Abschlussarbeit: Eine Abschlussarbeit ist keine Religion

Autor*innen
Leon Igel
Ein Mann hält einen riesigen Stift und kritzelt damit.

Viele Studierende glauben, für eine gute Abschlussarbeit müsste man ordentlich leiden. Klar, Schreiben ist anstrengend. Darüber hinaus sollte man es sich aber nicht so schwer machen.

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Wenn mich meine Freunde fragen, was es Neues bei mir gibt, dann antworte ich momentan: "Nichts!" Manchmal erzähle ich auch, was ich am Tag zuvor geschrieben habe, oder von der Freude, mit der ich festgestellt habe, dass meine wackelige These einfach nicht zusammenstürzt. Dabei schießen mir dann drei Tränchen in meine kurzsichtigen Germanisten-Augen, weil ich realisiere, wie langweilig mein Leben aktuell ist. Ich schreibe meine Masterarbeit. Sonst nichts.

Aufstehen, Kaffee, Schreibtisch, noch mehr Kaffee, ein paar Kopfschmerzen von zu viel Bildschirmzeit und irgendwann Feierabend. Dann ein bisschen Sport, essen, was man halt so macht. Am nächsten Tag geht es von vorne los. Am Wochenende lasse ich mein Gehirn in seiner dunklen Höhle unberührt liegen. Wolken gucken, Reportagen über glückliche Bio-Bauern oder Bier, erlaubt ist, was nicht akademisch ist.

Das liest sich zwar wie der Standardtag eines Standardbüroangestellten, einen Unterschied gibt es aber: Die Uhr tickt, die Zeit der Abschlussarbeit ist eine Ausnahmesituation. Zwischen Anmeldung und Abgabe der Arbeit kann kommen, was wolle, Krankmachen ist nicht. Schnupfen, der Tod des Hamsters oder eine Entführung durch Marsmenschen: alles egal. Hinzu kommt: Zu den vielen Monaten harter Arbeit unter Zeitdruck gesellen sich Selbstzweifel, dass die eigene Leistung nicht ausreicht und die Arbeit schlecht bewertet wird.

Die "Mastermind-Gruppe" ist keine gute Idee

Das Schlimmste aber ist: das permanente Schreiben. Lesen von Fachliteratur und Denken sind anspruchsvoll, doch Schreiben noch viel mehr. Denn gut nachgedacht ist noch lange nicht halb geschrieben. Sobald man einen glasklar geglaubten Gedanken zu Papier bringen will, sendet das Gehirn plötzlich nur noch Erinnerungen an 1001 Katzenvideos oder anderen Mist. Dann muss man sich konzentrieren: Was genau will ich eigentlich sagen? Schreiben heißt, seine Gedanken aus dem Wirrwarr des Kopfes herauszuarbeiten. Und weil das anstrengend ist, schaut man zur Beruhigung noch mehr Katzenvideos. Was nur alles schlimmer macht.

Der Professorin geht es da nicht anders als dem Ersti, die Leiderfahrung des Schreibens vereint alle. Nur, dass die Professorin vielleicht kein Instagram für hochwertigen Cat-Content hat? Google und Social Cat Media sei Dank bekomme ich jetzt zumindest immer Werbung für teure Online-Schreibkurse angezeigt und für Videos à la "10 Dinge, die Du für eine 1.0-Masterarbeit tun musst". Doch wenn ich mir das anschaue, läuft mir vor Entsetzen der Kaffee aus dem Mund.

