Macht in Freundschaften: Eine Freundschaft ist manchmal auch nur eine schöne Diktatur
- Robert Hofmann

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Was in der Gesellschaft normal ist, existiert auch in Freundschaften: Dominanz und Mitläufer:innen. Die Frage ist nur: Trifft man auf einen Olaf oder auf einen Tim?

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Glamourös waren unsere Tage nicht. Meist trafen wir uns nach dem Mittagessen zum "Basketballspielen", wobei Basketballspielen nur ein Code war. Wenn wir unseren Eltern sagten, wir würden am Nachmittag noch ein paar Körbe werfen, jaja, die Hausaufgaben wären längst fertig, dann meinten wir eigentlich, dass wir uns den Kopf wegkiffen wollten.
Wir waren 16, 17 Jahre alt, Schule war nervig, unsere Eltern auch und überhaupt alles, wenn wir nicht auf einer Parkbank saßen und schweigend über nichts kicherten. Wo genau wir uns trafen, entschied meist Olaf, der in Wirklichkeit anders heißt. Er besaß die Macht, uns zu befehligen, herumzukommandieren. Diese Macht schöpfte sich dabei vor allem aus einer einzigen Quelle: einem scheinbar endlosen Vorrat an Cannabis.
Sonntags trafen wir uns manchmal in einem Waldgebiet Bonns, unserer Heimatstadt. In dessen Ausläufern lebte Olafs Oma. Die besuchte er sonntags, war der liebe Enkel, stahl ihr währenddessen Geld aus dem Portemonnaie, rief seinen Dealer an und anschließend uns zu sich.
Olaf, der Anführer
Olaf war unser Anführer, wir fürchteten seine Launen, weil wir fürchteten, vom Gras abgeschnitten zu werden, und mochten ihn doch darüber hinaus. Er drehte makellose Joints, faltete perfekte Tips und blies wunderschöne Rauchringe in die Luft. Und wenn er mal einen Joint lobte, den einer von uns gedreht hatte, dann kam das einem Ritterschlag gleich.
Olafs Wort war Befehl. Wenn er am Ende eines langen, anstrengenden Tages Hunger hatte, schickte er uns manchmal in den Kaiser's klauen. Monatelang stahl ich Ritter-Sport-Tafeln für ihn, im Gegenzug für ein paar Krümel Gras. Erst als ich erwischt wurde und der Filialleiter Mitte Dezember meiner Mutter "ein schönes Geschenk zu Weihnachten" von der Polizei versprach, hörte ich damit auf.
Heute weiß ich, dass das keine echte Freundschaft war. Ich hätte mich ihm nicht anvertraut, schon aus Angst, dass meine Offenheit oder das, was ich mit ihm teile, ihn abstößt und er mir den Grasnachschub verwehrt. Eine echte Freundschaft war das nicht.
Macht ist überall, wo Menschen sind
In unserer Welt gibt es Machtungleichgewichte. Mal liebt ein:e Partner:in den anderen ein bisschen mehr, mal kann jemand darüber entscheiden, ob man seinen Job verliert, eine schlechte Note bekommt oder in drei Monaten auf der Straße sitzt. Macht kann wirtschaftlich sein, wie bei Olaf, oder politisch, wie bei, na ja, Olaf. Sie kann organisatorisch begründet sein, wenn deine Chefin dir abverlangt, nach Feierabend noch ein Bier mit dem Team zu trinken, oder familiär, wenn ein Vater vom Kind verlangt, sein Zimmer aufzuräumen.
Es scheint fast so, als gäbe es fast überall Machtverhältnisse, wo Menschen aufeinandertreffen. Meistens ist das in Ordnung. Macht strukturiert Gesellschaft und solange man das Gefühl hat, dass sie nicht nur gerecht verteilt ist, sondern auch dem Wohle aller – oder zumindest dem eigenen – dient, können wir sie akzeptieren. Aber gilt das auch für Freundschaften?
Ich zumindest meine heute, dass Freundschaften der eine Bereich sind, in dem Macht keine Rolle spielen sollte. Der eine Bereich, in dem Hierarchien außer Kraft gesetzt sind. Volles Vertrauen, volle Hingabe, volle Gleichberechtigung. Doch wie realistisch ist dieses Ideal?
"Es ist normal, dass es gewisse Machtungleichgewichte in menschlichen Beziehungen gibt", sagt Wolfgang Krüger. Er ist Freundschaftsforscher und Buchautor. "Man erlebt oft, dass Menschen sich ergänzen", sagt Krüger. Dass ein schüchterner Mensch etwa mit jemandem befreundet ist, der gerne redet, "oder einem klassischen Narzissten". Wenn ein Freund den anderen aber immer wieder dazu bringe, Dinge zu tun, die der gar nicht will, dann sei das Machtverhältnis gekippt. "Dann ist es zu viel."
