Karrierefalle Gutmütigkeit: Schamlos ausgenutzt

Autor*innen
Ursula Kals
Geschäftsmann läuft auf Ziel zu

Gutmütig sein – das klingt nach einer netten Eigenschaft. Doch wer im Berufsalltag immer wieder zu nett ist, bemerkt oft: Das ist ein Karrierekiller.

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Mark, kannst du das bitte übernehmen? Mark, der Kunde braucht das ausgearbeitete Konzept morgen. Schaffst du doch?! Oh, das ist eine kurze Arbeitswoche, ich bin dann mal weg, du kannst doch sicher einspringen." Und Mark, der hier verständlicherweise ohne Nachnamen erscheint, schrubbt Überstunden und übernimmt. Weniger gefragt ist der ITler, wenn es um prestigeträchtige Projekte oder eine Fortbildung mit Aussicht auf einen Karrieresprung geht. "Wenn Weiterbildungen und Beförderungen ohne sie laufen, sind das Anzeichen, an denen Mitarbeiter merken, dass sie möglicherweise zu nett sind", sagt Ute Bölke. Die Karriereberaterin und Diplombetriebswirtin aus Wiesbaden berät Menschen, die arglos in die Nettigkeitsfalle tappen und dann feststellen, wie sie sich selbst damit torpedieren und anderen das Feld bereiten. Mark hat das nach frustrierten Monaten gemerkt und sagt seitdem häufiger Nein. "Das hat mich Überwindung gekostet. Man sah Kollegen regelrecht an, dass sie dachten: Was ist denn plötzlich mit dem los?" Er hat das Gefühl ausgehalten, nicht mehr so gemocht zu werden. "Das ging vorüber, insgesamt habe ich mir mehr Respekt verschafft."

In der Berufswelt gibt es viele, denen es geht wie Mark. Ihnen spielt die Gutmütigkeit einen Streich. "Das bedeutet, dass sich Menschen breitschlagen lassen, unerfreuliche Schwarzbrotarbeit zu machen, während andere sich bei der Aufgabenzuteilung wegducken und schweigen. Wer das Schweigen nicht aushalten kann, der hat das Nachsehen", sagt Kristine Qualen, Unternehmensberaterin aus Hamburg. "Oft sind das Aufgaben, mit denen man sich nach außen hin nicht gut darstellen oder profilieren kann. Spätestens an der Stelle rächt sich Gutmütigkeit."

Verträglichkeit ist wichtig

Gutmütigkeit ist eine der Hauptdimensionen in gängigen Persönlichkeitsmodellen, sagt Daniel Leising, "heißt dann aber Verträglichkeit". Der Psychologieprofessor an der TU Dresden forscht über Personenbeurteilung. Er erklärt: "Der Faktor Verträglichkeit ist zum Beispiel sehr wichtig und macht Sinn beim Kennenlernen. Beide müssen schnell ein Bild erhalten, wie gut sie mit dem anderen klar- oder sich mit ihm in die Quere kommen. Den darf ich an mich ranlassen, mit dem kann ich weiter umgehen, vor dem muss ich nicht weglaufen." Kooperativ zu sein, sieht er erst mal als Stärke. "Je weniger hierarchisch das läuft, je verträglicher, ohne groß querzuschießen, desto erfolgreicher kann das sein. Das wird wichtiger für die Arbeitswelt und hat eine Menge mit Vertrauen und Vertrauenswürdigkeit zu tun."

