Situationship: Wie wir (heute) lieben

Autor*innen
Laura Binder und Julian Schmelmer
Person hat anstelle eines Kopfes eine Rose

Monogam, Situationship, offen für alles? Warum wir unsere Beziehungen neu verhandeln.

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Schwerpunkt der aktuellen Ausgabe: Wie du deinen Eltern nah bleibst – und trotzdem deinen eigenen Weg gehst.

Die Liebe beherrscht ein Ideal: du und ich, für immer. Dabei kann heute eigentlich niemand mehr orakeln, was aus ihr wird. Das nächste Date ist immer nur einen Swipe entfernt, und Miley Cyrus singt mit ihrem Hit "Flowers" sogar eine Ode an die Selbstständigkeit. Wir kreiseln um die Frage: Braucht man diese eine Person für die Ewigkeit überhaupt noch?

Sich zu binden scheint beim Ja-nein-vielleicht-Denken am stärksten im Vielleicht zu haften: Im Tinder-Jahresrückblick 2022 und bei TikTok trendet die "Situationship", ein neuer Status, bei dem man mehr als nur befreundet ist, aber weniger als fest zusammen. Und bei OkCupid geben schon bei der Anmeldung mehr Leute an, Beziehungen nur für ein paar Monate und maximal für mehrere Jahre zu suchen, als bis dass der Tod sie scheidet.

Auch die repräsentative Teengeist-Studie von fischerAppelt und Appinio belegt: 79 Prozent der 14- bis 25-Jährigen finden, dass es heutzutage mehr Beziehungsmodelle gibt als noch vor fünfzig Jahren. Zwar gaben 57 Prozent der 1.000 Befragten auch an, dass sie monogam leben, aber fast jede:r Dritte kann sich vorstellen, eine offene oder polyamore Beziehung auszuprobieren.

Diese Titelgeschichte geht deshalb der Frage nach, wie die Liebe neu verhandelt wird. Um Antworten zu finden, haben wir mit einem Psychologen, einer Soziologin und einer Autorin gesprochen, die erklären, warum sich Beziehungen gerade verändern. Und mit denen, die nicht nur einander lieben wie Helena und Jonas oder Olivia und Camilo, die auch was mit anderen haben können, ohne sich zu verlieren. Was macht die Liebe heute aus?

(Offen) für Neues 

Olivia: "Ich habe Camilo mit 13 Jahren über gemeinsame Freund:innen in Stuttgart kennengelernt und konnte ihn nicht ausstehen. Ich hielt ihn für eingebildet, er mich für ein Girly Girl. Vor drei Jahren trafen wir uns dann wieder: Camilo hatte inzwischen in Lyon gelebt, war reifer geworden. Wir verliebten uns."

Camilo: "Den ersten Corona-Lockdown verbrachte ich bei meinen Eltern in Stuttgart. Olivia wohnte inzwischen nur 40 Meter von ihnen entfernt. In dem Sommer fuhren wir oft auf eine verlassene Burg oder schauten Filme bis morgens um fünf. Nach sechs Wochen waren wir ein Paar. Im August 2021 zog sie dann zu mir nach Lyon. Wir teilten uns eine Einzimmerwohnung und ein 1,20-Meter-Bett. Ich spielte Theater, sie begann eine Ausbildung als Erzieherin. Es war wundervoll. Vergangenen Herbst wurde ich aber neugierig, neue Beziehungsformen auszuprobieren."

Olivia: "Wir fingen an intensiv über die sozial auferlegten Labels Freund und Freundin zu diskutieren. In dieser Zeit stritten wir auch oft über eigentlich Belangloses, wie die Wäsche oder den Abwasch."

Camilo: "Ende vergangenen Jahres habe ich angesprochen, was ich wirklich ausprobieren wollte: eine offene Beziehung. Ich wollte sexuelle Erfahrungen mit anderen Personen sammeln, ohne meine Partnerin zu verlieren.

Olivia: "Ich war nicht euphorisch und hätte eine offene Beziehung nicht vorgeschlagen. Sie ist aber kein Tabu für mich. Wir haben viel darüber geredet. Ich finde es gut, wenn Camilo seinen Bedürfnissen folgt. Wichtig ist mir, dass wir ehrlich bleiben, auch wenn das manchmal wehtut."

