Digitalisierung der deutschen Wirtschaft: "Homeoffice ist der neue Dienstwagen"
- Christian Schlesiger

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Die Coronakrise hat die deutsche Wirtschaft über Nacht digitalisiert – und könnte im Nachgang gar den Fachkräftemangel von Unternehmen lindern.

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Rainer Gläß hat eigentlich alles, was einen erfolgreichen Unternehmer ausmacht. Ein gut laufendes Softwarehaus, eine tolle Zentrale – und zufriedene Mitarbeiter. Nur die Rekrutierung von Top-Leuten sei für ihn immer wieder "eine echte Herausforderung" gewesen. Seine Firma GK Software sitzt in Schöneck im Vogtland nahe Tschechien – eine Idylle mit nahe gelegenen Burgen und Bergen. Für Softwareentwickler aber nicht unbedingt "the place to be".
Seit Corona hat sich aber einiges verändert – "zum Guten", wie Gläß sagt. Schon immer war Gläß ein Freund des Fortschritts, buchte Büros für seine Mitarbeiter in Metropolen, damit die nicht rund um die Uhr in Schöneck arbeiten müssen. "Aber jetzt merken wir, dass wir unseren Suchradius nach guten Leuten deutlich erweitern können, weit über die Grenzen hinaus", sagt Gläß. "Ich muss mir keine Gedanken mehr machen, wo jemand sitzt. Im Vordergrund stehen die Kompetenzen, die 'Skills'."
Die Pandemie hat die deutsche Wirtschaft nachhaltig verändert – und zeigt sich im Nachgang auch von einer guten Seite. Das Homeoffice wird zum unerwarteten Trumpf für leidgeprüfte Unternehmen in den Regionen, um gute Leute zu rekrutieren, wird zur strategischen Waffe im Kampf um Talente. Zumindest für jene Betriebe ohne Produktion, die Präsenz vor Ort erzwingt. Bei Wissens- und Kreativarbeitern wird Flexibilität zum entscheidenden Einstellungskriterium – und je offener sich Arbeitgeber zeigen, desto eher ziehen sie Top-Leute an.
Der Druck auf Unternehmen sei "gerade gewaltig, gute Leute zu locken oder zu halten", sagt Andreas Knodel von der Personalberatung Kienbaum. Die Anspruchshaltung der Fach- und Führungskräfte habe sich "fulminant verändert". Flexibilität im Hinblick auf Arbeitszeit und Arbeitsort sei "vielen Mitarbeitenden inzwischen wichtiger als ein paar Prozent mehr Gehalt oder Bonus". Firmen, die sich "dem Thema Homeoffice verschließen, haben es schwerer, gute Leute zu finden".
"Keine Vorschriften"
Unternehmer Gläß zählt inzwischen mehr als 50 Nationen in seiner 1400-köpfigen Belegschaft. GK Software stellt Vertriebssysteme für Lebensmittelketten wie Lidl, Edeka und Aldi her und konkurriert mit großen IT-Konzernen. Gläß hat daher frühzeitig darauf hingewirkt, dass er die besten Programmierer bekommt. Im sächsischen Schöneck ließ er seine Zentrale zu einem Campus ausbauen – mit Cafeteria und Sportmöglichkeiten für regelmäßige Teamsitzungen. In den Metropolen wie Berlin und Hamburg hat er kleinere Büros angemietet. An dem Konzept will er festhalten. Er hält ein bis zwei Präsenztage im Office "für angemessen", werde den Mitarbeitern aber "keine Vorschriften machen".
Matthias Brucke hat einen radikaleren Weg eingeschlagen. Er ist Gesellschafter der Innovationsberatung für meist mittelständische Betriebe Embeteco – mit Sitz in Oldenburg. Aber der Standort spielt für seine 16 Mitarbeiter keine Rolle mehr. Brucke hat sämtliche Büros abgeschafft, unterhält in Oldenburg nur noch Besprechungs- und Co-Working-Räume. "Wir setzen voll und ganz auf mobiles Arbeiten und Homeoffice", sagt er. "Wir sparen dadurch 50 000 Euro pro Jahr an Kosten – keine kleine Summe für eine Firma unserer Größe."
50 Nationen arbeiten bei GK Software im sächsischen Schöneck. Firmenchef Gläß hat den Suchradius für Top-Leute inzwischen ausgeweitet.
Auch Embeteco rekrutiere nun "bundesweit", sagt Brucke. Der Unternehmer hat während der Coronakrise vier Leute eingestellt – ganz ohne sie jemals physisch getroffen zu haben. Der erweiterte Suchradius sei "ein großer Gewinn". Davor hatte er oft vergeblich versucht, Bewerber in die Region zu locken. "So schön der Nordwesten ist, er ist ein wenig dezentral." Nun habe sich gezeigt, dass er über soziale Netzwerke wie LinkedIn mögliche Kandidaten gezielt ansprechen und überzeugen könne, für eine Firma in Oldenburg zu arbeiten.
"Zu wenig Unternehmen nutzen die Chance"
Erstaunlich ist aber, dass nur wenige Unternehmen so offensiv mit flexiblen Arbeitszeitlösungen werben. Zwar gaben in einer Umfrage der Jobbörse Stepstone 83 Prozent der Firmen an, Homeoffice auch nach der Pandemie anbieten zu wollen. In Stellenanzeigen spreche davon aber nur knapp jedes zehnte Unternehmen. Stepstone-Experte Tobias Zimmermann: "Zu wenige Unternehmen nutzen die Chance, das Thema Homeoffice für die Mitarbeitergewinnung einzusetzen."
Auch Kienbaum sieht Nachholbedarf. Für Bewerber sei das Thema Homeoffice inzwischen so wichtig wie die Gehaltsfrage. "Plakativ könnte man sagen: Homeoffice ist der neue Dienstwagen", sagt Berater Knodel.
Einige Großunternehmen wie TUI, SAP oder Vodafone gehen daher einen progressiven Weg und stellen es Mitarbeitern frei, von wo aus sie arbeiten. Die Mehrheit der Firmen dürfte sich wohl an einem Mittelweg orientieren – wie Google. Der IT-Konzern setzt auf rund 40 Prozent Homeoffice. Dienstreisen werden als Präsenztage gewertet, das heißt: Wer drei Tage bei Kunden ist, muss gar nicht ins Büro. "Um diese Lösung wurde hart gerungen", heißt es aus dem Unternehmen.
Wir verzichten vormittags auf Meetings, um produktiver zu arbeiten.
Embeteco-Chef Brucke hält wenig von hybriden Modellen. „Es ist nicht hilfreich, wenn bei einem Meeting einige Leute in einem Raum zusammensitzen und andere Menschen vom Rechner aus 'zuschauen', da so keine echte Interaktion stattfinden kann." Stattdessen setze er auf volldigital, Apps und Videokonferenztools. Für die konsequente Onlineausrichtung seiner Beratung hat er auch Regeln definiert. Das Team verzichte "vormittags weitestgehend auf interne Meetings", sagt Brucke.
Er sei überzeugt von den Forschungsergebnissen der Chronobiologie: Menschen seien morgens produktiver, könnten kognitiv besser arbeiten. Nachmittags sei Kommunikation "viel besser". Brucke empfiehlt das auch seinen Kunden – "um innovativer zu werden".
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