Verträglichkeit ist also grundsätzlich ein hoher ethischer Wert, evolutionsbiologisch sicherte sie sogar das Überleben. Sie kann aber zum Karrierekiller werden, wenn man es damit übertreibt. "Denn man bleibt unsichtbar", sagt Psychologin Kristine Qualen. Das verhindert ein Weiterkommen und ist eines der Motive, die Menschen veranlasst, ein Souveränitätstraining bei Carolina von Wittken zu buchen. Während Frauen sich oft zu sehr mit ihrem "inneren Kritiker identifizieren" und sich zu sehr von ihren Schwächen bestimmen lassen, kommen Männer aus anderen Motiven zu den Kursen der Kommunikationswirtin. "Männern wird von Vorgesetzten gesagt: Du musst sichtbar werden." Ein anderer Beweggrund in Großunternehmen sei die Erfahrung: "Andere, die weniger kompetent sind, ziehen an mir vorbei." Die Trainerin aus Germering bei München findet, daass Gutmütigkeit grundsätzlich eine positive Eigenschaft ist, die aber nicht verhindern sollte, "an den richtigen Stellen die richtigen Signale zu senden". Nach ihrer Wahrnehmung betrifft es häufiger Frauen, die sich "kleinmachen und für die Gruppe opfern". Etwa, wenn sie die Urlaubsplanung für ihre Abteilung machen, alle Eventualitäten einbringen, "obwohl sie intellektuell wissen, sie können es nicht jedem recht machen, und selbst zurückstecken".

Rollenwechsel sind schwierig

Beim Wunschurlaubstermin den Kürzeren zu ziehen mag noch harmlos sein. Bei der Beförderung immer wieder übergangen zu werden schmerzt mehr. Besonders Frauen holen sich dann Rat bei Organisationspsychologin Kristine Qualen. "Ich stelle häufig fest, wenn Frauen erste Führungspositionen in einem angestammten Team bekommen, dass der Rollenwechsel schwierig ist. Ihnen fällt schwer, Kritik anzubringen – wir kennen uns alle so gut, was denken die, wenn ich nicht mehr die Nette bin?" Die Entwicklung gehe zwar in die Richtung, "dass junge Frauen stärker auftreten, tougher sind". Aber auch die Jüngeren werden vorstellig, um sich besser durchsetzen zu können. Neulich beriet Qualen zum Beispiel Mitarbeiterinnen eines Unternehmens für Wohnungsbau mit hohem Akademisierungsgrad und großer Heterogenität. "Das ist in Richtung Diversity super, aber es braucht ein Verhaltensrepertoire, um Diskussionen zu steuern, Themen zu setzen, Positionen gegen Widerstände zu verteidigen und nicht einzuknicken." Wer da zu gutmütig sei oder wirke, werde überhört oder überstimmt. Oft helfe es schon, sich "adressatengerecht, kernig und rustikal zu äußern – ohne schlechtes Gewissen".

Sich bei aller Hilfsbereitschaft frühzeitig abgrenzen zu können ist geboten, weil sonst Explosionsgefahr droht. "Diejenigen, die das nicht hinkriegen, haben einen deutlich ansteigenden Stresspegel. Ein Dampfkessel entsteht. Ungute Gefühle, die man im Inneren beschönigt, entladen sich. Wenn man dann tierisch sauer reagiert, gerät man in eine komische Schublade und gilt als unberechenbar", warnt Qualen. Auch Ute Bölke betont: "Wenn ich merke, ich werde ausgenutzt, warte ich nicht, bis mir der Kragen platzt." Sie hat den Tipp, sich alternativ Verhalten von Kollegen abzuschauen: "Wie grenzen die sich ab, was machen die anders? Die kommen pünktlich heim und werden schneller befördert." Nützt der Blick auf deren Strategien nicht, hilft ein Mentor oder eine professionelle Gesprächsbegleitung. Sie hat das aus eigener Erfahrung gelernt. Sie sollte einen wichtigen Termin übernehmen und war froh, vorher aus Interesse mit einem Vertriebler mitgegangen zu sein. "Ich wusste, ich muss anders auftreten, bin nicht der Berater, sondern derjenige, der einen Deal erfolgreich abschließt. Dann trete ich anders auf und rede mit anderem Vokabular."

Übermäßig gutmütig zu sein ist undankbar. Kristine Qualen desillusioniert: "Gutmütigkeit ist wichtig für den Teamzusammenhalt. Aber was Menschen in ihrer Gutmütigkeit alles tun, wird selten explizit gewürdigt. Sie sind ein bisschen Manövriermasse, retten Situationen, bekommen dafür wenig Anerkennung." Psychologe Leising zitiert den Spruch, "nice guys finish last" – die netten Jungs kommen als Letzte ins Ziel. Coach Ute Bölke sieht es ganz ähnlich: "Führungskräfte, die mit reiner Gutmütigkeit die Karriereleiter erklettert haben, kann ich an einer Hand abzählen." Eine weitere Beobachtung: "Gutmütige werden nicht nach ihrem Standpunkt gefragt", sagt sie.

