
Wie viele Studierende, gerade aus ärmeren Familien, ihre Ausbildung aus Geldnot abbrechen, dazu gibt es keine Zahlen. Anbuhl vom DSW, aber auch Experten der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) warnen schon seit Jahren, dass immer mehr Studierende in Geldnot geraten. "Bildung ist ein Menschenrecht und darf nicht vom Geld abhängen", sagt Anbuhl.
Um mehr Studierende zum Bafög zu bringen, gibt es daher Initiativen, die versuchen, den Schritt vor dem Bafög-Antrag niedrigschwelliger zu gestalten: die Beratung nämlich. Online-Bafög-Rechner gibt es schon seit vielen Jahren, auch von offizieller Seite. Auf der Website www.bafoeg-digital.de, betrieben vom Ministerium für Wissenschaft, Energie, Klimaschutz und Umwelt des Landes Sachsen-Anhalt, können Studierende und ihre Eltern berechnen, ob ein Anspruch auf Förderung besteht. Auch das Webportal Studis Online bietet einen Bafög-Rechner an, genau wie das Studierendenwerk Göttingen.
Ein Chatbot soll beim Antrag helfen
Doch auch wenn ein Rechner relativ einfach zu bedienen ist, sind viele Fragen kompliziert. Das Fraunhofer-Institut für Angewandte Informationstechnik hat daher im Zuge der Studie von Riedmiller einen KI-basierten Chatbot entwickelt. Dort können Studierende nicht nur Zahlen eintippen, sondern auch Fragen stellen wie: "Kann ich auch Bafög beantragen, wenn ich an einer privaten Hochschule studiere?" Oder: "Was bedeutet Nettoeinkommen?" Oder: "Was kann ich tun, wenn ich keinen Kontakt zu meinem Vater habe und deshalb nicht an seine Einkommensbescheide komme?"
Der Chatbot soll stärker als ein Fragebogen auf die individuellen Probleme der jungen Menschen eingehen und sie auf die erste Bafög-Beratung vorbereiten. Das Problem ist: Er ist gerade immer wieder offline. Wer die Website öffnen will, liest oft: "Dieser Bafög-Chatbot ist aufgrund der hohen Nachfrage vorübergehend nicht verfügbar." Im Oktober beginnt das neue Wintersemester. Und im September läuft die Frist für den Bafög-Antrag ab.
Wer also seinen Antrag allein ausfüllen muss, sollte vor allem drei Dinge beachten. Erstens: Rechtzeitig anfangen. Die Bearbeitungsdauer kann teilweise bis zu drei Monate dauern. Zweitens: Auf Vollständigkeit achten, vor allem bei den Einkommensnachweisen der Eltern. Drittens: Bei dringenden Fragen oder Problemen einen Termin bei der lokalen Beratungsstelle des Bafög-Amts machen – und zwar frühzeitig, auf den Ämtern herrscht Personalmangel.
Die Mühe kann sich lohnen, bald vielleicht sogar mehr denn je. Im Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD steht, die Regierung wolle das Bafög "in einer großen Novelle modernisieren". Zum Wintersemester 2026/2027 will sie die Wohnkostenpauschale auf 440 Euro erhöhen, den Grundbedarf, also die Kosten für beispielsweise Essen und Lehrmaterialien, ab dem Wintersemester 2027/28 hochsetzen. Und auch die Freibeträge will Schwarz-Rot "dynamisieren". Die Frage ist nur, ob heutige Studienanfänger das noch erleben werden.
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