Coworking-Trend: Die neuen Chefs
- Laura Binder

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Was machen sie anders?

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Schwerpunkt der aktuellen Ausgabe: Lernen ohne Stress
Business-Flair: In Sesseln hängende Menschen telefonieren, an jeder Tür klebt ein anderes Firmenlogo. Man könnte denken, man sei irgendwo im Silicon Valley, aber das hier ist Berlin, ein Coworking-Space in Schöneberg.
Eines der Firmenlogos gehört Léonie Rivière, 30. In der Küche liest sie die Bedienungsanleitung des Kaffeeautomaten, um einen Cappuccino anzubieten. "Mal gucken, ob das jetzt funktioniert", sagt sie. "Ich trinke keinen Kaffee, keinen Tee und keine Energydrinks." Sie schmecken ihr nicht. Dabei könnte man bei ihrem Arbeitspensum eine Extraportion Koffein vermuten.
Léonie ist CEO des Neobrokers Fina, einer Investment-App, die verspricht, jungen Menschen zu erklären, wie sie mit Aktien, ETFs und Fonds handeln und deren Transaktionen abwickelt.
Seit der Gründung im August 2020 ist Fina gewachsen, heute arbeiten zwölf Angestellte für das Start-up. Sie sind 24 bis 38 Jahre alt, Teil der Gen Z und Y. "Ich sehe mich nicht als Chefin im klassischen Sinn. Ich bin zwar verantwortlich, aber wir sind ein Team", sagt Léonie.
Junge Menschen wie sie werden bis 2030 die Mehrheit am Arbeitsmarkt sein. So steht es in der globalen Studie Randstad workmonitor 2022, die rund 35.000 Menschen aus 34 Ländern befragte. Wenn die Generation Boomer in Rente geht, werden auch viele Chefsessel frei. Doch was den jungen Menschen bei der Arbeit wichtig ist, scheint nicht mehr so richtig zum Chef-Sein zu passen: 56 Prozent der Gen Z und 55 Prozent der befragten Millennials würden für ein erfülltes Leben kündigen, wenn die Arbeit sie daran hindere. Ohne die Chance auf Work-Life-Balance würden die meisten heute keine Stelle mehr annehmen, fand eine Studie der Uni Bamberg heraus. Führungskraft und pünktlich Feierabend? Eigentlich ausgeschlossen.
Unweit von Léonie arbeitet Alexander Weber, 29, bei der Onlinebank N26 in Berlin-Mitte. Beide waren auf der "30 unter 30"-Liste des Wirtschaftsmagazins Forbes, das spannende Menschen unter dreißig Jahren auszeichnet. Sie wollen eine neue Generation Chef sein: In ihren Finanzunternehmen duzt man sich und arbeitet flexibel aus dem Homeoffice. Es gibt Feierabendbiere und Limo, und die Hierarchien sollen möglichst flach sein. Doch was machen die jungen Chef:innen wirklich anders?
An einem Dienstagvormittag Anfang Oktober öffnet Léonie die Tür zu ihrer Firmenzentrale: ein fensterloser Raum mit Schreibtischen. Etwa sechs Personen können in diesem 28 Quadratmeter großen Raum an zusammengeschobenen Schreibtischen arbeiten. Niemand ist da.
"New Work heißt für mich, dass nicht alle am selben Ort sein müssen", sagt Léonie. Manche arbeiten aus dem Homeoffice in Berlin, andere aus Amsterdam oder Lissabon – oder Zürich, wie ihr Mitgründer Tim Oliver Pietsch. Sie haben ein Hot Desk-Prinzip: Jede:r sitzt da, wo was frei ist. Auch die CEO.
Wie ist sie dahin gekommen? Léonie wurde in Paris geboren und wuchs in München nahe der Theresienwiese auf. Sie wurde vorzeitig eingeschult, machte mit 16 Jahren G8-Abitur und schrieb sich mit 17 an der LMU für Politikwissenschaft ein. Im Studium gründete sie das erste Mal mit einem Freund: Sie wollten eine App rausbringen, die Geolocations nutzt, damit Leute sich für Drinks treffen können. Die Idee floppte.
Kurz darauf nahm sie über die Technische Universität München an einem Entrepreneurship-Programm teil. Im Master studierte sie am Oxford Internet Institute eine Verbindung aus Soziologie und Datenwissenschaften. Ihre erste Anstellung bekam sie dann 2019 beim Unternehmen Visionaries Club, einem Venturecapital-Fonds in Berlin, der Start-ups finanziell fördert.
