Private Probleme von Mitarbeitern: "Etwa zweimal pro Monat weint jemand vor mir"

Autor*innen
Heike Faller
Ein Mann sitz auf dem Boden und über ihm ist eine Wolke, die regnet

Sollte man auf der Arbeit weinen und vom Liebeskummer erzählen? Ein Chef berichtet, wie er damit umgeht, wenn Angestellte emotional werden – und was er davon hält.

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Bei der Chefin sitzen und weinen – für viele Mitarbeiter ist das schlimm. Sollte man eigentlich auf der Arbeit erzählen, dass man krank ist oder andere private Probleme hat? In der Fortsetzung unserer Serie "Was Chefs wirklich denken" berichtet ein Chef über seinen Umgang mit emotionalen Mitarbeitenden.

Chef zu sein bedeute in Wahrheit, Kindergärtner zu sein, heißt es manchmal. Ich finde das abwertend den Mitarbeitenden gegenüber. Aber tatsächlich beinhaltet Führung auch den Umgang mit privaten Themen. Menschen lassen ihr Privatleben nicht zu Hause, wenn sie zur Arbeit kommen, das geht nicht und das müssen sie auch nicht. In einem Laden mit hundert Mitarbeitern kann ich davon ausgehen, dass statistisch gesehen mindestens zehn gerade in einer Lebenskrise sind, und damit muss ich umgehen. Zu guter Führung gehört es auch, dass die Leute keine Angst haben, mich damit zu befassen.

Fangen wir mit dem Weinen an, aus Sicht von Mitarbeitern vielleicht der häufigste Moment, an dem sie etwas Privates von sich zeigen. Man sieht, wie unangenehm es den meisten ist. Dabei passiert es relativ häufig – in meinem Fall etwa zweimal pro Monat, dass jemand, tatsächlich sind es meistens eher Frauen, vor mir die Fassung verliert und weint. Oder die Tränen nur mühsam unterdrücken kann.

Ich denke, Mitarbeitenden ist das häufig überproportional unangenehm, weil sie es als Kontrollverlust empfinden. Ich finde es relativ normal. Schließlich geht man nicht als Roboter auf die Arbeit, sondern als Mensch. Für mich gehört es zur Arbeit dazu und es ist mir weniger peinlich, als die Betroffenen womöglich denken.

"Die Reaktionen sind unterschiedlich"

Wenn ich beispielsweise in Gesprächen merke, dass bei meinem Gegenüber die Stimme brüchig wird, lasse ich das nicht vorbeiziehen, sondern biete meine Hilfe, aber auch ein Verschieben des Gesprächs an. Die Reaktionen sind unterschiedlich. Aus manch einem bricht es dann heraus, andere verschanzen sich, weil sie sich ertappt fühlen. Beides ist natürlich total legitim.

Oft kommt gar nicht der Betroffene zu mir, sondern Kolleginnen und Kollegen, und sagen: Ich wollte nur, dass du weißt, dem Kollegen X geht es wirklich schlecht, ihr müsst euch kümmern. Das kann eine Trennung sein, ein Sorgerechtsstreit, eine psychische Erkrankung. Eine Führungskraft hat unbedingt die Pflicht, das im Auge zu behalten. Als Chef bin ich kein Psychologe – weder bin ich dafür ausgebildet, noch können diese Themen überproportional viel Zeit einnehmen. Aber ich habe eine Fürsorgepflicht gegenüber meinen Mitarbeitenden, die über das Professionelle hinausgeht. Insofern ist die oft nur rituell daher gesagte Formel "Wie geht es dir?" keine Floskel. Ich interessiere mich wirklich, was bei den Kolleginnen und Kollegen gerade privat ansteht. Ein guter Weg, dies ohne übergriffige Neugier zu erfahren, ist, von sich selbst zu erzählen. Das tue ich öfter, was wiederum dazu führt, dass auch ich gelegentlich entsprechend angesprochen werde: "Geht dir nicht gut heute, oder?" Wenn das jemand als schwach empfindet, muss man das aushalten – und kann es ja auch, ob wahr oder nicht, freundlich dementieren.

"Mir fallen Menschen ein, die durch Corona einsam wurden"

Es geht dabei um ein Miteinander, das letztlich auch gut für die Leistung ist: (möglichst) ehrlich und (maximal) empathisch.