Camilo: "Inzwischen leben wir in getrennten Wohnungen in Berlin. Olivia allein und ich in einer WG in Prenzlauer Berg. Der Abstand tut uns gut. Wir suchen nach einem Konzept, das sich für uns beide richtig anfühlt."

Olivia & Camilo

Olivia, 24, macht eine Ausbildung zur Erzieherin in Berlin. Camilo, 24, studiert Nachhaltiges Management. Sie sind das Titel-Paar dieser Ausgabe.

Zusammen (ohne Label)

Dilan: "Die Ehe war mein Life-Goal. Als mein Freund mir dann an meinem 27. Geburtstag einen Antrag machte, dachte ich: Jetzt habe ich alles erreicht. Wir waren seit vier Jahren ein Paar, wohnten zusammen, es fühlte sich richtig an. Das war im April 2021. Zwei Monate später änderte sich alles."

Olivia: "Als ich Dilan das erste Mal im Fotokurs der Kunsthochschule sah, war ich geflasht. Die Frau mit den dunklen Haaren und der unantastbaren Ausstrahlung nahm den Raum ein. Sie erzählte von ihrem Verlobten. Mich bemerkte sie kaum."

Dilan: "Wir bauten gerade eine Ausstellung auf. Ich fuhr mit meinem VW-Bus in den Baumarkt, um Schrauben zu kaufen. Olivia kam mit. Als wir bei den Bohrmaschinen standen, sagte sie: ›Ich habe mich letzte Woche von meiner Freundin getrennt.‹ In diesem Moment spürte ich etwas zwischen uns und war verwirrt. Ich hatte als Teenie ein paarmal was mit Frauen, aber es war nichts Ernstes."

Olivia: "Den Satz habe ich bewusst gedroppt. Ich wollte, dass Dilan weiß, dass ich auf Frauen stehe, und gucken, wie sie reagiert. Die Stimmung war aufregend, wir flirteten zum ersten Mal, ganz ohne Worte."

Dilan: "Noch am selben Abend kam ich nach Hause und erzählte meinem Verlobten von Olivia. Sie verursachte bei mir Bauchkribbeln. Er war überrascht, aber nicht wütend. Nach einem langen Gespräch, ermutigte er mich herauszufinden, ob ich auf Frauen stehen könnte."

Olivia: "Zwei Tage später traf ich Dilan wieder in der Kunsthochschule. Ich wollte mir gerade Werkzeug holen, als sie hinter mir in die Abstellkammer kam und die Tür schloss. Wir setzten uns auf den Boden und sprachen über unsere Gefühle, als würden wir uns schon ewig kennen. Sie war direkt und ehrlich. Wir wussten: Wir müssen es miteinander probieren und küssten uns."

Dilan: "Ich war glücklich und verwirrt. Olivia brachte mich zu meinem Auto. Ich sagte ihr, dass ich Zeit brauchte und wir keinen Kontakt haben sollten."

Olivia: "Am selben Abend rief mich Dilan an. Sie hatte sich von ihrem Verlobten getrennt. Ich saß mit meinen Roomies zu Hause, und als ich auflegte, tranken wir erst mal den WG-Alkohol leer."

Dilan: "Ich wusste von jetzt auf gleich, dass Olivia und ich zusammengehören. Unsere Beziehung wurde immer intensiver. Wir hatten nach einer Woche das erste Mal Sex, aber ich war durcheinander. Ich dachte darüber nach: Wer bin ich eigentlich, und was will ich wirklich?"

"Wir funktionieren nur im Jetzt, aber nicht in der Zukunft" 

Olivia: "Wir sprachen darüber, nach Las Vegas durchzubrennen. Wir waren nur einen Klick davon entfernt, Flüge zu buchen. Doch Dilan plagten Schuldgefühle gegenüber ihrem Ex-Verlobten. Er war längst aus ihrer Wohnung ausgezogen, aber sie hatten noch unregelmäßig Kontakt und auch noch mal was miteinander. Sie schlug mir einige Wochen später vor, ihn kennenzulernen. Ich stimmte zu, weil er ihr wichtig ist. Als ich ihn sah, fand ich ihn sehr attraktiv. Und er mich auch."

Dilan: "Wir hingen zusammen ab und verbrachten Nächte zu dritt. Alles war neu für uns, es gab keine Anleitung, wie das jetzt gut funktionieren könnte. Nach sechs Monaten Dreierding wurde uns klar: Olivia und ich sind das main couple, und auch er wollte sich eine neue Beziehung suchen. Wir lösten es auf."