Olafs und mein Weg trennten sich, als die Droge für mich an Bedeutung verlor. Ich war in der Zwischenzeit sitzen geblieben, hatte in meiner neuen Klasse Freunde gefunden und Interessen entwickelt, die nicht damit vereinbar waren, tage-, wochen-, monatelang auf der gleichen Parkbank zu sitzen und zu kichern. Außerdem fühlte ich mich zunehmend unwohl in der Rolle des Dienstleisters von Olaf. Der freie Markt hatte das Problem gelöst. Als meine Nachfrage nachließ, war auch Olafs Ware nichts mehr wert.
Meine heutigen Freundschaften sind gleichberechtigt, davon bin ich überzeugt. Ich bin auch davon überzeugt, dass der Mensch Gleichberechtigung sucht. Und wenn eine Freundschaft schon viele Jahre dauert, lohnt es sich immer, zu schauen, ob beide glücklich sind mit ihren Rollen.
Auch Wolfgang Krüger sagt, gleichberechtigte Freundschaften hielten im Schnitt länger. Oft seien sie Herzensfreundschaften, die über 30 Jahre halten. Denn: "Wir brauchen in Freundschaften einen gewissen Ausgleich. Man muss da kein Erbsenzähler sein. Aber wenn einer immer nur hinterhertrabt, ist das auf Dauer schwierig." Denn jeder Mensch habe Ansprüche, Wünsche, Fantasie und eine Lebendigkeit, die sonst einfach zu kurz kämen.
Wenn einer immer nur hinterhertrabt, ist das auf Dauer schwierig.
Ansprüche, Wünsche, Fantasie und Lebendigkeit hatte ich auch. Und so war ich auch nicht immer nur derjenige, der einen starken Anführer suchte. Auch ich hatte Freundschaften, bei denen ich mich fühlte wie der Stärkere. Derjenige, der dem anderen meinen Willen aufzwingen konnte, auch wenn ich mir weder das Gefühl noch das Wissen darum eingestanden hätte.
Tim, der Unbeholfene
Tim und ich waren Klassenkameraden. Auch er heißt eigentlich anders. Wir hatten uns angefreundet, weil ich Mitleid mit ihm hatte. Die anderen Jungs in unserer Klasse mobbten ihn und ich war gerade in einer Phase, in der ich da nicht mitmachen wollte. Ich nahm ihn in Schutz, darüber kamen wir ins Gespräch, merkten, dass unser Humor ähnlich dumm war, wir beide Trashfilme mochten und unsere Familienverhältnisse eher, na ja, kompliziert waren, und wurden für viele Jahre supergute Freunde.
Tim und ich gingen in denselben Boxclub, schauten gemeinsam trashige Actionfilme auf VHS und tranken ganze Paletten von 5,0-Dosenbier. Wir bauten uns eine eigene kleine Welt, die von außen traurig und einsam wirken musste, weil sie so nischig, so eigenwillig war und kaum Platz bot für andere. Aber wir waren Freunde und mir reichte das.
Und doch hatte ich stets das Gefühl, dass er ohne mich aufgeschmissen wäre. Nicht allgemein, nicht im Leben, aber doch in sozialen Situationen. Er war nicht schüchtern, aber wirkte oft unbeholfen. Er verprellte Menschen durch seine ruppige Art, ohne dass er sie vor den Kopf stoßen wollte. Ich hatte das Gefühl, es fiele ihm schwer, neue Leute kennenzulernen, deswegen hing er sich an mich und ich nahm ihn gerne mit, weil ich wusste, mit ihm stets jemanden dabeizuhaben, der auf meiner Seite stand.
Wolfgang Krüger sagt, man verfalle in Freundschaften oft in Muster, die man schon in der Kindheit erlernt habe. "Und dann kommt man da auch schlecht raus. Meist nur mit professioneller Hilfe."
Nach dem Zivildienst zog Tim weg und studierte in Berlin. Ich fühlte mich noch nicht so weit, hing noch ein weiteres Jahr in Bonn rum und trank ohne ihn Dosenbier, zog ihm dann aber hinterher. In Berlin lebten wir in einer WG und teilten bald einen Freundeskreis. Dabei waren es meistens Menschen, die ich kennengelernt und mit in die WG gebracht hatte. Das alte Muster. Tim kam mir oft vor wie unser Anhängsel – und doch änderte sich das langsam. Das Jahr, in dem er auf sich allein gestellt gewesen war, hatte ihm offenbar die Unsicherheit genommen.
Er konnte jetzt selbstverständlich für sich einstehen, war charismatisch, witzig, eloquent. Die Leute mochten ihn unabhängig davon, wie ich ihn sah. Und so glaubte nur ich noch manchmal, insgeheim, dass er mich brauchte, um in der Welt der Zwischenmenschlichkeit bestehen zu können. Auch wenn das mittlerweile völliger Quatsch war.