Carolina von Wittken erlebt Frauen wie Männer, die sich aus falsch verstandener Loyalität und aus der Haltung heraus, dem Chef gegenüber bloß keine Schwäche zu zeigen, zu viele Aufgaben aufhalsen lassen. "Eine erfolgversprechende Denkweise für beide Geschlechter besteht aber darin, zu sagen: Ich weiß, was ich will, wie komme ich dahin?"

Ohne gelegentlichen Widerspruch, unangenehme Begegnungen und offen ausgetragene Interessenskonflikte läuft es im Arbeitsleben selten. Die 100-Prozent-Gutmütigen ignorieren das jedoch beharrlich. Wissenschaftler Leising beschreibt, wie sich Verträglichkeit äußert. "Leute, die darin hohe Werte haben, gelten als nachsichtig, milde, tolerant, bescheiden, umgänglich bis hin zu konfliktscheu und zu der Haltung, dass es jemand gar nicht aushält, mit anderen nicht einer Meinung zu sein. Sie sind in der Regel bereit, sich unterzuordnen, das mitzumachen, was die anderen wollen, und werden von den meisten als harmlos wahrgenommen."

Gutmütigkeit kritisch hinterfragen

Ute Bölke hat lange als Beraterin im Personalmanagement für ein amerikanisches Unternehmen gearbeitet und hinterfragt große Angepasstheit: "Warum will jemand nett sein und ist stromlinienförmig unterwegs? Verbirgt sich dahinter auch ein Schutzmechanismus, will jemand nicht als Erstes gesehen werden, zahlt dafür den Preis, sich zu viel gefallen zu lassen, um nicht in Konflikte zu gehen?" Stete Gutmütigkeit kann Misstrauen provozieren. Besonders dann, wenn Menschen sogar auf ruppige Ansagen oder heftige, unberechtigte Kritik so freundlich wie immer antworten und zu sehr zeigen: "Ich bin kontrolliert, habe dann aber vielleicht zu Hause einen Tobsuchtsanfall." Ute Bölke formuliert die unschöne Wirkung: "Damit vermittele ich: Ich bin gut zu führen." Für viele dürfte das ein unangenehmer bis verstörender Gedanke sein.

Wer aber in Führung gehen möchte, der kann durchaus Ecken und Kanten zeigen. Ute Bölke legt Wert darauf, anderen freundlich, aber bestimmt gegenüberzutreten. Vom Gabelstaplerfahrer bis zum Vorstandsvorsitzenden eines Dax-Unternehmens coacht sie die unterschiedlichsten Menschen aus den verschiedensten Berufsgruppen. "Aber es ist bestimmt nicht meine Mission, von allen als nett wahrgenommen zu werden. Dann würde ich denken, ich habe etwas falsch gemacht."

Gutmütigkeit kritisch zu hinterfragen ist also anzuraten. Kristine Qualen sagt: "Wenn ich über Gutmütigkeit für mich das Gefühl speise, wichtig zu sein, dann ist die Gutmütigkeit als einziger Weg eine sehr einseitige Anstrengung." Günstiger für die Karriere sei es, nicht nur wichtig genommen zu werden, weil man anderen aus einem Engpass heraushilft, sondern durch Fachlichkeit, Federführung bei einem Thema und aufgrund inhaltlicher Kompetenzen. Es ist ein trauriger Klassiker, dass Menschen gerade in Pflegeberufen in die Nettigkeitsfalle tappen. Hier neigen überproportional viele Menschen dazu, sich über die Grenzen der eigenen Gesundheit hinaus zu strapazieren.

Ist Gutmütigkeit eigentlich angeboren?

