Aylin Karabulut: "Aufsteiger wissen oft nicht, welches Gehalt angemessen wäre"

Autor*innen
David Gutensohn
Eine Frau klettert eine Leiter nach oben.

Vom Arbeiterkind zum Akademiker: Diese Leute sind Gold wert. Doch viele Unternehmen unterschätzen ihr Potenzial, sagt die Forscherin Aylin Karabulut. Das sei ein Fehler.

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Wer aus einem Arbeiterhaushalt stammt, wird nicht nur in der Schule und Universität, sondern auch später im Berufsleben benachteiligt. Die Wissenschaftlerin Aylin Karabulut beschäftigt sich mit der Ausgrenzung von Arbeiterkindern, auch weil sie das selbst erlebt hat. Sie weiß, was Unternehmen besser machen sollten, um Aufsteiger zu fördern, statt zu diskriminieren.

Sie sind Expertin für Gleichberechtigung und Ungleichheit. Und Sie finden, dass zu wenig über Klassismus gesprochen wird. Warum?

Weil Klassismus, also die Benachteiligung von Menschen aufgrund ihrer sozialen Herkunft, immer noch zu wenig bekannt ist. Zum Glück reden wir oft über Rassismus oder die Ungleichheit der Geschlechter, aber über die Ausgrenzung von Arbeiterkindern sprechen wir zu selten. Und das, obwohl oft alles miteinander zusammenhängt.

Wie meinen Sie das?

Ich rede hier von Mehrfachdiskriminierungen und davon, dass Menschen, die People of Color sind, oft auch unter Klassismus leiden. Es ist wichtig, für diese Zusammenhänge zu sensibilisieren und über beides zu sprechen. Denn in kaum einem anderen Industriestaat hängt der Erfolg so stark vom Elternhaus ab wie in Deutschland.

Schülerinnen und Schüler werden viel zu früh selektiert.
Aylin Karabulut

Woran liegt das?

Vor allem daran, dass Deutschland größtenteils immer noch ein dreigliedriges Schulsystem hat, das Schülerinnen und Schüler viel zu früh selektiert. Also dass viel zu früh entschieden wird, ob ein junger Mensch aus einem Arbeiterhaushalt aufsteigen kann – und oft trauen Lehrerinnen und Lehrer das dem Kind nicht zu. Entweder weil es einen Migrationshintergrund hat oder die Eltern kein Abitur – oder eben beides.

Doch auch diejenigen, die es schaffen und studieren, können von Klassismus betroffen sein.

Definitiv, das zeigt sich während der Ausbildung, aber auch später im Arbeitsleben. Es fängt mit unbezahlten Praktika an, die sich oft nur Kinder aus wohlhabenden Haushalten leisten können. Damit bekommen manche gar nicht erst die Chance auf einen guten Job. Und es geht weiter damit, dass Erstakademiker, also Menschen, die als erste in der Familie ein Studium gemacht haben, zwar gebildet, aber zu wenig vernetzt sind. Sie haben eben keine Eltern, die andere Entscheider kennen. Eine Vielzahl von Stellen wird gar nicht erst ausgeschrieben, sondern durch Kontakte und Empfehlungen vergeben. Und davon profitieren vor allem die Kinder aus wohlhabenden Haushalten.

Laut einer Studie aus England lässt sich die Klassenungleichheit auch bei den Gehältern sehen.

Das ist unbestritten, Angestellte aus Arbeiterhaushalten verdienen, selbst wenn sie aufgestiegen sind, später weniger als jene, die Akademikereltern haben. Und zwar für dieselbe Arbeit. Wir sprechen da von einem sogenannten Class-Pay-Gap.

Aufsteiger wissen oft nicht, welches Gehalt angemessen wäre.
Aylin Karabulut

Wie kommt es dazu?

Aufsteiger wissen oft gar nicht, welches Gehalt für welche Stelle angemessen wäre – gerade in akademischen Berufen. Woher auch? Vor allem wenn in der Stellenausschreibung keine Gehaltsspanne genannt wurde oder die Einkommen der Angestellten intransparent sind. Das schadet den Aufsteigern auch später bei den Gehaltsverhandlungen, weil sie oft nicht wissen, was sie eigentlich verdienen könnten. Viele glauben übrigens auch, dass sie ihren Job gar nicht verdient haben. Sie fühlen sich ausgeschlossen, wie ein Hochstapler, der jederzeit auffliegen kann. Dafür gibt es mit dem Impostor-Syndrom einen Begriff. Wer sich so fühlt, kann nicht gut verhandeln.

Sie kommen aus einem Arbeiterhaushalt und haben heute einen Doktortitel. Haben Sie sich je so gefühlt?

Ja, immer wieder. Ich bin sehr dankbar, dass ich immer gute Mentorinnen und Mentoren hatte, die mir geholfen und mich beraten haben. Außerdem war ich sehr privilegiert, Begabtenstipendien zu erhalten, die mir vieles ermöglicht haben. Aber ich bin mit meinem Aufstieg aus einem Arbeiterhaushalt bis zur Promotion natürlich eine absolute Ausnahme, der Ausreißer in der Statistik.

