Toxische Beziehung: Mache ich Fehler, oder verdreht er alles?

Autor*innen
Katrin Hummel
Ein Mann und eine Frau stehen nebeneinander. Ihre Köpfe sind durch gekritzelte Kreise ersetzt, wobei die des Mannes ordentlicher wirken als die der Frau.

Sie zermürben und machen krank: In toxischen Beziehungen mischen sich Liebe und Verzweiflung. Wie kann man erkennen, dass man in einer lebt – und sich befreien?

e‑fellows.net präsentiert: Das Beste aus der F.A.Z.

Lies bei uns ausgewählte Artikel aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung und von FAZ.NET.

Der Mann, den Martina Welsch an der Uni kennengelernt hatte, war eloquent, charmant, witzig und intelligent. "Ein Künstlertyp, unkonventionell, in sich ruhend, als brauchte er niemanden", beschreibt sie ihn heute, fast zwanzig Jahre später. Die Frauen rannten ihm hinterher. Und das Beste: Nachdem sie ihn lange aus der Ferne angehimmelt hatte, ging sie eines Tages auf ihn zu, und er ließ es geschehen. Hörte ihr zu. Ging auf sie ein. Hatte Interesse an ihr. Das war neu für sie.

Sie hatte vorher viele Männer gekannt, die ihr nicht zugehört hatten. Sie und er, das erschien ihr damals wie Schicksal: "Er war toll und ich ihm zu Diensten."

Sie wurde schwanger, zog mit ihm zusammen, doch nach der Geburt ihres Sohnes begann er, sie zu maßregeln und zu bevormunden. "Er warf mir vor, die Spülmaschine nicht richtig eingeräumt zu haben, die Schere an den falschen Ort gelegt zu haben oder zu wenig Geld verdient zu haben", zählt die heute 45-Jährige auf. Wenn sie telefonierte, selbst mit ihrer Mutter, sei er stets nach spätestens 90 Sekunden ins Zimmer gekommen und habe gesagt: "Das passt jetzt grad nicht. Es stört die familiären Abläufe." Weil das Wohnzimmer gesaugt werden müsse oder Ähnliches. Wollte sie alte Studienfreundinnen treffen, habe er gesagt: "Das ist doch nicht wichtig für uns als Familie, warum willst du das?"

Toxische Beziehungen haben immer das gleiche Muster

Als eine Freundin von ihr einen runden Geburtstag feierte, forderte er von ihr, spätestens um 22 Uhr nach Hause zu kommen und auf das Kind aufzupassen, damit er noch ins Kino gehen könne. Als sie sich nicht daran hielt, machte er eine Riesenszene. "Irgendwann ging ich kaum noch aus dem Haus ohne Kind, weil er es nicht wollte. Ich war zunehmend isoliert", erinnert sie sich. Er hingegen ging weiterhin aus, und oft wusste sie gar nicht, wann er wieder nach Hause kommen würde.

Nach Aussage von Turid Müller, Psychologin und Autorin des Buches "Verdeckter Narzissmus in Beziehungen: Die subtile Form toxischen Verhaltens erkennen und sich von emotionalem Missbrauch befreien", kann man so gut wie immer, wenn der Partner einen gezielt und bewusst isoliert, davon ausgehen, dass man in einer toxischen Beziehung lebt. Müller zufolge funktionieren solche Beziehungen nämlich immer nach dem gleichen Muster: Eine verletzliche Person auswählen, die sich so was gefallen lässt, herausfinden, wie man ihr Vertrauen gewinnen kann, das ausnutzen, um sich ihre Liebe zu erschleichen, sie dann isolieren - was funktioniert, weil sie einen liebt. Und sie dann benutzen, um das eigene Selbstbild zu polieren.