Leising hält das für "eine der Kernfragen der Psychologie". Es gebe eine starke Fraktion in der Persönlichkeitspsychologie, die sagt, ein erheblicher Teil der Unterschiede zwischen Menschen sei genetisch bedingt. "Deren Studien zeigen: Der Erbanteil ist groß. Bei der Verträglichkeit liegt das oberhalb von 40 Prozent." Auf jeden Fall spiele die Erziehung aber auch eine Rolle. "Ich antworte da mal als Mensch, nicht als Wissenschaftler. Sie können ein Kind disziplinieren durch Schuldgefühle, sodass es sich zurücknimmt. Das ist aber etwas anderes als eine innere Haltung. Sie können unauthentisch verträglich sein."

Ute Bölke findet, dass gerade die von Natur aus Netten aufpassen müssen, keine leichte Beute zu werden. "In der Arbeitswelt kann es wie im Raubtiergehege zugehen. Dann muss ich mit meiner Vertrauensseligkeit auf Distanz gehen und, wenn ich zu gutmütig bin, aus meiner Komfortzone der Nettigkeit herauskommen." Ganz besonders, wenn in der Chefetage ein manipulativer, unempathischer Narzisst agiert, der ohne Rücksicht auf Verluste handelt und die Widerspruchslosen opfert. Betrifft diese Angepasstheit ein ganzes Team, in dem sich keiner traut, aufzustehen, wenn es zum Beispiel in eine ethisch fragwürdige Richtung geht, "kann das zu gefährlicher Konformität führen", sagt Leising.

Es geht also darum, die Balance zu finden, sich selbst wichtig zu nehmen, aber kooperativ zu bleiben. Kristine Qualen skizziert einen Schritt in Richtung Selbstbehauptung: "Anerkennung einfordern und die eigene Gutmütigkeit nicht als Freifahrschein anderen zur Verfügung stellen. Sagen: Ich helfe gern, ich zeige dir, wie dieses Programm flotter funktioniert, aber du musst dich nach mir richten. Ich bin nicht die zweibeinige Auskunft oder Hotline und habe auch ein Tagesgeschäft. Also akzeptiere meine Rahmenbedingungen!"

"Lernen, Nein zu sagen"

Auch Carolina von Wittken sagt, es bestehe oft ein Kommunikationsproblem. Sie rät, Interessenskonflikte direkt anzusprechen statt zu verklausulieren. Zum Beispiel zu sagen: "Max, würdest du Protokoll schreiben, letztes Mal habe ich das gemacht." Und wenn Max sagt, er habe keine Zeit, dann beharrlich den Nächsten fragen. Das lässt sich im Alltag trainieren. Von Wittken nennt als Beispiel den Armlehnenkonflikt im Flugzeug, eingekeilt zwischen Geschäftsleuten auf dem unbeliebten Mittelplatz. Sie spricht das aktiv an und sagt: "Sind Sie so nett, mir die Armlehne abzutreten? Wir sollten lernen, Dinge zu verhandeln, bevor wir sauer sind. also nicht erst sauer sein, dann den Vorwurf machen."

Was Gutmütigen auf jeden Fall hilft: sich das reflexhafte Jasagen zu verkneifen und öfter mal sachlich Nein zu sagen. Zum Beispiel mit einer ebenso nützlichen wie "absolut sozial verträglichen" Aufschub-Phrase, erklärt Qualen: "Darüber möchte ich noch nachdenken, zusagen kann ich noch nicht." Selbst bei diesem Satz hätten manche das Gefühl, "ein Kollegenschwein zu sein", weil es so ungewohnt ist. Deshalb empfiehlt sie, solche kleinen Stegreif-Situationen zu üben, sie mit der Diktierfunktion des Handys aufzuzeichnen und sich anzuhören. "Dann kriegen Sie mit, ob das ein zu defensiver Unterton ist, ob die Sätze zu lang und zu entschuldigend sind." Das auszuprobieren sei einen Versuch wert. "Ich behaupte, 99 Prozent aller Menschen stellen fest, es ist etwas Normales, Nein zu sagen." In Grenzen könne man das trainieren, sagt auch Daniel Leising: "Es ist harte Arbeit, sich anzutrainieren, die Ellbogen auszufahren. Die besonders Gutmütigen sind die besonders Ausnutzbaren und haben oft enorme Angst davor, sich abzugrenzen."

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