Schülerstipendien: Arbeiterkind – und trotzdem hoch hinaus

Autor*innen
Caroline Becker
Aus einer Lupe ragt ein Pfeil, auf dem eine Frau sitz, die nachdenkt

Jugendliche aus prekären oder bildungsfernen Verhältnissen können schon als Schüler Stipendien erhalten. Denn schon da stellen sich Weichen.

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Als ihre Schulsozialarbeiterin Pisana Badawi dazu ermutigte, sich für ein Stipendium zu bewerben, war Badawi zuerst überrascht. Stipendien kannte sie nur aus amerikanischen Filmen. "Wieso sollte ich ein Stipendium bekommen? Das ist nur für superschlaue Streber", habe sie gedacht. Dabei erfüllte die Siebzehnjährige aus Leipzig eigentlich alle Voraussetzungen. Badawi war Stadtpfadfinderin, Schülersprecherin und half vor Unterrichtsbeginn in ihrer Schule dabei, Kindern, die zu Hause keine Möglichkeit dazu haben, ein Frühstück zu machen.

Und genau das zählt beim START-Stipendium: Persönlichkeit und Veränderungswillen vor schulischen Leistungen oder besuchter Schulform. Zudem richtet sich das Stipendium konkret an nach Deutschland zugewanderte Jugendliche oder Kinder von Zugewanderten ab der neunten Klasse. Aktuell befinden sich 545 Jugendliche in der Förderung. Dank ihrer Schulsozialarbeiterin bewarb sich Badawi für das Stipendium.

2021 wurde sie aufgenommen. "Dadurch hat sich mein Leben komplett verändert", sagt sie. Früher sei sie in der Schule wegen ihres Kopftuchs ausgegrenzt worden, war verunsichert und eher still. Bei START habe sie gelernt, selbstbewusst aufzutreten und neue Dinge auszuprobieren. Beispielsweise nahm sie an einem Poetry-Slam-Workshop teil, wo sie am Ende ihr eigenes Gedicht auf der Bühne präsentieren durfte. "Für Menschen mit Migrationshintergrund ist es in Deutschland einfach schwerer, deshalb ist es wichtig, dass es Stiftungen gibt, die konkret Jugendliche mit Migrationshintergrund fördern und empowern", sagt sie.

Ihr habe die Stiftung und der Rückhalt ihrer Mitstipendiaten Kraft gegeben, auf Social Media aktiv zu werden. Auf Tiktok postet sie Kopftuch-Tutorials, äußert sich zu feministischen Themen und versucht insbesondere, andere junge Muslima zu empowern. Mehr als 170.000 Follower hat sie dort inzwischen. Wie alle anderen START-Stipendiaten wird Badawi drei Jahre lang mit jährlich 1000 Euro finanziell und über das kostenlose Seminarprogramm ideell gefördert. Nach dem Abitur möchte sie vielleicht Architektur studieren – eventuell auch im Ausland. Ein ehemaliger Stipendiat studiere in Harvard. Mit dem wolle sie mal in Kontakt treten.

"Viele junge Leute wissen nichts von den Stipendien"

Neben dem START-Stipendium gibt es noch um die 60 weitere für Schüler relevante Stipendienprogramme, schätzt Nicole Heßberg. Sie arbeitet bei der Organisation Applic Aid als Stipendienberaterin. "Viele junge Leute wissen nichts von den Stipendien und selbst wenn, insbesondere Arbeiterkinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund trauen sich oft gar nicht, sich zu bewerben", sagt Heßberg. Die inzwischen 25-Jährige war von 2010 bis 2016 Stipendiatin des Deutschen Schülerstipendiums der Roland Berger Stiftung – auch nur deshalb, weil ihre Klassenlehrerin sie vorgeschlagen hatte.

Als siebtes Kind einer alleinerziehenden Mutter wuchs sie in prekären Verhältnissen auf. Ohne das Stipendium hätte sie vermutlich nicht als Erste in der Familie das Abitur gemacht. "Die Stiftung konnte viel kompensieren, was meine Mutter einfach nicht leisten konnte", sagt sie heute. Die Roland Berger Stiftung fördert an ihren Partnerschulen begabte Schüler und Schülerinnen mit schwierigen Startbedingungen, beispielsweise aus einkommensschwachen Familien. Besonders ist, dass die Kinder schon ab der Grundschule gefördert werden können. Stipendiaten erhalten einen individuellen Förderplan, der sie unter anderem bei der Persönlichkeitsentwicklung und beim Erwerb digitaler Kompetenzen unterstützen soll. Nach Möglichkeit wird ihnen ein Mentor zugeteilt.