Heute frage ich mich, ob Tim seine Rolle damals überhaupt verändern wollte. Also klar war er anfangs nur ein Anhängsel, aber dafür übernahm ich ja auch die stressigen Dinge. Ich machte die Verabredungen, suchte die Bahnverbindungen zur Party raus und stellte ihn anderen vor. Eigentlich profitierte er doch auch von unserer Freundschaft.
Krüger sieht das anders. Er sagt, dass ein solches Verhältnis immer brisant sei. "Weil da immer Ansprüche drinstecken", sagt er. Einerseits gebe der eine Freund dem anderen immer das Gefühl, der Größte zu sein, dafür entlaste dieser ihn in manchen Lebenslagen. "Was aber, wenn der eine dann doch mal eine eigene Meinung hat?" Dann komme es zwangsläufig zu Konflikten.
Bei Tim und mir gab es nie diesen Konflikt. Wir mussten uns nicht aussprechen, nicht streiten, damit unser Verhältnis gleichberechtigter wurde. Unsere Freundschaft normalisierte sich von allein. Schließlich ging ich auch auf Partys von seinen Freunden, besuchten uns seine Freunde in der WG und lief seine Schlagermusik den ganzen Tag in unserer Küche.
Irgendwann gibt es einen Knall.
Am Ende stritten wir uns, die Freundschaft löste sich langsam auf und heute sind wir nur noch bessere Bekannte, auch wenn ich mich immer freue, ihn zu sehen. Aber vorher waren wir gleichberechtigt befreundet. Mal entschied er, was wir abends machen würden, mal ich.
Man kann wohl sagen, wir hatten Glück, ohne Bruch davongekommen zu sein. Ohne Ärger oder Kränkung. Unsere Freundschaft rutschte quasi vom Ungleichgewicht zur Gleichberechtigung. Was aber, wenn das nicht der Fall ist? Was, wenn der schwächere Teil seinen Status ändern möchte? Und was, wenn der andere das nicht zulässt?
"Manchmal verändern sich die Lebensumstände einer Person", sagt Wolfgang Krüger. "Daraus kann sie Kraft ziehen, durch eine neue Beziehung etwa oder Erfolg im Beruf." Das sei dann Anlass genug, um auch die eigene Rolle in einer Freundschaft neu definieren zu wollen.
Ungleiche Freundschaften gingen meistens zu Ende, wenn ein Teil davon die eigene Rolle hinterfrage. "Dann gibt es irgendwann einen Knall", sagt Krüger. "Wenn der Unterlegene sich gegen denjenigen auflehnt, der immer oben war, der vielleicht auch narzisstisch veranlagt und schnell gekränkt ist, dann wird er massiv dagegenhalten." Oft bedeute das dann das Ende der Freundschaft.
Ich finde heute, dass eine Freundschaft dann besonders schön ist, wenn beide mal die dominante und mal die dominierte Position einnehmen können. Wenn ein Freund Freude daran hat, Urlaube zu planen, hänge ich mich da gerne dran, solange er mir vertraut, wenn ich den Kinofilm aussuchen kann oder die Bar, in die wir gehen. Wenn er sich meine Sorgen anhört, Ratschläge gibt und mich tröstet, dann will ich das auch für ihn tun können.
Aber wie schafft man das, eine Freundschaft zu verändern, die eigene Rolle zu modifizieren? "Man muss es ansprechen", sagt Krüger. Wenn der Freund das mitmacht, sich nicht zu sehr dagegen wehrt, dann klappt das. "Dann kann man eine Freundschaft fundamental verändern", sagt Krüger.
"Wenn beiden Menschen eine Freundschaft wichtig ist, dann übersteht sie auch eine solche Transformation", sagt Krüger. Wenn es eine tiefe Verbundenheit gebe, womöglich ein ähnliches Lebensschicksal, "dann kann einer seine Rolle wechseln und der andere sich damit arrangieren", sagt Krüger.
Am Ende ist es so wie mit allem. Wenn wir etwas lieb haben, dann investieren wir Zeit, Gedanken und Mühe hinein. Eine wirklich gute Freundschaft wird es also überleben, wenn wir an deren Bedingungen rütteln. Auch, wenn wir einander damit irritieren. Und vielleicht erkennen wir erst dann, wenn wir die Machtverhältnisse untereinander offen hinterfragen, ob uns diese Freundschaft wirklich wichtig ist. Und ob wir unseren Freund:innen wirklich wichtig sind. Deshalb, und vielleicht ist das die wichtigste Erkenntnis, lohnt es sich immer, an der Freundschaft zu rütteln. Einfach um zu gucken, ob sie stehen bleibt.
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