Bei der Arbeit lernte sie Tim kennen, und sie entwickelten die Idee zu Fina. "Wir wollen Finanzwissen inklusiv gestalten", sagt Léonie. Tipps gebe es überall, doch die Scheu, sich ein Depot einzurichten, sei bei vielen immer noch groß. Besonders junge Frauen würden oft nicht wissen, dass es sich schon lohnen würde, kleine Beträge zu investieren. Deshalb soll Fina beides kombinieren: Depots und Informationen. Zum Beispiel mit Erklärvideos, für die sie eine ihrer Investor:innen, Diana zur Löwen, filmten. "Mit Töchtern wird selten über Geld gesprochen", sagt Léonie. "Ich weiß bis heute nicht, was meine Eltern eigentlich verdienen. Oder ob sie Geld angelegt haben."
Das überzeugte auch die Investor:innen, so wie Tier-Gründer Lawrence Leuschner oder HelloFresh-Chef Dominik Richter. Sie sammelten zweieinhalb Millionen Euro ein. Der Druck, erfolgreich zu werden, ist also groß.
Und wie sieht es denn nun aus mit der Work-Life-Balance? Léonie arbeite bis zu 65 Stunden in der Woche. "Ich sehe Work-Life-Balance nicht auf die Woche verteilt, sondern auf mein ganzes Leben", sagt Léonie. Entgegen gängiger Start-up-Klischees sollen bei Fina aber keine Mitarbeitenden bis nachts Zahlen in Excel-Tabellen rumschieben. "Wir wollen keine Workaholic-Mentalität", sagt Léonie. Alle würden auf Vertrauensbasis arbeiten. "Mir ist es egal, wenn meine Mitarbeitenden mittags zwei Stunden mit dem Hund spazieren gehen", sagt Léonie. Ihr sei es außerdem wichtig, Leute darin zu bestärken, Eigenverantwortung zu übernehmen. Für den Zusammenhalt im Team hätten sie täglich Videocalls, und in Slack-Channels tauschen die Mitarbeitenden sich auch über Essen, Memes oder Serien aus.
Obwohl Mitarbeitende ihre Termine bei Therapeut:innen in ihren Arbeitskalender eintragen, sei ihr eine professionelle Distanz wichtig. "Ich bin keine Freundin von: Wir sind alle eine Familie", sagt Léonie. "Wenn man als Führungskraft Mitarbeitende auf diese emotionale Ebene pusht, ist das schnell übergriffig." Sie kenne genug Start-ups, die Mitarbeitende für Profite ausbeuten und ans Limit bringen würden, um ihre Investor:innen glücklich zu machen.
"Wir brauchen Leute, für die Veränderung kein Pain ist"
Nur ein paar Stadtteile entfernt arbeitet Alexander Weber bei der Onlinebank N26. Er ist vom Praktikanten zum "Chief" aufgestiegen.
Alexander Weber
29, studierte an der WU in Wien Wirtschaft.
In der vierten Etage in Berlin-Mitte trinken Mitarbeitende an einem Mittwochabend im Oktober schon Feierabendbiere in der Kaffeeküche, während ein junger Mann in Jeans und Polohemd den Konferenzraum betritt. Seine Mitarbeitenden nennen ihn "Alex", er selbst stellt sich als "Chief Growth Officer" vor, verantwortlich für Marketing und die Expansion der Bank in globale Märkte.
Seit 2019 ist er an der Spitze seiner Abteilung – und das dienstälteste Teammitglied von rund 1.500 Mitarbeitenden, die an zehn Standorten arbeiten, darunter Barcelona und Berlin. Alexander studierte Wirtschaft an der WU in Wien, wo er auch aufwuchs, und machte ein Auslandssemester in Sydney. Dort lernte er, was ein Start-up ist. Im Studium war er im Top-League-Förderprogramm für Studierende mit sehr guten Noten, die viel Engagement zeigen, und knüpfte erste Kontakte in die Wirtschaft. "In diesem Programm traf ich einige meiner besten Freund:innen", sagt Alexander. So erfuhr er auch vom Praktikum bei N26 und war 2014, ein Jahr nach der Gründung, Entrepreneur in Residence.
Zu der Zeit bestand das N26-Team neben den Gründern aus fünf Leuten und trat an, um die Finanzbranche digital zu revolutionieren. Damals arbeitete das Team in einer etwa 100 Quadratmeter großen Wohnung in Berlin, Adresse: Unter den Linden 26. Die Hausnummer wurde zum Namensgeber. Alexander wusste schon früh, dass er Wirtschaft mitgestalten möchte.