Das Grundproblem der meisten Schreibcoach-Videos ist, dass sie das Schreiben als heilige Passion verklären. Ihre Logik: Wenn du nur in allen Lebensbereichen genügend auf dich nimmst und reichlich leidest, wirst du mit einer guten Note belohnt. So funktioniert das aber nicht. Denn man kann noch so viel Studentenfutter fressen, sich beim Yoga verrenken und auf Spaß verzichten – wenn die Abschlussarbeit ihr Thema nicht richtig aufarbeitet, dann ist sie eben schlecht. Auch Ideen, wie eine "Mastermind-Gruppe" an der Uni zu gründen, um mit Kommilitonen das richtige "Mindset" zu entwickeln und sich gegenseitig am eigenen Leid aufzugeilen, hören sich nach einer gewissen Logik vielleicht naheliegend an. Sie lösen aber kein einziges Problem. Eine Abschlussarbeit ist keine Religion. An das Gute zu glauben und erfolgreiche CEOs mit Studienabschluss als Vorbilder zu erwählen, bringt der Arbeit nichts. Der hilft etwas anderes viel mehr: hinsetzen, denken, schreiben.

Hauptsache: runterschreiben!

Wer das akzeptiert und einfach anfängt, ist auf dem besten Weg zum Abschluss. Um den etwas leichter zu gestalten, gibt es an den Universitäten Schreibberatungen, die im Gegensatz zu den sozialen Medien nicht das Blaue vom Himmel versprechen, sondern bodenständige Ratschläge geben. So überraschend sind die zwar nicht, aber manchmal muss man etwas von jemandem mit Expertise hören, bis man es glaubt – auch wenn man es nicht hören will. Also ruhig mal zur Schreibberatung gehen! Als ich meine an der Uni Mannheim besuche, macht Jessica Kaiser schnell klar: Eine Zauberformel, mit der eine wissenschaftliche Arbeit zum Kinderspiel wird, gibt es nicht. Meine Rede. "Schreiben ist harte Arbeit, die man nicht einfach weg hexen kann", sagt die Schreibberaterin. Sie kennt also auch kein Wunderrezept.

Ein paar Tipps hat Kaiser aber, die im Grunde auf Ordnung und Selbstdisziplin hinauslaufen. Die sind das halbe Leben, sagte meine Oma schon immer. Ein fester Zeitplan mit Meilensteinen verhindere, sich zu verzetteln. Besonders leicht falle das Schreiben, wenn man eine Routine dafür etabliert hat. "Was muss ich tun, damit ich in einen Schreib-Flow komme?", gibt Kaiser als Leitfrage mit auf den Weg, die jeder individuell beantworten muss. Ebenso gut sei es, sich regelmäßig auf den Boden der Tatsachen zu begeben und Feedback einzuholen. Wenn den eigenen Text niemand versteht, weiß man, dass man ihn lieber überarbeiten sollte.

Perfekt müsse ein Text aber nicht sein, findet Kaiser. Sie empfiehlt, zunächst bewusst unperfekt zu schreiben. Hauptsache: runterschreiben! Der rote Faden der Argumentation sei erst einmal das wichtigste, Stilfragen ließen sich in einem zweiten Schritt klären. "Sich an Formulierungen festbeißen, schafft Frust", sagt Kaiser. Mein innerer Perfektionist hört das zwar gar nicht gerne, aber es leuchtet ein. Je mehr man das Schreiben mit all seinen Schattenseiten akzeptiert, desto leichter geht es. Je weniger man es selbst beweihräuchert, desto mehr Zeit hat man für das Wesentliche. Also ran an die Tasten! Damit ich mich fokussieren kann, lege ich beim Schreiben übrigens das Handy weg: Keine Katzenvideos, keine heilsversprechende Social-Media-Werbung und niemand, bei dem ich mich beklagen kann. Nur die Tastatur, mein Kopf und ich. Wie produktiv ist das denn?!

Leon Igel (26 Jahre alt) studiert an der Uni Mannheim Germanistik und BWL im Master, dabei beschäftigt er sich weniger mit Goethe, dafür umso mehr mit Christoph Schlingensief. Wenn ihm das zu bunt wird, fährt er zu seinen Eltern und hackt Holz. Oder backt Brot. Corona sei Dank kann er das jetzt auch.

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