"Arbeiterkinder sind belastbar und mutig"

Wurden Sie mal aufgrund Ihrer Herkunft diskriminiert?

Es gibt immer wieder Situationen, in denen mir auffällt, dass ich als soziale Aufsteigerin aus dem Raster falle. Beispielsweise, wenn ich zu einem Abendessen eingeladen bin und der Tisch mit so viel Besteck ausgestattet ist, dass ich überfordert bin. Ich musste als Erwachsene proaktiv lernen, mich ihnen anzupassen – fast wie eine Fremdsprache. Allein schon, weil ich nie gelernt habe, wann und zu welchem Gang man welches Messer benutzt. Oder wenn es in Gesprächen immer um den Skiurlaub, den Segeltrip oder die beste Golfanlage geht. Das sind Gewohnheiten und Lebensrealitäten, mit denen ich als Arbeiterkind schlichtweg nicht aufgewachsen bin.

Und wie werden Arbeiterkinder im Berufsalltag benachteiligt?

In der Regel dann, wenn es um Beförderungen geht. Oder darum, wer die wichtige Kundin betreuen oder den entscheidenden Auftrag übernehmen darf.

Unternehmen sollten gut bezahlte Praktika anbieten.
Aylin Karabulut

Was sollten Unternehmen tun, damit das nicht mehr vorkommt?

Erst einmal sollten sie damit anfangen, gut bezahlte Praktika anzubieten und auch genau zu prüfen, ob es für offene Stellen wirklich einen Hochschulabschluss braucht. Also nachdenken, ob es nicht auch andere Kompetenzen gibt, die wichtiger sind als ein formeller Abschluss, den viele Kinder aus Arbeiterhaushalten nicht bekommen. Dafür haben diejenigen Aufsteiger, die vielleicht den Bachelor schaffen, aber den Master nicht machen, viele Stärken, die noch viel zu selten berücksichtigt werden. Gerade, weil sie trotz Widerständen erfolgreich waren, haben sie besondere Fähigkeiten.

Zum Beispiel?

Sie sind belastbar und mutig, weil sie sich etwas getraut haben. Sie waren oft in ihrem Leben die Ersten. Die ersten Kinder aus der Familie, die studiert haben. Die ersten Arbeiterkinder, die bei ihrem Unternehmen einen Vertrag unterschrieben haben. Das zeigt, dass sie durchhalten und Hindernisse überwinden können. Andere haben solche Erfahrungen nicht gemacht.

Wie schafft man es, dass Unternehmen das auch so wahrnehmen?

Indem man Führungskräfte und Angestellte aus dem Personalbereich eines Unternehmens genau darin schult. Und indem man aufzeigt, wie viel Aufsteiger zum Erfolg einer Firma beitragen können. Unternehmen können in Zukunft nicht bestehen, wenn sie sich nicht divers aufstellen. Nicht nur, weil sie dann kein Personal mehr finden oder welches verlieren. Sondern auch, weil Arbeiterkinder neue Sichtweisen mitbringen, die der Firma guttun. Und sie gehören zur Zielgruppe für viele Produkte. Alle müssen verstehen: Aufsteiger einzustellen und zu fördern, bringt das ganze Unternehmen voran.

Wie können Personaler und Führungskräfte gezielt Arbeiterkinder anwerben?

Das ist natürlich nicht einfach, weil man Menschen ihre Herkunft in der Regel nicht ansehen kann. Aber es gibt Initiativen und Netzwerke für Arbeiterkinder, mit denen man kooperieren kann. Die vermitteln dann auch Menschen in Unternehmen. Und abgesehen davon braucht es ein sogenanntes privilegiensensibles Recruiting, also Personaler, die nach sozialen Aufsteigern suchen. Egal, ob auf LinkedIn oder in den Lebensläufen der Bewerberinnen und Bewerber.

"Vorgesetzte sollten ansprechen, dass sie soziale Aufsteiger fördern wollen."
Aylin Karabulut

Sollten Führungskräfte in Bewerbungsgesprächen also aktiv danach fragen, was die Eltern des Bewerbers beruflich gemacht haben?

Sie sollten zumindest ansprechen, dass sie soziale Aufsteiger fördern wollen und beispielsweise auf Initiativen oder Unterstützungsangebote im Unternehmen hinweisen. Das zeigt Bewerbenden, dass sie hier mit ihren besonderen Lebensrealitäten und Erfahrungen gesehen werden.

Was ist, wenn Menschen das nicht beantworten wollen?

Das ist ihr Recht, ja. Niemand sollte gezwungen werden, offenzulegen, aus welchem Haushalt er stammt. Aber wenn man offen darüber spricht, kann der Bewerber das thematisieren, wenn er will. Wichtig ist nur, dass schon in dem Verfahren klar wird, dass das Unternehmen divers ist und Erstakademiker auch sichtbar macht und fördert. Eigentlich braucht bei dem Fachkräftemangel heutzutage jedes Unternehmen eine Werbekampagne mit Angestellten, die Aufsteiger sind, und die vermittelt: Das sind unsere Heldinnen und Helden. Auch ihr könnt Teil davon werden.

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