Olivia: "Dilan und ich wollen uns heute gegenseitig nicht einschränken und verhandeln unsere Beziehung immer wieder neu. Wir sprechen über jedes Bedürfnis und jede Fantasie. Wer bin ich, dass ich ihr Dinge verbieten möchte? Ich brauche das Gefühl, mich in einer Beziehung frei bewegen zu können. In meiner Kindheit lernte ich: Wer betrügt, verliert den anderen. Dabei muss das nicht so sein. Ich habe noch nie mit jemandem so radikal ehrlich geredet wie mit Dilan. Das schmerzt manchmal, aber ist auch entlastend. So können wir uns Freiheiten ermöglichen und wissen trotzdem, dass wir zusammengehören. Auch ohne Label."

Dilan: "Olivia spiegelt mir, dass ich mit jedem Gefühl sein kann, wie ich bin. Ich fühle mich bei ihr sicher und nicht eingeengt. Und gerade deswegen sehe ich uns auch in zehn Jahren noch zusammen, sogar in einer Art Ehe."

Dilan & Olivia

Dilan, 29, hat Kunst, Ethik und Philosophie auf Lehramt in Mainz studiert. Olivia, 26, studiert dort Kunst und Englisch.

Nur für den (Moment)

"In meinem Leben gibt es zwei Männer. Es ist bei beiden mehr als Sex, mit beiden koche ich abends in meiner WG Curry oder gehe ins Kino. Ich finde diese Art des Zusammenseins intensiver als Dating, aber für Beziehungen reicht es nicht. Sie sind für mich Situationships: mehr als Friends with Benefits, unverbindlich und für den Moment.

Den einen, Jakob*, lernte ich auf einer Studi-Party im November 2021 kennen. Er ist der große Bruder einer Freundin. Weil sie an dem Abend spontan absagte, gingen wir zusammen zur Party. Obwohl wir uns nicht kannten, fühlte es sich direkt vertraut an. Wir tranken Bier, lachten und knutschten um Mitternacht. Dann fuhren wir zu ihm. Wir hatten Sex, und als ich am kommenden Morgen ging, schrieb er mir später und fragte, ob wir uns wiedersehen wollten.

Ich merkte nach einigen Wochen: Wir funktionieren nur im Jetzt, aber nicht in der Zukunft. Er ist ein alberner Typ, ehrgeizig und irgendwie egoistisch. Jakob studiert Medizin. Ich habe das Gefühl, dass seine Karriere ihm wichtiger ist als ich. Wären wir in einer Beziehung, würde mich das stören. Eine Zeit lang dachte ich deshalb, ich bin nicht gut genug für ihn, aber inzwischen weiß ich, der Fehler liegt nicht bei mir.

Den anderen lernte ich vergangenen Oktober kennen. Mir fehlte die Aufmerksamkeit von Jakob, den ich nur noch spontan sah. Tilo* studiert wie ich Lehramt und arbeitet als Barkeeper in einem Club. Dort trafen wir uns zum ersten Mal. Ich sprach ihn an, als ich mit Freund:innen feierte, eine wichtige Arbeit für die Uni abgegeben zu haben. Wir tauschten Nummern aus.

Zwei Wochen später trafen wir uns auf einen Kaffee, spazierten durch Würzburg und landeten im Bett. Seitdem sehen wir uns mindestens einmal die Woche. Mit ihm fühlen sich die Treffen nach Dates an. Wir gehen Schlittschuhlaufen oder kochen zusammen Lasagne. Tilo ist so anders als Jakob, er ist ausgeglichen, fürsorglich und hat einen trockenen Humor. Trotzdem ist er für mich mehr Freund als Mann fürs Leben, weil mir eine tiefe emotionale Bindung zu ihm fehlt, die sich einfach nicht entwickelt.

Ich habe für beide Gefühle, aber Liebe ist es nicht. Über Labels habe ich mit ihnen nie gesprochen, und ich bin froh, mit keinem eine halb gare Beziehung eingehen zu müssen. Beide ergänzen sich für mich, aber ich würde nicht lange trauern, wenn es vorbei sein sollte. Sie wissen auch nichts voneinander. Ich fühle mich ihnen gegenüber zu nichts verpflichtet. In Zukunft möchte ich eine monogame Beziehung führen, die mir Sicherheit gibt, und Kinder haben. Gerade ist es genau richtig: frei und vertraut."