Im Fall von Martina Welsch, die wie alle Opfer von emotionalem Missbrauch in diesem Text eigentlich anders heißt, begann ihr Ex-Partner als Nächstes damit, sie hinsichtlich ihrer Arbeit einzuschränken. "Ich sollte unbemerkt arbeiten, das durfte nicht auf Kosten der Zeit mit der Familie gehen." Aber da ihr Partner ihr vorschrieb, wann sie ihren Sohn aus der Krabbelstube abholen sollte, hatte sie so gut wie keine Zeit mehr zum Arbeiten. Denn wenn sie nicht tat, was er von ihr verlangte, eskalierte die Lage zusehends: Schubsereien, einmal auch ein Schlag, der sie verletzte. So passte sie sich an und wehrte sich nicht. Sie verlor einen wichtigen Kunden und damit ihre Existenzgrundlage. In einer Beratung, zu der sie sich entschloss, lernte sie, dass ihr Partner ein Narzisst sei und sie eine Ko-Narzisstin.

Man hat nur eine Chance, wenn man sich trennt

Zwar muss laut Turid Müller nicht jede toxische Beziehung narzisstische Züge aufweisen, denn eine toxische Beziehung ist schlicht eine schädliche oder missbräuchliche Beziehung, die uns emotionalen oder körperlichen Schaden zufügt. "Sie kann giftig, zermürbend oder krankmachend sein", sagt Müller. Die Phasen, an denen man eine narzisstisch geprägte toxische Beziehung erkennen könne, seien indes immer die gleichen: Zuerst das sogenannte Lovebombing - die Partnerin oder der Partner wird auf Händen tragen. Dann die Isolation, die Erniedrigung und nach einer Trennung oft auch das wieder Anbandeln, damit das Ganze von Neuem beginnen kann. "Meist werden die Grenzen des Akzeptablen schleichend verschoben, was schwer nachweisbar ist und von Freunden und Familie nicht erkannt wird", weiß Müller. Als Opfer habe man nur eine Chance, wenn man toxische Muster wie Manipulation erkenne und sich trenne.

Woran aber kann man erkennen, ob die eigene Beziehung toxisch ist? Müller hat eine Checkliste erstellt, darauf steht ganz oben: "Mischen sich bei dir Liebe und Verzweiflung? Tut Liebe weh?" Und weiter fragt sie: "Nimmt dir die Beziehung unterm Strich mehr Kraft, als sie dir gibt? Sieht die Person an deiner Seite die Schwächen nur bei dir? Kann sie sich nicht entschuldigen?" Oft hätten die Opfer einer solchen Beziehung auch körperliche Symptome: Abgeschlagenheit, Stress, häufige Infekte oder seelische Probleme.

So war es auch bei Stefanie Strauss. Sie war schlapp und oft krank. Ihren Job als Produktmanagerin vernachlässigte sie. "Mir war klar, dass meine Beziehung toxisch war", sagt die 36-Jährige heute, ein Jahr später, "aber ich kam nicht davon weg. Ich hatte das Gefühl, zu gehen würde mich umbringen." Der Mann, mit dem sie seit drei Jahren zusammen war, hatte sich ihr zunächst total geöffnet, war präsent und interessiert an ihr und ihren Zukunftsplänen gewesen. "Ich war hin und weg", erinnert sie sich. Tatsächlich haben nach Angaben von Turid Müller Menschen, die andere in eine toxische Beziehung hineinziehen, eine hohe kognitive Empathie – "aber nur, wenn sie ihnen was nützt. Um das Opfer abzutasten: Wo sind die Löcher, die ich stopfen kann, damit die Frau denkt, ich bin ihr ähnlich? In Wirklichkeit ist in solchen Menschen aber vor allem eine große Leere, die Kälte und Dunkelheit ausstrahlt."

So ist es auch beim Exfreund von Stefanie Strauss. Sobald er sich ihrer sicher war, änderte er sein Verhalten ihr gegenüber. Ihre Bedürfnisse waren ihm zunehmend egal. Er warf ihr vor, Fehler zu machen, und sie wusste nicht: "Waren es wirklich Fehler, oder verdreht er es?" Sie hatte das Gefühl, irgendwas stimme nicht. Aber die Schuld suchte sie bei sich. Denn wenn sie ansprach, dass sie was störte, sagte er stets: "Erzähl doch." Hörte zu. Und drehte schlussendlich alles so hin, als sei es ihre Schuld. "Ich wurde dadurch zunehmend verwirrt und konnte gar nicht mehr richtig greifen, was die Wahrheit ist. Irgendwann habe ich mich ernsthaft gefragt: Bin ich diejenige, die eine Macke hat, oder er?", erzählt sie.