Neben dem Deutschen Schülerstipendium und dem START-Stipendium seien "Grips Gewinnt" und der "Studienkompass" die wichtigsten deutschen Schülerstipendien, schätzt Heßberg. Bei "Grips Gewinnt" können sich allerdings nur Schüler aus Sachsen-Anhalt, Brandenburg, Bremen, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein bewerben. Aktuell fördert "Grips Gewinnt" rund 280 Jugendliche, die finanzielle oder soziale Hürden überwinden mussten. "Wir fördern Jugendliche, die wegen ihrer Lebensumstände einen erschwerten Zugang zu Bildungsthemen haben, weil sie zum Beispiel in einer Wohngruppe leben, ihre Eltern wenig über das Bildungssystem wissen oder sie Sprachbarrieren haben," sagt Andrea Dutzek, Projektleiterin des Stipendiums von der Joachim Herz Stiftung.

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Förderung für Jugendliche aus nichtakademischen Familien

Dass ein Stipendienprogramm nur für Schüler aus bestimmten Bundesländern gedacht ist, ist nicht ungewöhnlich. Die Gustav-Schickedanz-Stiftung fördert beispielsweise schwerpunktmäßig evangelische Schüler und Studenten aus Bayern, "Talent im Land" fördert Schüler aus Baden-Württemberg.

Darüber hinaus gibt es noch Stipendien, wie zum Beispiel das IT-Stipendium von "IT-Talents", die sich an Schüler mit entsprechenden Interessen und Talenten richten, Stipendienprogramme, wie beispielsweise das des Begabtenförderungswerks Reemtsma, die hauptsächlich finanziell unterstützen, und wieder andere, die nur oder auch ideell durch Workshops, Mentoring oder Seminare fördern. Heßberg empfiehlt daher, einfach über Schlagwörter wie "Migrationshintergrund" und "Hamburg" kombiniert mit "Stipendium" online zu suchen, sich auf Seiten wie Mystipendium.de oder beim Bundesverband Deutscher Stiftungen durchzuklicken oder kostenlose Beratungsangebote in Anspruch zu nehmen.

Genau wie Heßberg ist auch der 19 Jahre alte Cedric Sachse nur durch Glück auf ein Schülerstipendium aufmerksam geworden. Eine Lehrerin berichtete seiner Klasse von dem Studienkompass, einem Programm der Stiftung der Deutschen Wirtschaft, das Jugendliche aus nichtakademischen Familien bei der Studien- und Berufsorientierung unterstützt. "Ich war erst mal total überrascht, dass es da draußen jemanden gibt, der einen einfach unterstützt, ohne dass man irgendwas zahlen muss", sagt er. Für die Bewerbung waren seine Noten nicht relevant, sondern eher seine Motivation und Einsatzbereitschaft.

Oft stoßen Jugendlich nur durch Zufall auf Stipendien

Auch zwei Klassenkameraden von Sachse bewarben sich. Alle drei erhielten im Frühjahr 2021 die Zusage und werden nun bis zum Ende des ersten Studien- oder Ausbildungsjahres gefördert. Mentoren, Workshops, Einzelgespräche und Coachings und der Austausch mit anderen Stipendiaten in regionalen Gruppen sollen die Jugendlichen in der Persönlichkeitsentwicklung und in der Selbstreflexion stärken. Darüber hinaus sollen sie durch Workshops Einblicke in neue Bereiche bekommen. Sachse hat am sogenannten Opernkompass teilgenommen.

Ein Wochenende lang haben er und seine Mitstipendiaten in Berlin hinter die Kulissen schauen können und gelernt, welche Berufe es rund um die Oper gibt. "Außerdem haben wir einen Tanz zu der Operette einstudiert, die wir uns später noch angeschaut haben." Wenn seine Abiturprüfungen im Frühjahr vorbei sind, dann will Sachse vielleicht auch in Heilbronn noch mal in die Oper gehen. Nach dem Abitur will er ein Studium im Bereich Umwelt- und Prozessingenieurwesen beginnen. Der Neunzehnjährige findet es gut, dass Arbeiterkinder unterstützt werden. "Meine Eltern haben nicht studiert, und dadurch hatte ich vom Studium und auch vom Abitur nicht wirklich Ahnung." Der Studienkompass habe ihm aufgezeigt, welche Vielfalt an Berufen und Wegen es gibt, er habe gelernt, mit Stress besser umzugehen, und sei selbstbewusster geworden.

Dass so viele Jugendliche oft nur durch Zufall von Stipendien erfahren, findet Heßberg schade. "Ich würde mir wünschen, dass eine stärkere Sensibilisierung von Lehrkräften für das Thema Stipendium stattfindet", sagt sie. Rot-Grün hat in Hamburg einen Antrag gestellt, in dem sie eine bessere Aufklärung über Stipendien an Schulen fordern. Heßberg hofft auf mehr solcher Initiativen seitens der Politik, damit die Stipendien wirklich an die Schüler gehen, die sie brauchen.

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