Sonja*

Sonja*, 24, studiert Geografie, Englisch und Spanisch auf Lehramt in Würzburg.

* Sonja möchte ihren Namen und die der Männer für sich behalten, sie sind der Redaktion bekannt.

Für (immer und ewig)

"Für mich war nach dem Abi klar, dass ich aus Rostock rausmuss. Da war es nicht gerade hilfreich, dass ich kurz vorher meine große Liebe bei der Mathe-Nachhilfe wiedergetroffen hatte. Ich kenne Alexander schon seitdem wir mit 14 Jahren im Musical ›Fame‹ auf der Bühne standen. Unseren ersten Kuss hatten wir vor ausverkauftem Haus im Volkstheater Rostock. Auch im echten Leben haben wir uns jahrelang zueinander hingezogen gefühlt, waren aber nie gleichzeitig Single. Vergangenen November hat Alexander dann mit seiner damaligen Freundin Schluss gemacht, und wir wurden ein Paar. Er akzeptiert, dass ich bald wegziehen möchte, aber schlug an Silvester vor, in den verbleibenden drei Monaten ein Beziehungsleben durchzuspielen, inklusive Haustier und Hochzeit. Ich willigte ein. Vor zwei Wochen haben wir dann geheiratet. Für mich war die Ehe nie ein Lebensziel. Die traditionellen Rollenbilder unterstütze ich nicht. Ich will mich nicht für immer an einen Mann binden und könnte mir sogar eine offene Ehe vorstellen. Trotzdem wollte ich unsere Liebe mit unseren Eltern und Freund:innen feiern, weil er mir mehr bedeutet als alle meine vorherigen Boyfriends. Ich freue mich auf unsere ungewisse Zukunft. Vorübergehend ist sein Plan zumindest aufgegangen: Ich möchte noch ein bisschen länger hier in Rostock bleiben."

Luise & Alexander

Luise, 20, will Schauspielerin werden. Alexander, 22, arbeitet als Nachhilfelehrer. Beide wohnen in Rostock.

(Mehr) als eine Liebe 

Helena: "Es funkte in der Jazzband. Jonas spielte Saxofon, ich Keyboard. Wir waren beide 17 Jahre alt und gingen auf dieselbe Schule in Berlin-Tegel. Nach ein paar Proben fragte er mich nach einem Date. Ich sagte Ja. Wochen später liefen wir Händchen haltend zum Unterricht."

Jonas: "Ich habe in der Schule viele Körbe bekommen, aber blieb selbstbewusst. Es gab einige Flirts auf Partys und Knutschereien. Mit Helena war vieles neu. Für uns beide ist es die erste ernste Beziehung, der erste Sex, die erste große Liebe."

Helena: "Auch über die Schulzeit hinaus: als ich dann nach dem Abi ein halbes Jahr als Freiwillige an einer Schule in Polen war, später zwei Semester in Halle an der Saale VWL studierte oder Jonas in Australien Work-and-Travel machte. Wir merkten, dass wir uns in einer Fernbeziehung vertrauen konnten, weil wir über alles geredet haben."

Jonas: "Fünf Jahre waren wir monogam. Aber dann bekam ich Angst: Habe ich genug erlebt? An einem Abend im November 2019 standen wir in der Küche in ihrer WG, und sie fragte, was los sei. Da brach es aus mir heraus: Unter Tränen sagte ich, dass ich so nicht weitermachen könne. Ich liebe Helena, aber ich wollte sexuelle Erfahrungen mit anderen Leuten sammeln."

Helena: "Diese Zeit war hart, weil wir so verloren waren. Dabei habe ich ähnlich wie Jonas gefühlt. Wir wussten nur nicht, wie es weitergehen sollte. Wir trennten uns. Nach einer Woche kamen wir wieder zusammen. Dann beschlossen wir, unsere Beziehung zu öffnen. Wir machten uns Accounts bei Tinder, später bei Bumble und OkCupid. Ich gab an, eine offene Beziehung zu führen, Jonas wollte das beim ersten Treffen erzählen."