Mir fallen mehrere Menschen ein, die durch Corona einsam wurden. Ich wusste, dass sie allein lebten oder ich schloss aus ihren etwas zu ostentativen Erzählungen von langen Abenden mit guten Freunden bei gutem Wein, dass sie sich nicht sehr aufgehoben in ihrem Leben fühlten und das verbergen wollten. Eine Kollegin arbeitete in dieser Zeit unheimlich viel, sie wurde sehr ehrgeizig – sie war Single und hatte wenig privaten Ausgleich und es war gut den Kontext zu kennen – plötzlich ahnte ich, woher ihre Arbeitswut kam. Deshalb ist es gut, wenn ich private Konstellationen in etwa kenne. Das ist natürlich kein Anspruch, jeder darf sein Privatleben aus dem Job raushalten.

"In manchen Fällen ist privat eben nicht nur privat"

Oder umgekehrt gab es Leute, die unter Corona zu fünft in einer kleinen Wohnung verbringen mussten, mit unbetreuten kleinen Kindern. Auch da war es gut, die Lebensumstände zu kennen und zu wissen, warum sie eine Zeit lang nicht so gut arbeiteten. Ich erwartete dann nicht so viel Leistung.

Auch das ist eine traurige statistische Wahrscheinlichkeit: Von hundert Mitarbeitenden haben im Laufe von Jahren einige Krebs – oder deren Angehörige. Kein Chef, keine Chefin, den oder die ich kenne, würde in der Situation anders reagieren als mit großer Empathie. Dabei ist es nach meiner Erfahrung nicht immer die beste Lösung zu sagen: Mach dir keine Sorgen, bleib zu Hause, solange du willst und es brauchst! Denn oft ist die Arbeit ein hoch willkommener Ausgleich, eine Ablenkung, die die Menschen in solchen Situationen nötiger brauchen als alle Freiheiten.

"Man will auch wissen, wenn sich die krisenhafte Situation wieder ändert"

Schön wäre es allerdings auch, wenn die Menschen mir sagen würden, wenn ihre Krise wieder vorbei ist. Das wird manchmal einfach vergessen und das stört mich. Jemand sitzt weinend in meinem Büro und sagt, ich habe eine schwierige Zeit, ich wurde von meiner Frau verlassen, ich sage, na klar, nimm dir Zeit, ich halte dir den Rücken frei. Und ein halbes Jahr später höre ich, dass die Person schon wieder in einer glücklichen Nachfolgebeziehung lebt, von der ich leider nie gehört habe. Wenn einen jemand so in Sachen reinzieht, will man wissen, wenn sich die krisenhafte Lebenssituation wieder ändert.

Zweimal hatte ich auch schon Kollegen und Kolleginnen vor mir, die sich bei der Arbeit in unserer Firma ineinander verliebt haben. Das ist für beide ein enorm emotionaler Moment, mir das zu sagen. Solche Situationen sind mit die kompliziertesten für einen Chef oder eine Chefin: Kann ich mich innerhalb dieser Beziehung auf Diskretion verlassen, oder spreche ich eigentlich immer mit beiden, auch wenn nur einer im Raum ist? Kann ich sicher sein, dass sie einander nicht protegieren oder, aus Furcht, dass ihnen genau das vorgeworfen wird, eher hemmen oder gar behindern? Natürlich darf es in solchen Situationen keine Sanktionen geben, durch Versetzungen zum Beispiel. Aber, das ist die Wahrheit: In diesen Fällen ist privat eben nicht nur privat.

Die betreffenden Kolleginnen und Kollegen haben es zum Glück selbst gemerkt, dass ihre Liebesbeziehung kritisch war für die Firma. In einem Fall hat sich der Mann freiwillig in eine andere Abteilung versetzen lassen, um seiner Lebensgefährtin als Chefin aus dem Weg zu gehen. Im anderen Fall wurde mir mitgeteilt, dass sich die Beziehung nach kurzer Zeit wieder aufgelöst habe.

Etwas anderes ist es, wenn das Private, wie in dem folgenden Fall, buchstäblich politisch wird: Einmal saß eine Mitarbeiterin vor mir, die in ihrer Funktion mit Menschen im Politikbetrieb zu tun hat. Sie erzählte mir von einer Affäre mit einem Politiker und dass es sein könne, dass diese bald in der Zeitung stünde. Das ist ihr wahnsinnig schwergefallen und sie hat mir in dem Moment sehr leidgetan, denn niemand erzählt gern von derartig privaten Geschichten, zumal wenn alle Beteiligten verheiratet sind. Aber es war wichtig im Sinne der Transparenz, weil unser Unternehmen darauf vorbereitet war. Glücklicherweise wurde dieser Fall nie öffentlich und so viel ich weiß, hat er sich auch wieder von selbst erledigt.

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