Die Opfer verkennen die Wirklichkeit

Psychologen haben für dieses Gefühl sogar einen Fachbegriff: kognitive Dissonanz. "Das bedeutet, dass wir die Wirklichkeit verkennen. Wir unterschätzen, was uns angetan wird", sagt Turid Müller. Sie empfiehlt, eine Liste anzufertigen, in die man die schlimmsten Dinge schreibt, die uns der andere angetan hat. "Wenn wir alles schwarz auf weiß sehen, wird deutlich: Keine Rechtfertigung der Welt kann das jemals wieder geradebiegen", so Müller. Wenn man sich nämlich jemals aus einer toxischen Beziehung wieder befreien wolle, brauche man viel Kraft und Klarheit. Und so eine Liste könne dazu beitragen, dass man beides erlange.

Auf der imaginären Liste von Martina Welsch steht zum Beispiel dieser Vorfall: Als ihr an seinem Geburtstag ein Glas zerbrach, schrie ihr heutiger Ex sie vor allen Gästen an: "Das kann doch wohl nicht wahr sein!" Das für sie Schlimmste daran: "Als ich am nächsten Tag gesagt habe: Bitte mach so was nicht mehr, da sagte er: 'Wieso, da war doch gar nichts.'" Gaslighting nennen Fachleute so ein Verhalten: Eine Form von psychischer Gewalt, bei dem die Opfer so stark durch Lügen, Leugnen und Einschüchterungstaktiken manipuliert werden, dass sie anfangen, an ihrem eigenen Verstand zu zweifeln.

Bei Martina Welsch führte diese Verunsicherung dazu, dass sie sich zunehmend wertlos fühlte. "Ich muss besser werden, richtiger werden", habe sie die ganze Zeit gedacht. Bis sie nur noch ein Schatten ihrer selbst war. Wenn sie doch mal die Kraft aufbrachte, ihm zu sagen, dass sie sich trennen wolle, erwiderte er: "Das schaffst du nicht, du hast ein Kind." Sie sagt: "Manchmal wollte ich nicht mehr leben."

Wie es so weit kommen konnte, dass sie sich dermaßen tief in eine toxische Beziehung hineinziehen ließ, darüber kann sie nur mutmaßen: Als Kind durfte sie keine Probleme machen. Ihre Mutter war depressiv und hatte eine Angststörung, ihr Vater hatte als Kind mit Mutter und Geschwistern vor dem Krieg fliehen müssen und war vermutlich traumatisiert. "Die beiden waren emotional nicht für mich da. Ich habe immer gedacht, ich muss alles richtig machen, dann gibt es keinen Ärger", sagt sie. Generell seien die Opfer von emotionalem Missbrauch meist eher empathische Menschen, die die Schuld meistens bei sich suchen würden, sagt Turid Müller. "Und wenn jemand mal nicht so nett reagiert, verstehen sie das erst mal und lassen zu, dass ihre Grenzen überschritten werden. Weil sie so gut nachempfinden können, was beim anderen dazu führen konnte."

Grenzen werden überschritten

Wenn man testen wolle, ob man Gefahr laufe, in eine toxische Beziehung zu investieren, könne man den Partner vorsichtig Schwäche und gucken, ob er das dulde, schlägt Müller vor. Man könne auch von eigenen Erfolgen berichten und gucken, ob der andere sich für einen freut. Denn ein Merkmal von toxischen Beziehungen sei es, dass beides beim anderen nicht gut ankomme. Gesunde Beziehungen hingegen seien gekennzeichnet von Vertrauen. Der Partner akzeptiert die Grenzen, die man setzt, hält seine Versprechen, gesteht Fehler ein, entschuldigt sich dafür und macht sie wieder gut. Er behält Intimes, das man mit ihm teilt, für sich und lebt die Werte, die ihm wichtig sind. Er oder sie kann Bedürfnisse mitteilen, Bitten äußern und Schwäche zeigen. Und schließlich interpretiert er unsere Worte und Taten wohlwollend.