"Man hakt nur noch rational eine Checkliste ab" 

Jonas: "Es war Zufall, dass Helena und ich am selben Abend unsere ersten Dates in Berlin hatten. Helena traf einen Typen, und sie schliefen miteinander. Ich traf eine Frau, wir gingen zu ihr und hatten Sex. Am selben Abend telefonierten Helena und ich und sprachen darüber. Es war einerseits aufregend, was mit einer fremden Person zu haben, andererseits ernüchternd, weil die emotionale Bindung fehlte."

Helena: "Mir haben Sex und Flirten Spaß gemacht, ich mochte One-Night-Stands. Und ich mochte die Vorstellung, dass Jonas und ich Neues ausprobieren. Der Deal war, nichts zu verheimlichen und uns von den Dates zu erzählen, aber ohne Details. Anfangs gab es die Regel, nur was mit Fremden zu haben. Als ich mit einem Kommilitonen auf einer Party knutschte, erzählte ich Jonas am selben Abend davon. Danach verwarfen wir die Regel wieder."

Jonas: "Wir haben viel und offen gesprochen, das tat oft weh und war anstrengend, aber nie bedrohlich für unsere Beziehung. Mich hat zu Beginn eher die Vorstellung belastet, dass Helena mit anderen Männern körperlich wird. Wir waren unsicher, wie viel wir zulassen dürfen. An einem Abend im Januar 2021 hängte ich gerade die Wäsche bei mir ab, Helena saß auf der Couch, und dann erzählte ich von einem Podcast über Polyamorie. Das Konzept passte zu unseren Wünschen und Bedürfnissen, und wir beschlossen, es ausprobieren."

Helena: "Ich lernte kurz darauf über Bekannte einen Mann kennen, auf den ich einen Crush hatte. Wir flirteten und hatten was miteinander, gingen oft zum Italiener oder schauten Marvel-Filme bei ihm. Nach zehn Monaten verabredeten wir uns mit Jonas in einer Bar. Mir war es wichtig, dass sich die beiden kennenlernen. Ich war erst super aufgeregt, und dann war es schön. Wir trafen uns ungefähr ein Jahr lang, dann passte es irgendwie nicht mehr."

Jonas: "Ich treffe aktuell eine Frau, zu der ich auch Gefühle aufbaue. Vergangenen Herbst war sie nicht in Berlin, und ich habe sie vermisst. Helena hatte sich auch mit ihr angefreundet, und ich konnte meine Gefühle mit ihr teilen. Wir freuen uns füreinander und gönnen uns andere Beziehungen."

Helena: "Jonas und ich lieben uns, ohne exklusiv zu sein. Wenn jemand mal eifersüchtig ist, reden wir darüber, woher das kommt, anstatt uns Vorwürfe zu machen. Wir arbeiten an unserer Beziehung und lernen stets miteinander. Es ist immer ein Prozess, aber für die Liebe lohnt es sich."

Helena

Helena, 25, studiert European Studies in Berlin und Jonas, 25, studiert dort Medizin.

Aufgezeichnet von Laura Binder & Julian Schmelmer

Essay

Wer verliebt ist, begreift den anderen als einzigartig. Das muss aber nicht heißen, nur eine einzige Person lieben zu können oder das bis ans Lebensende zu tun. So wie Dilan und Olivia, die sich zwar lieben, aber sich kein Label geben. Oder wie Luise, die zwar heiratet, aber dabei nicht unbedingt "für immer" meint.

Auch die Autorin und Influencerin Valentina Vapaux, 22, glaubt nicht an das Konzept lebenslanger Monogamie. Als Scheidungskind sei sie dafür zu realistisch. In ihrem Buch "Generation Z: Zwischen Selbstverwirklichung, Insta-Einsamkeit und der Hoffnung auf eine bessere Welt" beschreibt sie, warum ihre Generation so einsam ist, obwohl überall jemand darauf wartet, geliebt zu werden.

Sie erklärt, dass die Probleme schon beim Kennenlernen anfangen. "Als Kinder des Spätkapitalismus wachsen wir mit dem Internet als Selbstverständlichkeit auf und kennen nichts anderes als Schnelligkeit", sagt sie. Wir können uns Pizza in zwanzig Minuten nach Hause liefern lassen oder jederzeit ein neues T-Shirt im Online-Shop auswählen und uns per App mit jemandem für ein Date in eine Bar oder zum Sex verabreden. Wir können an jedem Ort der Welt nach Liebe suchen und zu jeder Uhrzeit mit jemandem flirten. Bei diesem Lifestyle ist alles en masse und sofort verfügbar. Doch es wird schwerer, sich zu entscheiden. Wir sind frei – aber auch ein bisschen verloren.

