Kolumne "Uni live": Über Arbeiterkinder und Ersthandwerker

Autor*innen
Leon Igel
Frau mit Brille deren eine Körperhälfte durch geometrische Formen verdeckt ist

Man kann die Sache mit der Bildungsgerechtigkeit auch rumdrehen: Warum machen Kinder aus Akademikerhaushalten eigentlich so selten eine Berufsausbildung? Die Antwort sagt viel über unsere Gesellschaft aus.

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Früher hätte ich nicht gedacht, dass ich einmal so weit komme: Ich habe meinen Masterabschluss in der Tasche. Für viele ist das nichts Besonderes, für mich aber schon. Meine Vorbilder als Kind waren Baggerfahrer, Handwerker und Sparkassen-Angestellte. Denn meine Eltern haben nicht studiert, und als sie meinen Zwillingsbruder und mich nach der Grundschule aufs Gymnasium schickten, hatten sie Magenschmerzen. Das sei doch nur etwas für die anderen, dachten sie. Sie haben es sich nicht leicht gemacht, doch am Ende vertrauten sie der Empfehlung unserer Grundschullehrerin: Die Jungs, die gehören aufs Gymnasium!

Unsere Lehrerin hat sich nicht geirrt: Wir sind jetzt Akademiker. Im Hochschuljargon nannte man die ersten Studierten einer Familie lange Zeit Arbeiterkinder, langsam setzt sich der Begriff "Erstakademiker" durch. Wie man es auch bezeichnen mag, noch immer ist es eine Besonderheit. Von 100 Grundschülern aus Arbeiterfamilien fangen gerade einmal 27 ein Studium an, nur elf davon verlassen die Uni mit einem Master-Diplom. Haben die Eltern studiert, sind es knapp viermal mehr. Das zeigen die aktuellen Zahlen des Hochschul-Bildungsreports 2020.

Nun kann man sich fragen, woher diese Unterschiede kommen. Warum Kinder seltener an die Uni gehen, wenn die Eltern nicht studiert haben? Die Gründe mögen vielfältig sein, ein Umstand fasst es aber zusammen: Bei der Bildungsgerechtigkeit hat Deutschland Nachholbedarf. Denn dass Arbeiterkinder weniger schlau oder begeistert oder fleißig sind als Kinder von Akademikern, das glaubt wohl niemand.

Eine Gesellschaft transformiert sich nicht in ihren Schreibstuben

Was folgt aus diesen Zahlen? Chancengerechtigkeit ist ein wichtiges Anliegen. Doch sollte man jetzt möglichst viele junge Menschen an die Uni pressen, damit auf dem Papier alle gleich sind? Quatsch! Mit Bildungsgerechtigkeit hat das nichts zu tun. Wenn wir das Konzept der Bildung ernst nehmen, ergibt sich daraus nur ein Auftrag: Unsere Gesellschaft sollte die bestmöglichen Rahmenbedingungen schaffen, damit sich junge Menschen nach ihren Fähigkeiten und Interessen entwickeln können. Und zwar egal, woher sie kommen – und wohin sie gehen möchten.

Mit seinen Universitäten, Hochschulen und der dualen Berufsausbildung hat Deutschland dafür ein gutes System geschaffen. Weil es auf die unterschiedlichen Erfordernisse und Wünsche der jungen Menschen eingeht. Es ist jetzt an der Zeit, dieses System von antiquierten Klassenvorstellungen zu lösen und es endlich als das zu begreifen, was es eigentlich ist: eine Befähigung, damit junge Menschen ins Leben starten können.

An der Uni denkt man nach. Punkt. Wer hier etwas Praktisches lernen möchte, wird scheitern. In einer Berufsausbildung lernt man hingegen die eigenen Hände kennen, dafür darf man sich das Lesen unverständlicher Texte sparen. Studium und Ausbildung sind verschieden. Aber das eine ist nicht besser oder schlechter als das andere. Das Hirn über die Hände zu stellen, war schon immer falsch. Und das wird kaum deutlicher als dieser Tage. Denn egal ob Corona, Energiekrise oder Klimawandel, eine Gesellschaft transformiert sich nicht in ihren Schreibstuben. Dafür braucht es schon mehr.

Haben Akademikerkinder alle zwei linke Hände?

Es ist gut, dass die Menschen jetzt über den Sinn und Zweck eines Studiums und der Berufsausbildung reden. Und das bleibt hoffentlich so. Denn den Sachverhalt der Ungleichheit kann man auch umdrehen. Wenn von 100 Akademikerkindern 79 studieren, während es bei den Arbeiterkindern nur 27 sind, kann man sich Folgendes fragen: Warum machen Kinder seltener eine Berufsausbildung, wenn ihre Eltern studiert haben? Auch darüber sollte man nachdenken. Denn dass Kinder aus Akademikerhaushalten alle handwerklich unbegabt oder faul oder zu verkopft sind, das glaubt wohl niemand.

Die Berufsausbildung hat ein Imageproblem, und viele verklären das Studium. Erst wenn man die öffentlichen Bilder davon geraderückt, haben die jungen Menschen eine wirkliche Wahlfreiheit. Damit sie sich für den Weg entscheiden können, der ihnen wirklich entspricht. Und dafür muss es egal sein, woher sie kommen. Weil weder Bücherregal noch Geldbeutel der Eltern über den Bildungsweg der Kinder entscheiden. Und weil sich unterm Weihnachtsbaum niemand mehr Kommentare anhören muss, warum er oder sie denn "nur" eine Ausbildung mache.

In meinem Fall war es so: Ich konnte nicht anders als an die Uni zu gehen. Als Kind habe ich gelesen und Geschichtsdokumentationen im Fernsehen auf Videokassette aufgenommen. Als meine Mutter am Ende meiner Grundschulzeit zum Infoabend des Gymnasiums ging, habe ich ihr eine Frage mitgegeben: Muss ich Latein in der Schule lernen, um einmal studieren zu können? Das hat sie dann gefragt. Jetzt mache ich mir Gedanken, wie ich mir eine Promotion finanzieren kann. Ich bin dankbar, in einer Gesellschaft zu leben, in der ich studieren darf. Doch bis die ihre jungen Menschen und deren Talente, die in alle möglichen Richtungen weisen können, wirklich ernst nimmt, gibt es noch viel zu tun.

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