Heute als Führungskraft kann er das. Sein Tag ist straff getaktet, dreißig Minuten hat er für dieses Interview. Er schaut auf die Uhr: "Ich habe keinen harten Anschlag, wir können auch acht Minuten dranhängen."
Energiegeladen spricht er über seine Entwicklung, seine Beförderungen und sein größtes Projekt: Als Head of International Markets war er 2016 dafür mitverantwortlich, dass N26 eine Banklizenz bekam. Als dann der Brief mit der behördlichen Genehmigung eintraf, feierte das Team eine große Party, denn erst damit konnte die Bank richtig starten.
Wirtschaftsblätter wie Finance Forward nennen ihn "einen Vertrauten der beiden Gründer". Jemand, der mit 26 Jahren schon ein "C-Level", also die oberste Ebene einer Managementposition, erreicht hat. "Mein Impact wurde Jahr zu Jahr überproportional höher", sagt Alexander. Mit jedem neuen Prozess stieg sein Wille, noch besser zu werden. "Ich habe eine starke Ansicht, was Langfristigkeit und Disziplin angeht", sagt er. Das komme aus dem Leistungssport. Als Jugendlicher war er im österreichischen Schwimmnationalteam.
Heute arbeiten unter ihm rund 130 Mitarbeitende im Bereich Marketing und Expansion. Wie greifbar er für die ist? "Ich kenne von allen den Namen", sagt Alexander. Er versuche, regelmäßige Teamevents zu organisieren, wie Bowlen oder Dinner. Gute Führung bedeute für ihn, Mitarbeitende zu "enablen": Ressourcen geben, wie Budgets und Tools, das passende Team zu ordnen und erreichbare Ziele zu setzen. "Die persönliche und professionelle Entwicklung deiner Leute ist deine Verantwortung", sagt er. "Das braucht gute Planung. Klingt einfach, ist aber schwierig."
Zur Planung gehört auch, viele Bewerbungen zu sichten: Nur ein Prozent aller Bewerber:innen komme infrage. Alexander sagt, er suche vor allem Menschen mit dem richtigen "Mindset": die anpassungsfähig, flexibel und offen sind. "Wir bei N26 sind innovativ und verändern uns ständig. Wir brauchen Leute, für die Veränderung kein pain ist", sagt er.
Alexander steht jeden Tag um sechs Uhr morgens auf und macht Kraft- und Cardiotraining. "Die ersten Stunden des Tages gehören mir", sagt er. Meetings habe er nie vor zehn Uhr. Nach etwa elf Stunden Arbeit gehe er unter der Woche abends um 22 Uhr schlafen. Work-Life-Balance bedeutet für ihn: am Wochenende überhaupt nicht mehr zu arbeiten.
"Viele junge Leute hoppen von Arbeitgeber:in zu Arbeitgeber:in", sagt er. Wer ständig wechsele, könne viel lernen, aber um in etwas besonders gut zu werden, müsse man sich fokussieren. "Es geht nicht unbedingt um Loyalität gegenüber einem Unternehmen, sondern um Disziplin." Man müsse nicht, wie die Großeltern, nur einem Arbeitgeber ein Leben lang treu bleiben, aber man müsse sich die Zeit nehmen, wenn man sich weiterentwickeln und Verantwortung übernehmen wolle.
Alexander spricht fröhlich gestikulierend über Finanzmärkte und Marketing, über "Big Pictures" und "Pushs". Aber an ihm geht nicht vorbei, dass einige junge Menschen größere Sorgen haben, als sich um wirtschaftlichen Erfolg zu kümmern. Climate-Anxiety, Mental Health, Angst, in Zeiten von Inflation und Krise. "Ich glaube, wir sind keine nihilistische Generation, aber viele stellen eigene Bedürfnisse stark nach oben. Für viele Karrierewege ist harte, intensive Arbeit nach wie vor unumgänglich." Nach mehr als acht Jahren bei N26 spricht er aus Erfahrung und klingt dabei selbst wie ein Boomer: "Mit einem Nine-to-five-Mindset schafft man es nicht, zum nächsten Daniel Ek", sagt er und meint den Spotify-CEO.
Irgendwann kann Alexander sich vorstellen, auch etwas eigenes zu gründen. "Es gibt drei Bereiche, für die man Technik gut nutzen könnte und sollte: Klima, Gesundheit, körperlich wie mental, und Bildung", sagt er.
Alexander Weber und Léonie Rivière, zwei junge Führungskräfte, die empathisch und empowernd sein wollen, die eine Generation führen, die mehr Life und weniger Work möchte – und die doch als Chefs mehr Work als Life haben.
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