Warum es vielen so schwerfällt sich heute zu entscheiden, untersucht der Psychologe Rüdiger Maas. Er ist Gründer des Instituts für Generationenforschung in Augsburg. "Wir suchen jemanden, der so ist wie man selbst", sagt Maas. Wer im Digitalen aufwächst, empfinde es als selbstverständlich, Filter zu benutzen, um die Suche einzugrenzen. So funktionieren auch Dating-Apps. Wir filtern andere Leute nicht nur nach Alter, Geschlecht oder Wohnort, sondern auch nach politischer Ausrichtung, sexuellen Vorlieben, Typ Netflix oder Typ Nachtclub. Tinder selbst gab an, dass vergangenes Jahr Sternzeichen und Aktivismus in den Profilen trendeten. Bei Bumble kann man im Profil Sätze wie "Wir werden uns verstehen, wenn ..." vervollständigen. Und Hinge wirbt mit einem preisgekrönten Algorithmus, der so gut filtere, dass man die App schnell löschen könne.

Das helfe zwar bei der Vorauswahl, doch Maas weiß durch die Studien seines Instituts, dass so auch unsere Empathie abnehme und die Ignoranz größer werde. Man ignoriere, dass jemand, der anders sei, einen bereichern könnte. "Man hakt nur noch rational eine Checkliste ab und schaut, bevor man sich überhaupt richtig kennenlernt, was der- oder diejenige anbietet", sagt er. Gleichzeitig sind wir übersättigt von Optionen. "Wer immer die Wahl hat, bekommt Angst, sich das Falsche auszusuchen", sagt Maas. So entstehe das Gefühl, dass jede:r austauschbar sei.

Ähnlich verunsichern können auch all die Beziehungsformen, die durch Social Media wabern. Vieles davon, wie Polyamorie oder offen für alles, sei nicht neu, sagt Maas. "Neu ist aber, dass es für alles ein Label gibt. Viele wollen offen für alles sein, weil sie das für sozial erwünscht halten." Das Problem: Hinter jedem Label steckt ein Konzept mit Regeln. Das kann Leuten helfen, aber sie auch einengen. Denn nicht alles passt zur eigenen Persönlichkeit. "Man muss sich fragen: Kann ich überhaupt polyamor leben, oder bin ich zu eifersüchtig?", sagt Maas.

Die Soziologin Andrea Newerla erforscht, wie sich Intimität verändert. Sie sieht in den Modellen auch Chancen. "In einer Beziehung geht es mittlerweile weniger um Anpassung als vielmehr um Selbsterfüllung." Sie sagt, unsere Gesellschaft mache uns immer stärker zu autarken Persönlichkeiten. Zu Menschen, die weniger Kompromisse machen. "Wir bekommen überall vermittelt, dass die romantische Zweierbeziehung das Ideal ist", sagt Andrea Newerla. Dabei sei das heute nicht mehr zeitgemäß. In Serien wie "Élite" führen Charaktere wie selbstverständlich offene Beziehungen, und bei TikTok haben polyamore Paare wie Lui und Saskia von "Die Michalskis" fast eine halbe Million Follower.

"›Ich liebe dich für immer‹ ist ein schwieriges Narrativ", sagt Andrea Newerla. "Es ist totalitär." Und birgt einen Konflikt: Wenn niemand seine Freiheiten aufgeben will, ist es schwer, ein "Wir" zu finden – ohne das "Du" und vor allem das "Ich" zu vernachlässigen. "Es gibt eine große Experimentierfreude bei gleichzeitiger Unsicherheit", sagt sie. "Junge Leute wollen nicht reproduzieren, was die Norm ist. Aber sie müssen sich erst mit all den Beziehungskonzepten vertraut machen."

Und auch die Politik erkennt allmählich an, dass die romantische Zweierbeziehung nicht mehr zu jedem Lebensentwurf passt. Im Koalitionsvertrag der Ampelregierung steht eine sogenannte Verantwortungsgemeinschaft. Das soll Menschen auch außerhalb von Liebesbeziehungen oder Ehen helfen, eine rechtliche Grundlage zu bekommen.

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