Aber meist ist es nicht das theoretische Wissen, sondern es sind ganz praktische Erwägungen, die dann dazu führen, dass Menschen sich aus toxischen Beziehungen befreien. Bei Stefanie Strauss war ihr Pferd ausschlaggebend für die Trennung - ein Haflinger, mit dem sie regelmäßig Lehrgänge machen wollte. Sie hatte das Gefühl, das nicht zu schaffen, weil ihre Beziehung sie so viel mentale Kraft kostete. Zu erkennen, dass sie in einer toxischen Beziehung lebte, half allerdings bei der Entscheidung. Mittlerweile hat sie keine schönen Erinnerungen mehr, die Phase mit ihrem Ex kommt ihr vor wie verlorene Zeit. Trotzdem denkt sie noch sehr viel an ihn, und sie träumt von ihm. "Wenn er mir einen Antrag machen würde, wüsste ich nicht, ob ich Nein sagen könnte", gesteht sie. Und fügt hinzu: "Ich weiß, das ist irre, absurd, erschreckend. Aber er ist immer noch mein Traummann, obwohl ich es durchschaut habe und es gar nicht wirklich so schön mit ihm war."

Laut Psychologin Turid Müller kann man sich ein solches Wunschdenken so erklären, dass Menschen, die in einer toxischen Beziehung gelebt haben, immer noch das Ideal aus der Anfangszeit ihrer Beziehung im Kopf haben: Die Zuwendung und bedingungslose Hingabe ihres Partners. "Das wirkt wie eine Wurst, der ein Hund die ganze Zeit hinterherläuft", erklärt sie. Und es funktioniere zum Teil auch dann noch, wenn unsere Vernunft längst gesiegt habe und wir uns aus der ungesunden Bindung gelöst hätten.

Auch Martina Welsch ist vor dieser Art zu denken nicht gefeit. Sie hat sich vor zwei Jahren getrennt und lebt nun allein. Ihre Beziehung, das ist ihr mittlerweile klar, hat nur so lange funktioniert, wie sie bereit war, sich ihrem Partner unterzuordnen. So lange, wie sie dachte: Er ist da oben im Himmel, und ich bin hier unten und dankbar, dass ich seine Luft atmen kann. "Als ich ihn vom Sockel stieß, war es aus." Es geht ihr viel besser ohne ihn, aber sie sagt auch: "Ich will ihn trotzdem auch jetzt noch verteidigen. Und er tut mir manchmal fast leid, zum Beispiel, wenn er was nicht kann."

Ihr Ex macht ihr aber weiterhin das Leben schwer, auch aus der Ferne. Ihr gemeinsamer Sohn lebt bei ihm. Beim Auszug wollte Welsch ihn nicht aus seinem gewohnten Umfeld rausreißen, zudem hatten die Eltern vereinbart, dass das Kind gleich viel Zeit mit beiden verbringen würde. Aber nun hält der Vater sich nicht daran. Welsch wirft ihm vor, dass er ihr das Kind entfremdet. Sie geht jetzt zur Rechtsberatung, obwohl sie Angst davor hat, weil sie tief in sich drin immer noch denkt, sie müsse es ihrem Ex "recht machen oder ihm entgegenkommen, damit er mich nicht anschreit oder Schlimmeres". Aber neulich hat ihr Sohn am Telefon zu ihr gesagt: "Jetzt kritisiert er mich statt dich." Und das hat ihr das Herz zerrissen.

Alle Rechte vorbehalten. Copyright Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv.

Bewertung: 5/5 (1 Stimme)

Weitere Artikel zum Thema Freundschaft und Liebe